Im Kino

Dämmerzustand des Teenager-Daseins

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
30.11.2022. Hijab oder nicht Hijab? Das ist hier die Frage, und dann auch wieder nicht. Denn egal, wie sich Yesmin entscheidet, sofort steht der nächste verdammte Selbstfindungsprozess an. Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt davon in "Sonne" nicht als Sozialdrama, sondern als Komödie.


Drei Freundinnen singen "Losing my Religion" - im Hijab und mit schweren Intonationsproblemen. Das mit dem Smartphone gedrehte und exzessiv mit Filter-Apps zugeklatschte Musikvideo, das aus der gemeinsamen Nachmittagsspielerei entsteht, wird ein kleiner Hit. Dass nur eines der drei Mädels, die im Irak geborene Kurdin Yesmin (Melina Benli), auch im Alltag ein Kopftuch trägt, während die "Ösi"- und "Jugo"-Freundinnen Bella (Law Wallner) und Natti (Maya Wopienka) es nach dem Dreh wieder ablegen, spielt keine Rolle. Bis es eben doch eine Rolle spielt. Der Bruder petzt die Zweckentfremdung des Hijabs der Mutter. Die ist zunächst gekränkt, lässt sich aber vom Vater überreden, die Sache nicht so eng zu sehen. Zum Eklat oder gar zur großmedialen Kontroverse taugt das Video also erstmal nicht. "Sonne" erkundet die Dynamik, die sich in und um Yesmin herum durch den Erfolg des Videos entfaltet, nicht im Großen, sondern innerhalb der sozialen Zirkel, die Yesmins Leben bestimmen: Familie und Freundeskreis. Papa ist der erste große Fan des Achtklässlerinnen-Trios. Die Höchststrafe für Yesmin, die halbherzig und vergebens versucht, ihn davon abzuhalten, einen peinliche Kommentar unter dem YouTube-Video zu posten. Von Papa kutschiert tritt das Trio bald auf kurdischen Hochzeiten und bei muslimischen Community-Treffen auf. Die frohe Botschaft, dass auch Mädchen im Hijab frei tanzen und singen können, kommt naturgemäß nicht überall gut an. Während die Freundinnen mit dem Pseudo-Popstar-Dasein und vor allem mit geborgten kurdischen Identität dick auftragen, den Hijab aber in den entscheidenden Moment eben nicht mehr tragen, bekommt Yesmin die Breitseite dafür, dass sie sich über ihre Kultur lustig mache oder sich als Muslima ungebührlich verhalte.



Auf das klassische Sozialdrama, das hinter der Prämisse schlummert, lässt sich Regisseurin Kurdwin Ayub, die als Kurdin im Irak geboren wurde und in Österreich aufwuchs (ihre Eltern spielen Yesmins Filmeltern), nie wirklich ein. Die klaren Demarkationslinien, an denen sich deutschsprachige (post)migrantische Filmerzählungen gerne ins Dramatische hangeln, werden gleich zu Beginn verwischt. Im Fall des Familienpatriarchen buchstäblich, wenn er sich den Mascara der Tochter leiht, um Bart und Brauen aufzuhübschen. Die Momentaufnahmen des Familienlebens fühlen sich nie wie Cliffnotes eines Integrationsdiskurses an, sondern lassen sich auf die bizarre Komik des täglichen Zusammenlebens ein. "Sonne" ist sichtbar um die Momente gestaltet, in denen der Reibung zwischen Eltern, Geschwistern und Freundinnen die Bühne gehört, wo liebevolle und bösartige, immer aber hemmungslose Beleidigungen ausgetauscht werden, wo Alkohol fließt, wo man wieder und wieder in das Geschwisterzimmer stapft, um auf einander einzuprügeln und wo der Bruder kleinlaut nach Hilfe bei den Hausaufgaben fragt und im beschwichtigenden Tonfall gleich eine Entschuldigung mitschickt, die er unmöglich laut aussprechen kann.

Die Mikro-Kontroversen, die das REM-Covervideo auslöst, sind also nur eine weitere Speiche im Rad des Teenager-Daseins, das Yesmin schlagen muss. Oder eben nicht. Denn tatsächlich ist das Hauptproblem, das der Hijab Yesmin als Teil ihrer Identität aufbürdet, nicht ein ihm anhängender brutaler Konflikt, sondern der permanente Druck, sich in alle Richtungen rechtfertigen zu müssen. Sogar die Freundinnen fühlen sich bald, motiviert von ihren kurdischen Boyfriends, berufen, Yesmin als Kopftuch tragende Muslima in Respekts- und Verhaltensfragen zu belehren. Ihre Reaktion, das Kopftuch kurzerhand abzunehmen, führt nicht zum kathartischen Selbstfindungsmoment, sondern nur wieder zu neuen Fragen.

"Sonne" zerfasert die Adoleszenz in eine Erfahrung des permanenten Inputs. Der konstruktive Dämmerzustand des Teenager-Daseins wird, auch ohne konservatives Elternhaus, von ständig im On- und Offline-Leben hereinprasselnden Meinungen, Erwartungen, Belehrungen gestört. Wenn doch einmal Ruhe herrscht, wird sie vom Schweigen der Freundinnen, das durch die gemeinsamen Chats hallt, übertönt oder einfach dadurch gestört, dass Yesmin ihr Smartphone und damit auch den eigenen Quatsch immer in Reichweite hat. Im ständigen Selbst- und Gesellschaftsabgleich kommt der Aufbruch, den man hinter den scheinbar großen Gesten, die der Film angenehm klein hält, nie zustande. Als Yesmin ihr Kopftuch auch für den folgenden Schultag absetzt, fährt die Sitznachbarin zwar bewundernd mit der Hand durch ihre langen schwarzen Strähnen, aber die Typen aus der ersten Reihe deuten mit ihren Blicken schon an, was bevorsteht: der nächste verdammte Selbstfindungsprozess.

Karsten Munt

Sonne - Österreich 2022 - Regie: Kurdwin Ayub - Darsteller: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka, Kerim Dogan, Omar Ayub - Laufzeit: 87 Minuten.