Bücher der Saison

Frühjahrsbücher 2012

07.04.2012. In der Literatur schickt Ungarn uns in die Abendschule, Prag in die Vorstadt, Israel in den Schlaf, Schottland liefert uns der Huldra aus, Amerika stellt uns auf ein Schlachtfeld, die Niederlande grübeln in Wales über Emily Dickinson, das Surselva veranstaltet ein letztes Besäufnis. Und dann gibt es noch diese multiethnischen Autoren, die feste Identitäten nur lächerlich finden. Die Sachbücher geben uns eine Lektion in Sachen Aufklärung, Rückzug und Beethoven.
Romane, Erinnerungen, Krimis / Sach- und Politische Bücher

Romane

USA

Diese Geschichte kommt einem aus tausend Variationen bekannt vor: Eine für die Naturschutzbehörde arbeitende Biologin will auf einer Insel die Ratten ausrotten, die das gesamte Ökogleichgewicht auf der Insel zu zerstören drohen. Ein radikaler Umweltschützer, der ihr vorwirft, sie teile Tiere in gute und schlechte ein, versucht sie daran zu hindern. T.C. Boyles Roman "Wenn das Schlachten vorbei ist" hat die Rezensenten durch die Bank weg begeistert. Vielleicht fehlt dem Autor heute die satirische Schärfe, die er früher hatte, so Hans Peter Kunisch in der Zeit. Aber das mache er allemal wett mit seinem Gespür für die psychologische Entwicklung der Figuren. In der FAZ ist Cord Riechelmann begeistert von Boyles Fähigkeit, die komplexe Beziehung zwischen Kultur und Natur anhand seiner vielschichtigen Charaktere begreiflich zu machen. In der SZ feiert Ulrich Baron den Roman als "Meisterstück literarischen Understatements". Denn Boyle (Homepage) habe seine Thematik so fugenlos in die Erzählung eingearbeitet, dass man gar nicht merke, dass auch Erkenntnis verarbeitet wird. Hier eine

Tea Obreht, 1985 in Belgrad geboren, floh als Siebenjährige mit ihrer Mutter und ihren Großeltern vor dem Bürgerkrieg in Jugoslawien. Seit 1997 lebt sie in den USA, wo ihr Debütroman "Die Tigerfrau" 2011 mit dem renommierten Orange Prize ausgezeichnet wurde. Worum geht"s? Eine junge Frau, die irgendwo in Südosteuropa in einem Waisenhaus arbeitet, erhält die Nachricht, dass ihr geliebter Großvater an einem ihr unbekannten Ort gestorben ist und macht sich auf die Suche nach eben diesem Ort. Obrecht (Homepage) erzählt von dieser Reise und verflicht sie mit Märchen, Mythen, Aberglauben zu einem "magischen Realismus", der auch den deutschen Kritikern gefiel. Komplex und mit "herrlichster Detailfreude" erzähle Obreht hier die Geschichte des Balkans vom Ersten Weltkrieg bis zur Jahrtausendwende, schwärmt FAZ-Rezensent Ernst Osterkamp. Hans Peter Kunisch war in der SZ etwas zurückhaltender, aber auch er lobte den ungewöhnlichen und differenzierten Blick der Autorin auf die Kriege in Jugoslawien. Im Deutschlandradio staunt Claudia Kramatschek über Obrehts "Kunst und Lust am wortmächtigen Fabulieren". Um einiges finsterer dürfte wohl Donald R. Pollocks "Das Handwerk des Teufels" sein, das den Mittleren Westen der USA in den 50er Jahren als veritablen Alptraum beschreibt. Der Debütroman des 1954 geborenen ehemaligen Lastwagenfahrers (Homepage), zu dessen Personal ein Anhalter folterndes Mörderpaar und ein pädophiles Priestergespann gehören, hat die Rezensenten von FAZ, FR, SZ und Zeit ganz schön mitgenommen. Aber beeindruckt waren sie alle von Pollocks "höllischer wie sprachkräftig poetischer Welt", so Sylvia Staude in der FR. Hier eine

Bereits in unseren Bücherbriefen vom Februar und März empfohlen: Jennifer Egans mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Konzeptroman über die Musikbranche "Der größere Teil der Welt" (), Stewart O"Nans Geschichte von der achtzigjährigen "Emily, allein () und Nicholson Bakers erotische Burleske "Haus der Löcher" ().


