Mord und Ratschlag

Bingo bei Claudi

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
28.03.2018. Von wegen schwarz: Der Band "Berlin Noir" versammelt dreizehn Kurzgeschichten Berliner AutorInnen, die voller Liebe zur Großstadt ihren dunklen Untergrund erkunden. In seinem Roman "Leiser Tod" bringt der Australier Garry Disher Kunstdiebe und Ermittler auf den Pfad polizeilicher Tugend und gegen die Neureichen von Melbourne in Stellung.
Die neueste Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet 2.418 Morde in Deutschland für das Jahr 2016. Auf dem Büchermarkt wird die Zahl locker übertroffen. Wie das Börsenblatt ermittelt hat, sind 2017 insgesamt 3.317 neue Titel erschienen - nur im Print. Dazu kommen noch 2.640 E-Books und 543 Hörbücher. Damit ist die Flut der Krimi-Neuerscheinungen noch einmal um sieben Prozent angewachsen. Man muss diesen Zuwachs als ein Krisensymptom auffassen. Denn zum einen wird mit immer mehr Titeln immer weniger Geld verdient: Die Umsätze sind um 2,6 Prozent im vorigen Jahr gesunken. Zum anderen sind es immer dieselben wenigen Bestseller-Autoren, die die Umsätze hochtreiben, wie man auf der Liste der meistverkauften Titel 2017 sehen kann: Dan Brown, Sebastian Fitzek, Jean-Luc Bannalec, Jussi Adler-Olsen, Nele Heuhaus, Charlotte Link.

Kein Mensch kann bei solch einer Massenproduktion den Überblick behalten. Gute Titel gehen unter, begraben unter Unmengen von Schund. Nicht nur Kritiker ächzen unter diesen Massen, auch die Lektoren und Verlage. Wer soll das ganze Zeug lesen? Wer will es lesen? Das Börsenblatt zitiert die Programmleiterin eines Münchner Verlages: "Es gibt zu viele Titel; nicht nur, aber auch deshalb, weil immer mehr Leser meinen, sie könnten mal schnell selbst einen Krimi schreiben." Man kennt diese Leute, es gibt sie auch in den Medien: Sie lesen keine Zeitungen mehr, weil sie das ganze Zeug eh nicht mehr interessiert, sie schreiben jetzt ihr eigenes Blog. Wie im Journalismus droht auch dem Buchmarkt eine Zukunft mit immer mehr Sendern und immer weniger Empfängern. Eine Branche kannibalisiert sich selbst.

Ein wenig zeigt sich in diesem Frühjahr schon dieses krisenhafte Moment. Selten gab es zum Start einer Saison so wenig außergewöhnlich, innovative oder wegweisende Neuerscheinungen. Und ganz schlimm: Im März war keine einzige Frau auf der Krimi-Bestenliste.

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Wozu die deutsche Kriminalliteratur eigentlich in der Lage ist, zeigt der fantastische Band "Berlin Noir". Der von Thomas Wörtche herausgegebene Band ist eine wahre Fundgrube an Berliner Geschichten, die keineswegs alle noir sind, sondern meist mit großer Liebe und vielleicht etwas bösem Witz in die dunklen Winkel der Stadt führen. Die Erzählungen spielen alle in verschiedenen Bezirken, von Neukölln bis Grunewald, von Mitte bis Alt-Glienicke, und sie erinnern in ihren unterschiedlichen Tonlagen und Blickwinkeln sehr schön daran, dass eine Metropole von der Vielzahl verschiedener Milieus lebt. Erst die Reibung erzeugt großstädtische Energie. Man liest den Band mit einer doppelten Abenteuerlust: Es gibt nicht nur unbekannte Orte zu entdecken, sondern auch aufregende neue Autoren. Denn neben gesetzten Größen wie Max Annas, Zoe Beck und Matthias Wittekindt schreiben auch etliche Newcomer und Quereinsteiger. Das Konzept ist eine Lizenzausgabe des New Yorker Akashic Verlags, der im Band "Paris Noir" bereits sehr erfolgreich die Größen des französischen Kriminalromans versammelte.

