Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2002. In der Zeit warnt Arundhati Roy vor einem radioaktiven Kaninchen namens Kaschmir. In der FAZ äußert sich Jürgen Habermas nach einer philosophischen Rundreise optimistisch über den Iran. In der SZ erinnert sich Georg Klein an den ersten Menschen, den er Geige spielen sah. Die NZZ macht sich (wie die FAZ) Sorgen um das Frankfurter Theater am Turm. Die FR bringt ein Plädoyer für den DDR-Autor Fritz Rudolph Fries.

Zeit, 13.06.2002

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy ("Der Gott der kleinen Dinge") ist entsetzt darüber, dass die Politiker auf dem Subkontinent genauso unverantwortlich mit der Atombombe umgehen, wie die westlichen Nuklearmächte befürchtet haben: "Für die Regierungen Indiens und Pakistans ist Kaschmir kein Problem, sondern eine verlässliche und großartig erfolgreiche Lösung. Kaschmir ist das Kaninchen, das immer dann aus dem Hut gezaubert wird, wenn sie ein Kaninchen benötigen. Leider ist es mittlerweile ein radioaktives Kaninchen, das außer Kontrolle zu geraten droht." Den Originaltext finden Sie bei Alternet.

Dass Spektakelgeschrei hochgradig ansteckend ist und dass die Walser-Debatte langsam unerwartete Ausmaße annimmt, hat Jens Jessen während der letzten Tage im deutschen Feuilleton bemerken müssen. "Wer immer einen Groll in dieser Republik hegt, sich gekränkt oder von Machtverlust bedroht fühlt, will jetzt seine Stimme erheben. Es ist wie auf einer Säuglingsstation, wo ein Baby zu brüllen beginnt und alle anderen einfallen." (... statt auf die Zeit zu warten)

Weitere Artikel: Der Leipziger Schriftsteller Erich Loest, selbst Opfer der Stasi, schreibt über jüngste Versuche der Vergangenheitsentsorgung in DDR-Angelegenheiten und wundert sich, warum niemand so recht die Freiheit preisen will. Wolf Oschlies meint zu träumen: Radovan Karadzic sitzt in seinem Versteck und schreibt eine Komödie über Europa und den Eurohumanismus. Hanno Rauterberg war auf der documenta 11 in Kassel und zeigt sich verstört von der mit politischer Bedeutung überfrachteten Kunst. Im Interview erzählt Christoph von Dohnanyi von seinen Zukunftsplänen nach Cleveland. Peter Kümmel hat Matthew Barneys "Cremaster"-Filmzyklus gesehen, der nach acht Jahren Arbeit endlich fertig ist. Und Petra Kipphoff hat den Schauspieler Richard Serra über seine Arbeit mit Matthew Barney ausgefragt.

Besprochen werden Robert Altmans Film "Gosford Park", Ed Harris' "Pollock", die 33. Auflage der Ausstellung "Art Basel" (mehr hier), Liveaufnahmen des Belcantists Fritz Busch, das neue Album "Murray Street" von Sonic Youth und die neue CD von Tocotronic, Andreas Dresens Stück "Zeugenstand" an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin, Salvatore Sciarrinos Oper "Macbeth" am Schwetzinger Theater, Blanca Lis Tanztheater "Borderline" an der Komischen Oper in Berlin und die Revue im Tipi-das Zelt, ebenfalls in Berlin.

Außerdem beglückt die Zeit heute ihre Leser mit einer 40-seitigen Literaturbeilage. Den Aufmacher widmet Jens Jessen einem Klassiker der Strandliteratur: "Der peleponnesische Krieg" von Thukydides.

SZ, 13.06.2002

"Er war der erste Mensch, den ich Geige spielen sah", schreibt Georg Klein (mehr hier) beim Wiederlesen seines alten Heimatkundebuches "Mein Augsburg. Augsburger Heimatkunde für die Jugend", in einer anrührenden Hymne auf dessen Verfasser, seinen Grundschullehrer Hans Pletz, den Klein als frühen Förderer seines Erzählvermögens und Gärtner seines Geschichtsgefühls rühmt. Am ersten Tag des 4. Schuljahrs hatte er die Klasse betreten, die Schüler aufgefordert, sich mit den Stühlen um ihn zu setzen und zu singen, wobei er den Gesang "auf seiner Geige kratzend", begleiten wollte. "Der Grundschullehrer, der mit der Geige auch den musischen Bildungsbürger und als Heimatkundler dazu eine Art Amateurhistoriker vorstellt, führt seine Schüler aus dem postproletarischen Billigbau-Wohnblöcken der fünfziger Jahre in die große noble Welt der Tradition.....Unser Lehrer war sich sicher, dass es sich lohnt, über Menschenwerke zu sprechen, deren Ursprung in der Vergangenheit liegt, deren Wirkung auf uns wir aber gegenwärtig erfahren können und deren Erhalt wir daher befördern sollten."