Ungarn, Tschechien

Die Ungarn sind diese Saison ganz groß! Peter Nádas" viel gefeierten 1728-Seiten-Roman "Parallelgeschichten" haben wir schon im letzten Bücherbrief vorgestellt. Außerdem hat er das Nachwort geschrieben zu Zsófia Báns 2007 im Original veröffentlichter "Abendschule" Ban (Homepage) wurde 1957 in Rio de Janeiro geboren, sie wuchs in Brasilien und Ungarn auf, wo sie heute Amerikanistik lehrt. "Abendschule" ist ihre erste eigenständige literarische Veröffentlichung. Aber was soll"s, "Debütantinnen müssen nicht jung sein", wie ein absolut hingerissener Lothar Müller in der SZ ruft. In dieser Abendschule geht es um die unterschiedlichsten Themen, erfahren wir: Flauberts Reise nach Ägypten (Bordellbesuch inbegriffen), eine lesbische Liebesszene, Frida Kahlo oder den "Dschungelgeruch des Sechsbindengürteltiers", wie Müller zitiert. Das Ergebnis ist "sprunghaft", oft eher dem Wortklang folgend als einer erzählerischen Logik, und manchmal sogar surreal, so Müller. Aber er hat hier etwas gefunden, das ihn an Geza Ottliks Roman "Schule an der Grenze" von 1959 erinnert: ein "freies Wahrnehmen der Welt", das sich von niemandem gängeln lässt. Dass die Übersetzung von Terezia Mora "glänzend" ist, versteht sich fast schon von selbst. Hier eine

In zunächst unverbundenen Episoden, die alle an einem Herbsttag in Prag spielen, lernt der Leser in Jaroslav Rudis" Großstadtroman "Die Stille in Prag" einen Straßenbahnfahrer, eine Punkerin, einen betrogenen amerikanischen Rechtsanwalt und einen pensionierten Perkussionisten kennen, der sich gegen den ständigen Lärm wehrt, indem er in der Straßenbahn die Kabel von MP3-Playern durchschneidet. "Das ist kein nostalgisches Buch.Das ist kein nostalgisches Buch", versichert der 1972 geborene Autor (Homepage) jedoch in einem Interview mit der Presse. "Es ist ein Buch über das Prag von heute. Da gab"s den Neuanfang als große Party, und alle dachten, man kann jetzt alles machen und das wird immer so bleiben. Inzwischen hat sich das aufgehört, und es kommen mehr und mehr Touristen." Das Prag, das die sehen, ist nur ein Museum, in dem man sich für ein Wochenende besäuft, erklärt Dirk Schümer in der FAZ. "Aber es gibt auch das Prag der Vorstadtstraßen ..., es gibt ranzige Szeneviertel wie Zizkov, aber auch die seelenlosen Neubaureihenhäuser mit handtuchgroßen Gärten", so Schümer, der sich liebend gern hat dort hinführen lassen. Hier eine

