Efeu - Die Kulturrundschau

Bunte Lichtflecken tanzen auf dem Sand

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18.05.2020. Die SZ feiert den italienischen Designer Enzo Mari, dessen legendäre Möbelserie Autoprogettazione auch als Modell Lampedusa hervorragend funktioniert. Licht, Luft und Sonne sind vielleicht für den Menschen gut sein, meint die Welt, aber nicht für Stadt und Umwelt. Im Standard lernt Alexander Kluge von den Biokosmisten die Wiederbelebung der Toten. In der Berliner Zeitung will Thomas Ostermeier sein Publikum zurück. Und die FAZ schmilzt unter dem Sopran des Venezolaners Samuel Mariño.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2020 finden Sie hier

Design

Enzo Maris Sedia Uno aus der Serie Autoprogettazione. Foto: Refugees Company for Crafts and Design

Wer würde auch einen Artikel über die italienischen Gestalter Enzo Mari auf den Stil-Seiten vermuten? Bereits am Samstag pries Laura Weißmüller den eigensinnigen Kommunisten, der Möbel nicht für die Reichen, sondern für Fabrikarbeiter entwerfen wollte und 1973 die Autoprogettazione erfand: "Die Serie hat längst Kultstatus. In Berlin werden Maris Stühle im Rahmen eines Projekts von jungen Geflüchteten hergestellt, und für die finnische Möbelfirma Artek schuf der Designer eine Neuauflage vor einigen Jahren. Anfang der Siebziger aber war 'Autoprogettazione' ein Affront. Mari wurde als Faschist bezeichnet. Für seine Kollegen war Design schließlich dazu da, den Menschen das Leben leichter zu machen. Mari dagegen ließ sie arbeiten. Und das auch noch umsonst. Wer dem Gestalter das Porto zahlte, bekam die Konstruktionsanleitung kostenlos von ihm zugeschickt. In gewisser Weise die analoge Frühform von Open Source also. Tausende aus der ganzen Welt taten das."

Sabine von Fischer, Daniele Muscionico und Andrea Mittelholzer philosophieren in der NZZ über die Mund-Nase-Maske als Modeaccessoire der Stunde: "Gibt es denn eine geeignetere Körperstelle für wohlgefälligen Schmuck als direkt unter unseren Augen? Die muslimische Kultur hat dies längst entdeckt, doch nun holt der Rest der Welt diesen Vorsprung auf. Stimmt nämlich die Einfassung von Mundschutz und Band ums Ohr, kommt das Spiel der Augen erst richtig zur Geltung."
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Literatur

Wie Alexander Kluge in den Interviews vom Hundertsten zum Tausendsten findet, ist nach wie vor sagenhaft. Im Standard spricht der Autor und Publizist über seinen neuen Roman, "Russland-Kontainer", ein Versuch, Russland in Form eines großen Kaleidoskops zu perspektivieren. Unter anderem kommt er auf die Biokosmisten und die Ursprünge der russischen Raumfahrt zu sprechen. Beides verband sich in dem Projekt, die Toten wieder zum Leben zu erwecken und zwar, "weil der Sozialismus aus Gerechtigkeit auch für die Vorfahren herzustellen war. Und wenn Sibirien all die wiederbelebten Toten nicht mehr aufnehmen kann, muss Raumfahrt betrieben werden. Die Idee, Fabriken zur Wiederbelebung der Toten zu errichten, konnte nicht verwirklicht werden. Mit der Raumstation Mir wurde die zweite Idee jedoch umgesetzt. 'Apokatastasis panton', die Wiedererweckung aller, ist eine uralte theologische Idee. Walter Benjamin und Gershom Scholem haben sich mit dieser antiken und jüdischen Vorstellung der Rettung auseinandergesetzt. Für sie ist es der wichtigste Ansatz der Menschheit, alles, was zu Unrecht in der Vergangenheit begraben liegt, wiederherzustellen.