Die heutige Bundestagsdebatte über den Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" nimmt Kommissionsmitglied Rupert Graf Strachwitz, Direktor des Maecenata Instituts in Berlin, zum Anlass für ein Plädoyer für die Zivilgesellschaft. Der Staat, der beanspruchte, alle Bereiche menschlichen Lebens gestalten, regeln, ordnen und organisieren zu können, habe vielfach versagt und keine Zukunft mehr. Vieles, so Strachwitz, habe er dem Markt überlassen, doch der wäre als alleiniger alternativer Akteur zu wenig. "Es ist hohe Zeit, sich ernsthaft der dritten Säule eines modernen, liberalen Gemeinwesens zuzuwenden, .... die durch Selbstermächtigung, Selbstorganisation und Selbstverantwortung und vor allem ... durch das Geschenk geprägt ist. Ein grober Irrtum zu glauben, Geschenke gäbe es nicht. 22 Millionen Bürger engagieren sich in Deutschland; sie schenken der Gesellschaft an einer Stelle, die sie selbst bestimmen, Zeit, Ideen und Vermögen."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld hat in Lucca fünfzig Gelehrte der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft (mehr hier) beobachtet, wie sie mit Würde und Andacht den hundertfünfundzwanzigsten Geburtstag ihres Dichters begingen. Evelyn Vogel nimmt "Die Königsstadt", den ersten Spielfilm von Prinz Sihanouks Sohn, Prinz Ranariddh "Raja Bori", zum Anlass, über das Verhälnis der kambodschanischen Königsfamilie zum Kino nachzudenken. Jens Bisky hat Julian Nida-Rümelins Antrittsvorlesung am Philosophischen Seminar der Berliner Humboldt-Universität gehört, die den Kulturminister zum Honorarprofessor bestellt hat, und fand diese "so form- und glanzlos wie die gesamte Veranstaltung. Kein Ehrgeiz, nirgends." Jeanne Rubner kommentiert den Abschied von Max-Planck-Präsident Hubert Markl.

Besprochen werden das neue Album von "Tocotronic", ein stadtweiter Designparcours durch München, Theaterproduktionen aus der ehemaligen Sowjetunion bei den Wiener Festwochen, Bücher, darunter Jörg Leonhards Studie zur historischen Semantik des europäischen Liberalismus' (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr), und Filme, nämlich Adrian Lynes neuer Film "Unfaithful" (Hauptdarstellerin Diane Lane mache "die Sprache des Körpers zu einem atemraubenden Abenteuer der Seele", schreibt Anke Sterneborg) und Filme von Ulrike Ottinger und Chantal Akerman im Münchner Filmmuseum. Außerdem gibt es einen Ausblick auf kommende Filmproduktionen dies- und jenseits des Atlantiks sowie ein Gespräch mit Spider-Man-Darsteller Tobey Maguire über das Leben nach dem Spinnenmann.

FR, 13.06.2002

Steffen Richter hat den seit Bekanntwerden seiner Zusammenarnbeit mit der Stasi isolierten Schriftsteller Fritz Rudolph Fries besucht und regt dessen Wiederentdeckung an. Fries' Bücher hätten der DDR den Anschluss an die literarische Moderne beschert. Während andere Autoren in den 60er Jahren "noch an den Nachwehen der Bitterfelder Direktiven laborierten, war Fries mit dem hochartifiziellen Bebop-Jazz eines Dizzy Gillespie und Prousts Erinnerungskonzeption beschäftigt. Elegant kalauerten sich seine Helden vom Wir zum Ich. Zudem stand das Referenzmodell des spanischen Schelmenromans gründlich quer zu dem von Lukacs - und somit der offiziellen Ästhetik - favorisierten Bildungsroman. Sein Oobliadooh-Buch haben ihm die alten Genossen bis heute nicht verziehen. Im Westen gefeiert, im Osten als Autor nicht existent, wurde Fries gleichermaßen politisch zerlesen."

Weitere Artikel: Es gibt ein Gespräch mit Robert Altman über das Verhältnis von Kunst und Langeweile. Karin Ceballos Betancur berichtet von den allseitigen Feindseligkeiten die Kolumbien beherrschen. Und die Kolumne Times Mager befasst sich mit dem gegenwärtigen Debattendebakel.