Außerdem sehr gut besprochen: "Die Schrift in Flammen" (), der erste Teil von Miklos Banffys in den 30er Jahren erstmals erschienener Trilogie "Siebenbürger Geschichte". In der FAZ ruft Wolfgang Schneider Banffy zum "Tolstoi von Transsylvanien" aus, so detailliert schildere der 1873 in Klausenburg geborene Autor, der in den 20er Jahren knapp zwei Jahre lang ungarischer Außenminister war und 1950 verarmt in Budapest starb, die "heute ziemlich exotisch anmutende" Welt der ungarischen Aristokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Man muss sich allerdings wirklich für die Habsburger interessieren, warnt Hannelore Schlaffer in der NZZ. Hier eineHingewiesen sei auch nochmal auf Krisztina Toths (Homepage) Erzählband "Strichcode" (), der vom Ungarn hinter dem Eisernen Vorhang erzählt. Hier eine


Israel

Aharon Appelfelds Roman "Der Mann, der nicht aufhörte, zu schlafen" () erzählt von einem 16-jährigen Jungen, der 1946 den Holocaust überlebt hat und in Palästina landet, wo er ersteinmal schläft. Und schläft und träumt und von den Stimmen der Vergangenheit überflutet wird: "Sie, seine inneren Autoritäten, hadern mit seinen Entschlüssen, doch sie delegieren gleichzeitig ihr eigenes verpasstes Leben an ihn", erklärt eine tief beeindruckte Marie Luise Knott im Deutschlandfunk. Der Junge gesundet wieder im Schlaf, lernt Hebräisch und wird zum Schriftsteller, um in seiner neue Sprache "das Verlorene zu bergen", so Knott. Ähnlich beeindruckt zeigt sich Anat Feinberg in der Welt: "der verstümmelte und verstummte Körper sucht nach einer eigenen, individuellen Stimme", ein Bedürfnis, dem die israelische Gesellschaft jener Zeit, die ans Kollektiv glaubte, mit Unverständnis begegnete.

Bereits im letzten Bücherbrief empfohlen: Zeruya Shalevs Generationenroman "Für den Rest des Lebens" (). Hier eine


UK/Irland

John Burnsides Roman "In hellen Sommernächten" erzählt von einem Mädchen, Liv, das mit seiner Mutter abgeschieden auf einer norwegischen Insel lebt. Dort ertrinken unter mysteriösen Umständen zwei Jungen und zwei Männer verschwinden. Liv ist davon überzeugt, dass die Huldra, ein böser Geist, die Jungen geholt hat. Doch so eindeutig wie hier erzählt, ist die Sache nicht, warnt Daniel Kehlmann in der FAZ. Der schottische Schriftsteller John Burnside, der vor allem als Dichter hervorgetreten ist, ist ein Meister der Doppeldeutigkeit. Was wirklich geschieht und was Liv sich einbildet, bleibt unklar. Und doch ist dieser Roman viel mehr als nur eine "Übung in geschickter Lesertäuschung", so Kehlmann. Das liegt zum einen an der Beziehung Livs zu ihrer Mutter, die Kehlmann als Gravitationszentrum des Romans beschreibt, und an Burnsides kraftvoller Sprache, vor der Kehlmann den Hut zieht. Großes Lob geht auch an den Übersetzer Bernhard Robben. In der Zeit hat Clemens J. Setz mit Burnside einen ganz "neuen Literaturkontinent" entdeckt, dessen Rätselhaftigkeit ihn spürbar beeindruckt hat. Hier eine

John Banvilles Roman "Unendlichkeiten" hat die Kritiker davon überzeugt, dass der irische Autor doch nicht so sein Langweiler ist, wie oft behauptet. Der Mathematiker Adam Godley liegt im Sterben, seine Familie eilt herbei, um ihn zu verabschieden. Sie sind nicht allein. Unter die Sterblichen mischen sich die Götter: Hermes als Erzähler und Zeus als im Gewand des Sohnes erscheinender Liebhaber. Das ganze ist ein "sprachpraller Spaß", freut sich Sylvia Staude in der FR, dem es jedoch nicht an Tiefgang fehlt, so Jürg Magenau in der SZ. In der Zeit freut sich Susanne Mayer über die "Leichtfüßigkeit" des Autors, die mit einem kräftigen Schuss Boshaftigkeit versetzt sei. Hier eineSehr gelobt wurde auch William Trevors Roman "Turgenjews Schatten" der eine zarte, melancholische Liebesgeschichte im Irland der Nachkriegszeit erzählt.