Kurzgeschichten haben auf dem deutschen Buchmarkt keinen besonders guten Stand, und streng genommen bedienen die wenigsten der hier versammelten Autoren die Gattung in dem klassischen Sinne, wie er etwa Patricia Highsmith vorschwebte, die ganz genaue Vorstellungen davon hatte, wie reduziert Story und Figurenzahl sein müssen, wie einheitlich Szenerie und Stimmung und wie bedeutend das Detail. Die meisten Geschichten lesen sich eher wie kurze Romane, allerdings in Hochgeschwindigkeit erzählt. Das ist wie beim Speed Dating, alle zwanzig Seiten beginnt ein neuer Flirt. Da ist zum Beispiel Susanne Saygin, die in ihrer Erzählung "Die Schönheit des Zymbelkrauts" durch Neukölln und über das Tempelhofer Feld streift, von der Motzstraße zum Rüdesheimer Platz. Wie sie dabei städtische Erkundung mit mörderischen Gedanken über die Schädlichkeit gewisser Stadtbewohner verbindet, ist so gerissen wie gekonnt. Eine tolle neue Stimme.

Eine andere wunderbare Geschichte erzählt Johannes Groschupf aus SO 36 im "Heinrichplatzblues", der allerschönste Erinnerungen an die neunziger Jahre wachruft: Der Barkeeper und Frauenliebling Nick ist spurlos verschwunden, und während die Ladies ihre Trauer in Weißwein ertränken, wächst mit jeder Seite die Zahl verdächtiger Typen. Dabei ziehen wir mit Groschupf auf der Suche nach Nick vom Elefanten zum Bateau Ivre, von Schmidts Katze in den Bierhimmel. Die Frauen hier sind schon mit Doc Martens auf die Welt gekommen, aber am Sonntag versammeln sie sich alle zum Bingo bei Claudi in der Eckkneipe: "Futschi Dienstag's und Sonntag's 1 Euro." Ein liebevolleres Porträt ist nie vom Heinrichplatz gezeichnet worden.

In Mike Wuligers Charlottenburger Story "Kaddisch für Lazar" ermittelt ein hartgesottener Reporter den Mord am jüdischen Oberpromi Mark Lazar. Weder in der jüdischen Gemeinde noch im Café Einstein wird man ein gutes Wort über ihn hören: Der Mann hatte in der Stadt so viele Posten angehäuft, wie er sich Feinde gemacht hatte. Zoe Beck erzählt eine berührende, ganz typische Geschichte vom Bahnhof Zoo, nur dass die heute dort Gestrandeten nicht mehr vom Drogenstrich stammen, sondern von der Lang Bar des Waldorf Astoria, direkt gegenüber, abgestürzt sind. Robert Rescue macht den Wedding unsicher, Rob Alef Tempelhof und Ute Cohen Zehlendorf. Natürlich halten nicht alle Geschichten das hohe Niveau, es gibt auch reinen Zynismus und Ausreißer nach unten. Doch es ist eine fantastische Sammlung. Besser kann man sich nicht durch Berlin führen lassen.

Thomas Wörtche (Hrsg.): Berlin Noir. Originalgeschichten von Rob Alef, Max Annas, Zoë Beck, Katja Bohnet, Ute Cohen, Johannes Groschupf, Kai Hensel, Robert Rescue, Susanne Saygin, Matthias Wittekindt,  Ulrich Woelk, Michael Wuliger und Miron Zownir. Culturbooks, Hamburg 2018, 329 Seiten, 15 Euro. (Bestellen)


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Ein Autor, der zuverlässig exzellente Kriminalromane schreibt, ist der Australier Garry Disher. Der Unionsverlag bringt sie in der erstklassigen Übersetzung von Peter Torberg raus. Die Romane um Inspector Hal Challis und Constable Pam Murphy sind nicht so hartgesotten wie die um den Profigangster Wyatt, aber nicht weniger abgründig.