Besprochen werden: Robert Wilsons und Franz Welser-Mösts Ring der Nibelungen an der Zürcher Oper. Die Ausstellung "Railroad-Vision" im Getty-Museum in Los Angeles und Bücher, darunter Laurent Mauvigniers Debütroman "Fern von euch" und Egon Schwarz' Reisegeschichten "Die japanische Mauer" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im übrigen wird vermeldet, dass der Mainzer Schriftsteller Ror Wolf das Überangebot an Literatur für die wachsende Leseunlust der Deutschen verantwortlich macht. "Es gibt ein zu großes Angebot an bedrucktem Papier. Das erweckt Gleichgültigkeit bei denen, die lesen würden." Akut unter Papierallergie Leidenden soll hiermit der Perlentaucher noch einmal wärmstens ans Herz gelegt werden.

NZZ, 13.06.2002

Marcus Hladek meldet harte Sparmaßnahmen in der Theaterszene von Frankfurt: CDU, SPD, FDP und Grüne wollen drei Millionen Euro jährlich sparen, indem sie das Theater am Turm (TAT) des international renommierten Intendanten und Ballettchefs William Forsythe im Frühjahr 2004 ganz schließen, während der Spielort des Theaters, das Bockenheimer Depot, für freie Gruppen bestehen bleiben soll. "Zahlreiche Theaterschaffende, darunter auch Christoph Marthaler (Schauspielhaus Zürich) und Michael Schindhelm (Theater Basel), kritisierten den Beschluss als 'provinziell' und als 'fatales Signal', das zur Nachahmung reizen könnte."

Marc Zitzmann berichtet von einem mitreißenden Spektakel im Pariser Theâtre National de Chaillot, wo die Truppe von Jerôme Deschamps und Macha Makeïeff "eine Wundertüte voll knallbunter Bühnenbonbons in Frankreichs eher grauer Theaterwelt" öffnet: Jacques Tatis Auftritt im legendären Pariser Music-Hall L'Olympia ist hier Inspiration.Weiteres: Ursula Seibold-Bultmann zeigt sich ganz angetan von einer anspruchsvollen Ausstellung im Museum Georg Schäfer zu Carl Spitzweg. Der New Yorker Arto Lindsay hat mit Invoke eine neue CD seiner Pop-Mixturen veröffentlicht, freut sich Knut Henkel: Die Mitarbeit von Marisa Monte und der Gruppe Nacão Zumbi unterstreichen die brasilianischen Einflüsse. Martin Horat kündigt das im Juli erscheinende neue Album von der Band Red Hot Chili Peppers (Anthony Kiedis und Chad Smith) "By The Way" an, deren Arrangements von John Frusciante ausgearbeitet wurden.

Besprochen werden auch Bücher: Rainer Moritz bespricht Gesammelte Texte von Inge Müller und empfiehlt gleich die Biografie zu der Lyrikerin und Theaterautorin von Ines Geipel: "Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller - Die Biografie." Auch Alice Vollenweider bringt eine Doppelbesprechung von zweisprachigen Gedichtbänden aus dem Grenzgebiet Schweiz-Italien: Fabio Pusterlas "Solange Zeit bleibt" und Leonardo Zaniers "Den Wasserspiegel schneiden". Desweiteren: Frauke Meyer-Gosau stellt den Roman "Klausen" von Andreas Maier vor; Bernhard Dotzler erzählt von einem Buch des englischen Autors Richard Hamblyn über "Die Erfindung der Wolken", eine Biografie des englischen Apothekers und Meteorologen Luke Howard (1772 - 1864); Beatrice Eichmann-Leutenegger empfiehlt die Anthologie jüdischer Autoren: "Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 13.06.2002

Drei Filme und ein Buch in der taz:

Jan Distelmeyer hat sich Robert Altmans jüngsten Film "Gosford Park" angesehen, Harald Peters schreibt über Nick Casavetes Film "John Q." und Philipp Bühler findet, dass Adrian Lyne mit seinem Film "Unfaithful" Claude Chabrol verraten hat. 

Conrad Beckmann fragt sich nach der Lektüre des von Jeannot Simmen herausgegebenen Buchs "Telematik. NetzModerneNavigatoren", ob es eigentlich sinnvoll ist, Künstlern die technologische Kompetenz zur Entwicklung telematischer Medien zuzumuten (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Infos zum Wettbewerb, dessen Ergebnisse der Band kommentiert beziehungsweise dokumentiert finden Sie hier .