Bereits im Bücherbrief empfohlen: Michael Ondaatjes Roman über eine Seereise dreier Kinder in den Fünzigern von Ceylon nach England, "Katzentisch" und Martin Amis" Roman über die sexuelle Revolution in den Siebzigern, "Die schwangere Witwe" ).


Deutschland

Mascha, die Heldin in Olga Grjasnowas Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" ist in Baku, Aserbeidschan, geboren, Jüdin, und spricht mehrere Sprachen. Wie die Autorin. Doch hier gibt"s kein sensibles Kreisen um die empfindsame Seele. Mascha ist ehrgeizig, multiethnisch und politisch engagiert. Für Meike Fessmann (SZ) ist Mascha ein "weiblicher Don Quijote des postideologischen Zeitalters", der nichts mehr hasst, so Gisela Gross im Tagesspiegel, als die Worte "Migrationshintergrund" und "postmigrantisch". Sie ist einfach kosmopolitisch, basta. Für Zeit-Rezensentin Ursula März spricht hier eine Autorin mit einer ganz neuen "antifolkloristischen, antilarmoyanten" Stimme - über den Nahostkonflikt, den Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien ebenso wie über die Liebe. So "zeitgeschichtlich wach" und "literarisch eigensinnig" war lange kein deutsches Debüt, lobt März. Hier eine

Jan Böttcher, Ex-Sänger der Band Herr Nilsson, bleibt in seinem Debütroman "Das Lied vom Tun und Lassen" in der deutschen Provinz. Hier erleben ein sechzigerjähriger, engagierter Lehrer, eine 18-jährige Schülerin, die um ihre tote Freundin trauert, und ein 35-jähriger schnöseliger Schulinspektor, der sich in diese Schülerin verliebt, das Ende eines Sommers. Es ist eine deutsche Provinzidylle mit Widerhaken, aus der Böttcher "den Honig subtiler Melancholie" saugt, so ein gerührter Martin Halter in der FAZ. Es ist ein leises Buch, das man nicht überhören sollte, wünscht sich Helmut Böttiger in der Zeit.

Nach zwei Erzählbänden hat Franziska Gerstenberg jetzt ihren ersten Roman vorgelegt: "Spiel mit ihr" ist ein Buch, das mit erotischen Rollenspielen von vier Erwachsenen auf einer Datingplattform beginnt und mit dem Verschwinden eines Kindes endet. Dabei wird nie etwas ausgesprochen, Abhängigkeiten, Machtspiele oder Besitzergreifungen werden angedeutet, so FR-Rezensentin Judith von Sternburg. Christian Metz zeigt sich in der FAZ fasziniert von einer Konstruktion, die ihn an Goethes "Wahlverwandschaften" erinnert. Es fehlt ihm nur ein bisschen an Radikalität bei der Umsetzung. In der Welt hat Tilman Krause von dieser "glanzvollen Absolventin" des Leipziger Literaturinstituts einiges gelernt über unser Liebesleben im Zeitalter des Internets. Nur dass einer der Protagonisten am Ende so hart bestraft wird für seine Fantasien, ist ihm zu kulturpessimistisch.