Challis und Murphy arbeiten für die Crime Investigation Unit, der CIU, auf der Mornington Peninsula, eine gute Stunde südlich von Melbourne. Auf dieser Halbinsel toben die typischen Verdrängungskämpfe des 21. Jahrhunderts. Bisher lebten hier die kleinen Angestellten und Arbeiter, die es sich nicht mehr leisten konnten, im florierenden Melbourne zu wohnen. Nun drängen die Städter hierher, zum Kurzurlaub, in die Wochenendhäuser, in die Villa. IT-Millionäre, vermögende Ruheständler, die Profiteure der Immobilienkrise und koksende Footballer. Das neue Geld zelebriert sich auf Gartenparty, Volljährigkeitsfeiern, bei Verkostungen von Jahrgangsweinen. Die Abgehängten rächen sich mit Schmierereien an den Einfahrten: "Hier wohnt ein Proll mit Geld", sprühen sie an die Mauern, "Geschmack lässt sich nicht kaufen" oder "So stelle ich mir meinen steifen Pimmel vor."

In einer derart angespannten Situation entfaltet die Vergewaltigung junger Frauen besonders toxische Wirkung, vor allem in der CIU selbst: Polizisten mit fehlendem Knowhow treffen auf Polizisten mit mangelndem Anstand. In diesem Fall kommt hinzu, dass der Täter eine Polizeiuniform trägt und erkennbar über kriminaltechnisches Wissen verfügt. Hallis und Murphy sind ein sympathisches Duo, sie ermitteln mit ruhiger Entschlossenheit und zusammen mit einer Spezialistin für Sexualverbrechen aus Melbourne. Murphy setzt gerade ihre Antidepressiva ab und stürzt sich prompt in ein Affäre mit ihrer neuen Kollegin, doch ansonsten folgt sie beharrlich dem Pfad polizeilicher Tugend: Was weiß ich? Was weiß ich noch nicht? Wie finde ich es heraus? Hallis ist nur noch Ermittler auf Zeit. Mit politischen Äußerungen in der Zeitung hat er die gesamte Polizeiführung gegen sich aufgebracht. Er erwartet jeden Tag seine Suspendierung.

Doch Disher wäre nicht der ausgefuchste Autor, der er ist, wenn er es bei einem klugen, aber doch etwas konventionellen Police Procedural beließe. In einem zweiten Strang folgt er den Raubzügen der Profigangsterin Grace. Diese geheimnisvolle Frau hat sich auf Einbrüche in luxuriöse Villen spezialisiert. Und wie alle, die auf einen gehobenen Lebensstil Wert legen, holt sie sich Anregungen aus Hochglanzmagazinen wie Home Digest oder Home Beautiful, in denen die Reichen und Schönen ihre Heime zur Schau stellen, ihren Goldschmuck, ihr Silber, ihre Sammlung von moderner Kunst und Australiana. Grace zieht für ihre Einbrücke durch den halben Kontinent, von einem Bundesstaat in den anderen. Hinter ihr her sind nicht Hallis und Murphy, sondern ein Agent der Australian Federal Police.

Disher ist ein ruhiger Erzähler, mit einem präzisen Blick für die Details. "Leiser Tod" ist ungeheuer komplex konstruiert. Wie in einem Prisma bricht er den Komplex von Verbrechen und Aufklärung auf. Mit Grace führt er durch die Welt der Luxuskriminalität, der Kunstdiebe, Hehler und Versicherungsbetrüger. Mit der Akribie einer Spitzenfahnderin kundschaftet sie die ins Auge gefassten Anwesen aus, legt falsche Spuren und kommt Verbrechen auf die Spur. Mit Hallis und Murphy führt Disher durch die unglamouröse, dumpfe Welt der Gewaltverbrechen. Und besonders delikat wird es, wenn Disher die unterschiedliche Grade an Korrumpierbarkeit in der Polizei auffächert. Der Titel gebende "Leise Tod" ist natürlich der blanke Hohn. Die Japaner nannten so Langstreckenbomber, die im Zweiten Weltkrieg so bedrohlich wie gründlich das Land verwüsteten.

Garry Disher: Leiser Tod. Kriminalroman Aus dem Englischen von Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2018, 347 Seiten, 22 Euro.