Weitere Artikel: Julia Encke erzählt in der FAS die Geschichte des dänisch-palästinensischen Dichters Yahya Hassan, der vor wenigen Jahren mit 18 schlagartige Erfolge feiern konnte und jetzt im Alter von 24 Jahren unter noch unklaren Umständen gestorben ist. Die österreichische Literatur gibt sich in diesen Tagen als der intellektuelle Arm des Wutbürgertums zu erkennen, schimpft Ronald Pohl im Standard: "Die geduldige, diskursive Aushandlung gesellschaftlicher Übereinkünfte verfügt in Österreich, wo man reichlich spät zur Demokratie fand, nur über geringes Prestige." Der in Japan lebende, österreichische Schriftsteller Leopold Federmair berichtet im Standard von seinen Erfahrungen, seinen japanischen Schülern per Videoschalte Sprachunterricht zu geben. Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski wirft für die FAZ in Krakau einen Blick aus seinem "Fenster zur Welt".

Besprochen werden unter anderem Christian Y. Schmidts Kinderbuch für Erwachsene "Der kleine Herr Tod" (Freitag), Janna Steenfatts Debütroman "Die Überflüssigkeit der Dinge" (Tagesspiegel), Renate Lachmanns Studie "Literatur und Lager. Zeugnisse des Gulag" (Standard), Xaver Bayers Erzählungenband "Geschichten mit Marianne" (Tagesspiegel), Richard Russos "Jenseits der Erwartungen" (FR), Georges-Arthur Goldschmidts "Vom Nachexil" (Tagesspiegel), Thorsten Nagelschmidts "Arbeit" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Thomas Hürlimanns "Einsiedeln" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nico Bleutge über Martina Hefters "Sie spricht nicht mehr":

"Sie spricht nicht mehr, aber ihr Blick schießt herbei, trete
ich ins Zimmer,
..."
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Architektur

Auch in Corona-Zeiten will Dankwart Guratzsch (Welt) die verdichtete Stadt nicht so schnell aufgeben. Licht, Luft und Sonne seien zwar schön und gut, aber nicht unbedingt ökologisch: "Schon vor vierzig Jahren haben Forscher in Amerika ermittelt: Im Vergleich zu Hongkong, der am höchsten verdichteten Stadt der Welt, ist der Ölverbrauch im lockerer bebauten Berlin dreimal so hoch, in den weiter ausufernden Städten Paris, Hamburg und Zürich sechsmal so hoch, im Siedlungsbrei von Melbourne zwölfmal und im durchgrünten Los Angeles achtzehnmal so hoch wie in der chinesischen Metropole. Als Städtebaumodell ist die selige, die grüne, die aufgelockerte Stadt unbezahlbar - und sie ist, die Banlieues und Trabantenstädte zeigen es, alles andere als sozialverträglich."
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Film

Die SZ-Redakteure haben sich im Kulturbetrieb umgehört, wie dieser mit der momentanen Krise und dem Versuch, den Betrieb wiederaufzunehmen, umgeht. Die Filmproduktion etwa steht vor erheblichen Herausforderungen, erfahren wir von Produzent Uli Aselmann: "Wie soll man eine Liebesszene drehen, wenn die Schauspieler mindestens 1,50 Meter Abstand voneinander halten müssen? Es kursieren schon die irrsten Ideen dafür: 'Dass zum Beispiel die Hauptdarstellerin eine Bettszene mit ihrem echten Lebenspartner dreht und der Kopf des Filmpartners dann nachträglich digital draufmontiert wird. ... Selbst eine einfache Kussszene wäre derzeit eigentlich nicht möglich, und Anfassen geht nur, wenn Sie die Darsteller vorher entsprechend lange in Quarantäne schicken.'"