Anna-Katharina Hahn und Thomas von Steinaecker waren beide für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert (gewonnen hat ihn am Ende Wolfgang Herrndorf für "Sand") und das verdientermaßen, fanden die meisten Kritiker. Anna-Katharina Hahn erzählt in "Am Schwarzen Berg" von zwei älteren Paaren, wie man sie bei den Stuttgart-21-Protesten erleben konnte. Kultur ist hui, Karriere pfui. Schon dass jemand mal über diese eigentlich unmögliche Gegensätzlichkeit schreibt, findet Moritz Baßler in der taz sehr angenehm. Ina Hartwig bewundert in der SZ Hahns Gespür für das bloß Fassadenhafte im gesellschaftlichen Miteinander. "Grundgescheit und menschlich klug", lobt Tilman Krause in der Welt den Roman. Nur Zeit-Rezensent Ulrich Greiner ist das ganze einfach zu naturalistisch. Thomas von Steinaecker hat mit "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen" einen Angestelltenroman geschrieben. Hauptfigur ist die Psychopharmaka schluckende Angestellte eines Münchner Versicherungskonzerns, die durch eine "Entwirklichungshölle" geht, wie sie nur der Kapitalismus bereiten kann, um schließlich nach ihrer befürchteten Kündigung die wirkliche Welt wieder wahrnehmen zu können. Iris Radisch war in der Zeit absolut angetan von Steinaeckers gewagter Konstruktion und seinem "elaborierten" Stil. Nicht alle Kritiker möchten ihr so weit folgen. In der Welt lobt Richard Kämmerlings die erste Hälfte als "glänzend recherchiert" und "witzig", aber der Schluss! Soll hier das "Ganzheitsideal des Künstlertums" rehabilitiert werden, fragt er leicht ratlos.

Gut besprochen wurden auch Milena Michiko Flasars Roman "Ich nannte ihn Krawatte" über zwei Männer, einen älteren Büroangestellten, der gerade seinen Job verloren hat, und einen Jugendlichen, der keinen Job möchte, der ihn nur "funktionieren" lässt. Die beiden "sanften Verweigerer", so Christoph Bartmann in der SZ, treffen sich zufällig auf einer Parkbank und kommen ins Gespräch. Ein "beklemmendes Kammerstück" hat die 1980 geborene österreichische Autorin (Homepage) hier inszeniert, lobt Anja Hirsch in der FAZ. Mathias Gatzas Roman "Der Augentäuscher" entführt uns in den Barock. Künstlerepos, Mediensatire, Klosterthriller, Liebesgeschichte und eine schräge Liebeserklärung an das Barock, erzählt eine vergnügte Kristina Maidt-Zinke in der SZ. Sie hat sich - wie auch FAZ-Kritikerin Felicitas von Lovenberg - jedenfalls prächtig amüsiert mit dieser Geschichte um einen verkrachten Wissenschaftler, der ein Foto mit der Jahreszahl 1673 findet.

Bereits im Bücherbrief vorgestellt: Felicitas Hoppes in der FAZ als Geniestreich gepriesener literarischer Autobiografieroman "Hoppe" und Christian Krachts umstrittener Roman um den Aussteiger August Engelhardt, "Imperium" ). Hingewiesen sei schließlich noch auf die von Alexander Kluge aufgezeichneten Lebensläufe in "Das fünfte Buch" das die Rezensenten in FAZ, NZZ und SZ für seine Klugheit und seine Herzenswärme liebten.


Andere

Gerbrand Bakkers Debütroman "Oben ist es still" hatte 2008 nicht nur beim Perlentaucher Begeisterung ausgelöst. Auch die Zeitungskritiker waren hingerissen von diesem Roman, der mit knappen Sätzen sehr sehr intensiv eine Vater-Sohn-Beziehung auf einem holländischen Bauernhof beschrieb. Nach "Juni" ist "Der Umweg" nun Bakkers dritter Roman, und er ist sogar noch besser als die zwei vorherigen, freut sich SZ-Rezensent Christoph Schröder. Die Geschichte spielt wieder auf einem Bauernhof, diesmal aber in Wales, wohin sich die Literaturwissenschaftlerin Agnes zurückgezogen hat, um ihre Dissertation über Emily Dickinson zu schreiben und ihren privaten Problemen zu entfliehen. Was genau nicht in Ordnung ist, setzt sich für den Leser nur langsam zusammen - in Andeutungen, Gesten und Ausweichmanövern. Gerade dies macht Bakker für Schröder zu einem "diabolisch guten Erzähler". In der Zeit ist Alexander Pleschka beeindruckt, wie Bakker (Homepage) die Verse Emily Dickinsons in seine Erzählung verwebt. Und: "Gerbrand Bakkers Sprache ist lakonisch, nie direkt, doch immer aufdeckend", schreibt Hubert Holzmann in einer ausführlichen Besprechung im Titel-Magazin.

