Außer Atem: Das Berlinale Blog

Beschwörung der Kampfgeister: Jonathan Rescignos "Grève ou Crève" (Forum)

Von Thekla Dannenberg
24.02.2020.


Die Militanz, die Franzosen bei ihren Protestaktionen an den Tag legen, ist meist genauso verstörend wie ihr mitunter ritueller Charakter. Abends liefert man sich, bewaffnet mit Holzlatten oder Baseballschlägern, eine Schlacht mit der Polizei, die wiederum mit Tränengasgranaten und Schlagstöcken antwortet. Am nächsten Morgen wird weiterverhandelt. In der Bergbauregion Lothringen hat der große Streik von 1995 den Kumpels nichts genutzt. Die Zechen in Merlebach wurden geschlossen, die Region ging den Bach runter, doch die Trophäen in der großen Schlacht werden noch heute wie ein Schatz gehütet. Banner, Spaten, Tränengasgranaten.

"Willenskraft ist der halbe Sieg", donnert fünfundzwanzig Jahre später der Boxtrainer, wenn er beim Training die jungen Sportler antreibt. Sie ackern, ächzen, schwitzen, unermüdlich, üben Schläge, Haken, Beinarbeit. Mit ihrem Nachnamen, denken sie, müssen sie doppelt so hart arbeiten wie die anderen. Abends gehen sie auf den Jahrmarkt, schlagen sich weiter am Boxautomaten, fahren in der Geisterbahn und schlecken Zuckerwatte und kandierte Äpfel. Traurige Surrogate eines freudvollen Lebens.

Jonathan Rescigno schneidet in seiner Dokumentation "Grève ou Crève", streike oder verrecke, die Schlachten der Bergarbeiter gegen die Kämpfe der Enkelgeneration in der abgehängten Industrieregion: Den großen Streik für die gemeinsame Sache gegen den Wettstreit der Einzelkämpfer, das Kollektiv gegen die Individuum. Dazwischen steht der Mann, der sich in dreißig Arbeitsjahren kaupttgeschuftet hat, nicht auf seine Recht pocht und alles mit sich hat machen lassen. Seine verbalradikale Frau gibt die Kämpferin und erklärt ihm, wie er seinem Patron den Marsch blasen soll. Der schwache Mann kann nur alles abnicken, was sie ihm einbläut.

Rescigno fängt einige schöne Szenen mit den Jugendlichen ein, etwa wenn sie das Bergarbeitermuseum besuchen und echtes Muffensausen bekommen, als sie 1.200 Meter den Schacht im Aufzug herunterdonnern: "Keine Angst. Wir sind Männer." Oft jedoch belässt er es beim Schematischen oder den bekannten Topoi: Das Boxen, der Kampf um Aufstieg, Rechte und Würde. Mitunter entwickelt der Film jedoch ein poetisches Eigenleben, dann ziehen Rauchschwaden durch die Straßen der Stadt, deren öffentlicher Raum bemerkenswert gut in Schuss ist, und man fragt sich: Ist das noch das Tränengas von 1995? Oder ist es der Kampfgeist der Vergangenheit?

Grève ou crève . Regie: Jonathan Rescigno. Dokumentarische Form. Frankreich 2020. 93 Minuten (Alle Vorführtermine)