Philipp Stadelmaier gibt in der SZ eine Zwischenstandmeldung von den Kurzfilmtagen Oberhausen, die in diesem Jahr im Netz stattfinden. Lynne Sachs' Hommage "A Month of Single Frames" an die 2019 verstorbene Experimentalfilmemacherin Barbara Hammer hat ihn besonders beeindruckt: "Die Schönheit der Details ist schwer zu beschreiben: Gras weht unter violettem Himmel im Wind, bunte Lichtflecken tanzen auf dem Sand. Der Film zelebriert die tiefe Verbundenheit zwischen zwei Künstlerinnen, auch über Hammers Ableben hinweg. 'Du bist hier. Ich bin mit dir hier', schreibt Sachs auf das Bild. Aber sie beschränkt sich nicht auf die Zweisamkeit zwischen ihr und Hammer: 'Andere sind hier mit uns. Wir sind alle zusammen.'" Auf der Website der Künstlerin gibt es immerhin einen einminütigen Ausschnitt:



Weitere Artikel: Gerhard Midding erinnert im Freitag an den französischen, nach einem Drehbuch von Henri Clouzot entstandenen Abenteuerfilm "Si tous les gars du monde" von 1957, ein Film über ein Schiff, auf dem eine Krankheit ausbricht, und der im Zuge "beherzt den Eisernen Vorhang zerreißt". In einem online nachgereichten FAZ-Text erinnert sich Verena Lueken wehmütig an die Kunst des Vorspanns.

Besprochen werden Marie Losiers auf Mubi streambares Wrestler-Drama "Cassandro, The Exotico!" (ein Film, der "auch die erwachsenen Körper wieder spielerisch werden lässt", meint Dennis Vetter in der taz) und neue DVDs, darunter Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (SZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Kunst

Kolja Reichert hat sich für die FAS mit der Sammlerin Julia Stoschek unterhalten, die wie Friedrich Christian Flick und Thomas Olbricht Berlin mit ihrer Sammlung verlassen möche. Zu desinteressiert scheint ihr die Stadt zu sein. Das zeigen Reichert auch die Politiker und Museumsleute, mit denen er sich unterhalten hat: "Kein inhaltliches Wort zur Bedeutung der Sammlung Stoschek, nicht von Grütters, nicht von Lederer. Der Kurator der Neuen Nationalgalerie, Joachim Jäger, der gutgelaunt aufzählt, was die staatlichen Museen alles für Sammler unternehmen, Häuser, Forschung, Kataloge, und angeblich schon Angebote anderer hat, für Flick einzuspringen, hat offenbar nie das Gespräch gesucht. Dabei hat Stoschek durchaus Interesse an der Zusammenarbeit mit Museen. 'Aber bei mir meldet sich niemand.' Zuständig für die zeitgenössische Kunst fühlt man sich in Berlin offenbar dann, wenn es ein symbolträchtiges Museum zu bauen oder eine Schenkung von Gerhard Richter zu organisieren gilt."

Ausstellungskataloge sind eine Frage des Stolzes, weiß Michael Glover in Hyperallergic, je größer und bedeutender ein Museum, umso brillanter die Publikation: "Aber wer braucht sie eigentlich?"

Besprochen werden die Pop-Art-Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett (FAZ), Schau "Rot x Stahl" im Ingolstädter Lechner-Museum, die den Bildhauer Alf Lechner mit dem Maler Rupprecht Geiger paart (Tsp), die Ausstellung "Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze" zum 150. Geburtstag des Berliner Malers Hans Baluschek im Bröhan-Museum (taz) und die Christo-Schau im Berliner Palais Populaire (FR).
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Bühne

"Wir wollen unser Publikum zurück", ruft Regisseur und Intendant Thomas Ostermeier im Interview mit der Berliner Zeitung. Heute nimmt die Schaubühne ihren Probebetrieb wieder auf: "Wir wollen den direkten und unmittelbaren Kontakt mit dem Zuschauerraum. Das Spiel wird durch die Reaktion des Publikums getragen. Im besten Fall gibt es einen gemeinsamen Atem. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Kino und Theater. Unsere Schauspielerinnen und Schauspieler scharren mit den Hufen. Sie wollen wieder spielen."