Außerdem sehr gut besprochen: Mohammed Hanifs "Alice Bhattis Himmelfahrt" Hanif, der mit "Eine Kiste explodierender Mangos" vor zwei Jahren einen Independenthit gelandet hat, erzählt in seinem neuen Roman von einer christlichen Krankenschwester mit den Fähigkeiten einer Lara Croft, die sich in Karatschi in einen muslimischen Polizisten verliebt. "Tarantinoesk", lobt die taz, die NZZ bescheinigt dem Roman hohes Spannungspotential. Hier eineDavide Longo zeichnet in "Der aufrechte Mann" ein apokalyptisches Bild von Italien im Jahr 2025 - blutrünstig, aber hellsichtig, findet Maike Albath in der SZ.

Arno Camenischs "Ustrinkata" ist der letzte Band einer Bündner Trilogie, die von einer langsam schwindenden Tradition erzählt, ohne dabei sentimental zu werden, wie die Kritiker unisono versichern. Die alt gewordenen Stammgästes des "Helvezia" sitzen ein letztes Mal in ihrer Dorfkneipe im Surselva, bevor sie geschlossen wird. Sie trinken und reden über Gott und die Welt in einem Sprachmix aus Deutsch, Bündner Dialekt und rätoromanischen Einsprengseln. Arno Camenisch, 1978 geboren (Homepage), weiß, wie man "fremden Alltag fremd aussehen" lassen kann, versichert bewundernd Hans-Peter Kunisch in der SZ. Und er hat ein "Gehör für die Melodie der Sprache, der fremden wie der eigenen", lobt Marco Guetg in der Aargauer Zeitung. Roman Bucheli, denkt man nach Lektüre seiner Kritik in der NZZ, wird die Mischung aus "Lebensklugkeit mit Rechthaberei, Rabulistik mit rabenschwarzem Spott" der Bewohner vermissen. Im Freitag gibt es ein informatives Porträt über den Autor. Und hier kann man ihn auf einer Lesung in Leipzig hören. Empfohlen seien außerdem noch Juan Jose Arreolas Roman "Der Jahrmarkt" der formvollendet das Stimmgewirr eines ganzen mexikanischen Dorfes einfängt, so Kersten Knipp in der NZZ, und der laut Septime Verlag bei seiner Ersterscheinung 1963 von den Honoratioren seiner Geburtsstadt auf dem Vorhof der Kirche verbrannt werden sollte. Und Cecile Wajsbrots "Die Köpfe der Hydra" in dem sie als Tochter eines Alzheimerpatienten das Paralleluniversum der Spitale, Praxen und sozialen Einrichtungen kennenlernt. Erinnern und Vergessen haben in dieser Geschichte einen doppelten Boden, erklärt Lena Bopp in der FAZ. Denn: "Wer soll erzählen, wie sich ihr Vater als kleiner Junge im Wald der Auvergne vor den deutschen Gendarmen versteckte, wenn er selbst die Erinnerung daran verliert?"