Schließlich TOM.

FAZ, 13.06.2002

Jürgen Habermas ist von einer philosophischen Rundreise durch den Iran zurückgekehrt und äußert sich im Gespräch mit Christiane Hoffmann recht optimistisch über die Beiträge jüngerer Philosophen und Theologen zur Reformbewegung und zum Zustand der Gesellschaft überhaupt: "Die Vorurteile, mit denen man anreist, werden durch die Normalität eines Alltags, dessen Eigensinn sich in jedem Regime durchsetzt, nicht nur differenziert. Das Bild einer zentral gesteuerten, geheimdienstlich kontrollierten, einer verstummten Gesellschaft passt einfach nicht - jedenfalls nicht zu den Eindrücken, die ich aus meinen Begegnungen mit Intellektuellen, mit Bürgern einer uneingeschüchterten, spontan und selbstbewusst auftretenden Großstadtbevölkerung gewonnen habe. Der fragmentierte Machtapparat wird doch wohl in die Eigendynamik einer bewegten, in viele Faktionen zersplitterten Gesellschaft eher selbst hineingezogen, als dass er sie noch unter Kontrolle hätte."

Vor der Verleihung der Bundesfilmpreise meldet sich Andreas Kilb mit einem "Zwischenruf zur desolaten Lage". Seit über zehn Jahren ist kein deutscher Film mehr eines internationalen Preises gewürdigt worden - Kilb vermutet, dass es weniger an den internationalen Juroren als am deutschen Film liegt. Auch die deutsche Kritik bekommt ihr Fett weg: "Die Gedankenarmut des deutschen Kinos ist auch eine Gedankenarmut der deutschen Filmkritik, deren fehlendes Traditionsbewusstsein nun auch schon wieder Tradition hat. Dass man zum rezensorischen Begriffsgeklingel der siebziger Jahre nicht mehr zurückmöchte, ist eine Sache; dass man aber unter das Reflexionsniveau eines Karsten Witte, Wolfram Schütte oder einer Frieda Grafe nicht ungestraft absinken darf, eine ganz andere."

Weiteres: Wolfgang Schuller berichtet von den Feiern der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft zum 125. Geburtstag des Dichters. Siegfried Stadler befasst sich mit der baulichen Zukunft des Leipziger Campus. Gerhard Stadelmaier plädiert für das Frankfurter Theater am Turm als Ort einer europäischen Theateravantgarde. Dirk Schümer widmet sich in seiner Kolumne "Leben in Venedig" den Protestanten der Stadt. Auf der Medienseite wird die MTV-Serie "Jackass" vorgestellt. Frank Pergande fragt, ob erst die Rundfunkanstalten von Berlin und Brandenburg fusioniert werden und dann am Ende die Länder selbst. Alexander Bartl empfiehlt von der Kirch-Krise nicht betroffene Nachbarländer, in deren Fernsehsendern man die Fußball-WM betrachten kann.

Auf der Filmseite erinnert sich der Schauspieler Peter Kern, wie Rainer Werner Fassbinder reagierte, als er es wagte, selbst einen Film zu machen: "Bei der Premierenfeier umarmte mich Fassbinder fürchterlich. Dann lächelte er freundlich, küsste mich auf den Mund, nahm mir meine Brille ab, ließ sie fallen und zertrat sie. Dabei stampfte und hüpfte er wie nach einem erfolgreichen Elfmeterschießen bei der Weltmeisterschaft." Ferner wird anlässlich von "Spiderman" eine Geschichte der Spinne im amerikanischen Film erzählt. Und Peter Körte erinnert an den Mafia-Don John Gotti, der sich von filmischen Vorbildern inspirieren ließ. Auf der letzten Seite entwirft Dietmar Dath zusammen mit ein paar Kumpels am WG-Tisch ein "ästhetisch-politisches Modell der künftigen Weltordnung". Wolfgang Sandner zeichnet ein Profil der Bernstein-Tochter Jamie, die sich heute um das künstlerische Erbe des Vaters kümmert. Und Heinrich Wefing erzählt anhand neu geöffneter Akten, wie das FBI in den wilden sechziger Jahren die Studenten von Berkeley aushorchte.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Hans Vredeman de Vries auf Schloss Brake bei Lemgo, Adrian Lynes Film "Untreu" (mehr hier) mit Diane Lane und Richard Gere und Bartok- und Puccini-Inszenierungen des Filmregisseurs William Friedkin an der Oper von Los Angeles.