Florian Amort porträtiert die venezolanischen Sänger Samuel Mariño, der echte Sopranpartien singt: "Dank seiner lupenreinen hohen Sopranstimme kann Mariño in Arien brillieren, die 250 Jahre lang kein Mann mehr singen konnte. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Countertenor-Kollegen ist er kein Falsettist. Seine tessitura ist mit seiner Sprechstimme quasi identisch." Hier singt er Händels "Julius Caesar in Ägypten":



In der Nacht zu Sonntag wurde das Nationaltheater in Tirana abgerissen, das fast ein Jahr lang von einer Initiative um die Autorin Linda Komani besetzt gehalten wurde, berichtet Tom Mustroph in der taz. An seiner Stelle soll eine Shopping Mall entstehen: "'Während der Pandemie haben wir die Besetzung im Schichtbetrieb mit jeweils zwei Leuten aufrechterhalten', berichtete Komani. Der handstreichartige Abriss überraschte aber auch sie. 'Wir hatten zuvor zwar von einem bevorstehenden Einsatz erfahren. Deshalb versammelten sich mit uns gegen 2 Uhr morgens auch Oppositionspolitiker auf dem Platz vor dem Theater. Als aber nichts geschah, verließen die Politiker gegen 4 Uhr den Platz. Um 4.30 Uhr kamen dann Polizei und Bagger', schilderte Komani die Dynamik."

Weiteres: In ihrem Theaterstream zeigt die Nachtkritik heute Antú Romero Nunes' Inszenierung von "La flauta mágica/Die Zauberflöte" und Volker Ludwigs Berlin-Musical "Linie 1" vom Grips Theater.
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Musik

Den Samstagabend verbrachte Jens Balzer von ZeitOnline mit dem Zappen zwischen den zwei Ersatzveranstaltungen für den European Song Contest: Das Erste und Pro7 buhlten um die Aufmerksamkeit. Vor allem der Überraschungsgast auf Pro7 überwältigte ihn, denn mit einem Mal stand da Helge Schneider samt Orchester mit ganz großer Geste auf der Bühne und gab "Forever at Home": "Dieser Moment war so groß, weil er am Ende des musikalisch sonst läppischen Reigens so unerwartet ernst und wahrhaftig erschien. Und weil man sich als Zuschauer so plötzlich in der Figur des verschmitzten, genialen, verspielten, aber eben auch so einsamen und verletzlichen Sonderlings Schneider wiederzuerkennen meinte. In dem schrulligen Witz, mit dem er seine Isolation von der restlichen Welt ebenso zu überspielen versuchte wie am Schluss mit der großen Geste des romantischen Crooners, brachte er den ganzen Widerstreit der Gefühle zur Erscheinung, die uns in dieser Krise ergriffen haben."



Die Gutscheinregelung, die es Konzertveranstaltern erlauben soll, bereits bezahlte Karten abgesagter Konzerte in Form von Gutscheinen zu kompensieren, "ist vor allem ungerecht, unsozial und unfair", schreibt Berthold Seliger im Neuen Deutschland. Zum einen für die Fans, die "verpflichtet werden, den Konzertveranstaltern einen zinslosen Zwangskredit zu geben", vor allem aber auch für die Musiker, für deren Musik Tickets gelöst wurden und die unter dieser Regelung "keinen Cent erhalten".

Weitere Artikel: Gestreamte Konzerte mögen den Alltag in den letzten Wochen bereichert haben, meint Michael Stallknecht in der NZZ - aber als Ersatz für das Konzert vor Ort taugen sie nicht (man kann nur immer wieder ritualmäßig wiederholen: das hat auch nie jemand behauptet!). Für den Freitag hat sich Julia Friese umgesehen, wie die Popmusik auf die Coronakrise reagiert, und ist dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass Musik, die Mut machen will, "meistens die schlechteste ist." Daniel Schieferdecker hat sich für die Berliner Zeitung zum großen Gespräch mit Blixa Bargeld getroffen. Für die taz plaudert Petra Schellen mit dem Pianisten Florian Heinisch. Alexander Grau (NZZ) und Benjamin Moldenhauer (Neues Deutschland) erinnern an Ian Curtis, den Sänger von Joy Division, der sich heute vor 40 Jahren das Leben nahm.

Besprochen werden Jon Savages Buch "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere" über die Geschichte von Joy Division (Berliner Zeitung), Glenn Danzigs neues Album mit Elvis-Coverversionen (taz) und das neue Album der Sparks (Standard).
Archiv: Musik