Erinnerungen, Autobiografien

2006 erschien bei uns Joan Didions viel gelobter Band "Das Jahr des magischen Denkens". Darin erzählte sie von der Zeit nach dem Tod ihres Ehemanns John Gregory Dunne. Als er starb, kämpfte gleichzeitig ihrer beider Adoptivtochter Quintana im Krankenhaus um ihr Leben und starb kurze Zeit später. Sie war 39 Jahre alt. "Blaue Stunden" ist keine strenge Chronologie, sondern eher eine Abfolge des Erinnerungsprozesses, um das Leben ihrer Tochter vor dem Vergessen zu bewahren, erkennt Sibylle Cramer in der Zeit. Sie und die Rezensentinnen in FR, FAZ und Zeit sind beeindruckt, dass Didions Intellekt bei aller Trauer immer durchscheint. Judith von Sternburg beschreibt das in der FR so: "Sie ist verzweifelt, aber das hindert sie nicht am Denken." Anna Achmatowa gehörte zu den größten Genies der Lyrik im 20. Jahrhundert. Nadeshda Mandelstams Erinnerungen () an ihre Freundin sind nur durch Zufall gefunden und 2008 erstmals auf Russisch veröffentlicht worden, berichtet Alexander Cammann in der Zeit. Er war sehr beeindruckt von dem Stolz der Frauen auf die die Politik überdauernde und übertrumpfende Dichtung. In der NZZ legt Felix Philipp Ingold das Buch den Lesern wärmstens ans Herz. Und Gregor Ziolkowski versichert im Deutschlandradio: Die Fakten über Mandelstam und Achmatowa sind alle bekannt, "und doch reflektieren diese Memoiren eine ganz und gar eigene Sicht auf diese Geschehnisse, auf diese Biografien". Hier eine

Nicht Autobiografie, sondern: biografische Skizzen, ist der Untertitel von F.C. Delius" "Als die Bücher noch geholfen haben" () und das ist auch genau richtig, meint Ulrich Greiner in der Zeit, der es eigentlich ganz gern etwas persönlicher gehabt hätte. Dafür gibt es u.a. eine präzise Chronik der Verlage Wagenbach und Rotbuch, Porträts der Kritiker der Gruppe 47 und - so FAZ-Kritiker Friedmar Apel - Erinnerungen an Autoren wie Susan Sontag. Das sei alles etwas "ernst und umständlich" beschrieben, andererseits: Respekt! Hier eineEmpfohlen sei schließlich noch Hanna Kralls "Rosa Straußenfedern" (), ein Band mit Briefen, Notizen, Erzählungen der 1937 geborenen polnischen Reporterin, die in ihrer lakonischen Sprache alles notierte, so FAZ-Rezensentin Marta Kijowska, was ihr in den letzten 50 Jahren wirklich wichtig vorkam. Hier eine


Krimis

Krimis werden heute so selten besprochen, dass man nur noch zwei, drei einzelne Stimmen in der Presse heraushört: Tobias Gohlis natürlich, der in der Zeit Oliver Bottinis "Der kalte Traum" empfahl, ein "grandioser" Krimi über einen Zeugen, der in einem Prozess im Haag gegen einen kroatischen Kriegsverbrecher aussagen und von interessierter Seite eliminiert werden soll. Oder Sylvia Staude, die Don Winslows gut recherchierten Thriller "Die Sprache des Feuers" über den Schadensermittler einer Versicherungsgesellschaft, der einen Brand untersuchen soll, lobte. Und Andrea Maria Schenkels Krimi "Finsterau" (), der an die Qualität von Schenkels Überraschungshit "Tannöd" anknüpfe: Kurz, aber gut, versichert die Kritikerin. Perlentauchers Thekla Dannenberg empfiehlt u.a. Fred Vargas" "Nacht des Zorns" () und - wenn auch eigentlich kein Frühjahrsbuch mehr, aber absolut empfehlenswert: Monika Geiers "Müllers Morde" (), der neben seiner Mordgeschichte eine der rührendsten homosexuellen Erweckungsgeschichten erzählt, die man in der deutschen Literatur gelesen hat.

Weitere Lektüreempfehlungen in Thekla Dannenbergs Krimikolumne "Mord und Ratschlag".


Romane, Erinnerungen, Krimis / Sach- und Politische Bücher