Im Kino

Zufälle und Unfertiges

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Nikolaus Perneczky
16.12.2020. Das Arsenal streamt Filme des senegalesischen Künstlers Hussein Shariffe aus den Siebzigern - über kleinkarierte Engländer und die Inselstadt Suakin. Susanne Biers Miniserie "The Undoing" erzählt von einem Mordfall im Milieu der Reichen und Schönen am Central Park mit einer mehr als unheimlichen Nicole Kidman.
Szene aus "Tigers are better looking"


Hussein Shariffe war ein sudanesischer Maler, der, wie er von sich selbst sagte, bisweilen "auch als Filmemacher zum Leben erwacht". Noch bis Ende des Monats kann man sich auf der Streamingplattform des Arsenal Kinos selbst davon überzeugen: Zwei experimentelle Frühwerke von Shariffe aus den Siebzigerjahren sind dort zusammen mit einem dokumentarischen Essay aus den frühen Neunzigern zu sehen, den er gemeinsam mit der ägyptischen Dokumentarfilmerin Ateyyat Al Abnoudy realisierte. Während Sharrifes Soloarbeiten von seinen malerischen Wurzeln und der lebenslangen Beschäftigung mit arabischer Dichtung geprägt sind, steht im Kern seines Gesamtschaffens die Erfahrung des Exils.

"Tigers Are Better Looking" (1975) ist ein Studentenfilm, den Shariffe während seiner Zeit an der National Film School in London drehte (kleiner Ausschnitt bei Youtube). Angelehnt an die gleichnamige Kurzgeschichte von Jean Rhys, worin die auf der Insel Dominica geborene Schriftstellerin einen unbarmherzig fremdelnden Blick auf das kleinkarierte Dasein der Engländer wirft, bebildert Shariffe zwei Tage im Leben eines nicht näher identifizierten Exilanten in der britischen Hauptstadt. Spielszenen, die Phrasen und Erzählmotive aus der Vorlage aufgreifen, sind versetzt mit dokumentarischen Eindrücken von der Banalität des Bösen im imperialen Zentrum. Unter der Oberfläche lauern überall Raubtiere, bereit zum Sprung - but tigers are better looking… Die Atmosphäre latenter Bedrohung kristallisiert sich im Bild der jubelnden Massen vorm Buckingham Palace anlässlich des silbernen Thronjubiläums von Elizabeth II. Das Wort jubilee echot durch Rhys Erzählung wie ein Verdammungsurteil; den Protagonisten, als Journalist von Berufs wegen sensibilisiert für Flow und Phrasierung, interessiert es aber auch in seiner lyrischen Qualität. Shariffes Adaption macht sich die formale Reflexivität der Vorlage zu eigen; an die Stelle narrativer Auflösung tritt die Reimform. Das Ende gleicht dem Anfang: Von dieser Insel gibt es kein Entkommen.

Wie viele afrikanische Filmemacher wandte sich Shariffe dem Kino zu in der Hoffnung, damit ein größeres Publikum zu erreichen. Auch wenn sein Werk recht eindeutig auf der Seite des Autoren- und Experimentalfilms zu liegen kommt, muss man diese Einordnung doch verkomplizieren. Dies gilt noch mehr mit Blick auf den sudanesischen Kontext, dem es entstammt. Nach seinem Studium in London stand Shariffe eine Weile der Filmabteilung des sudanesischen Kulturministeriums vor, wo sich in den 1970er und 80er Jahren, bis zur Machtergreifung Omar al-Baschirs, unter dem Deckmantel der Werbung für öffentliche Institutionen eine experimentelle Filmbewegung formierte, die sich gleichzeitig als eine Art von Volkskino verstand (siehe dazu auch die jüngst erschienene DVD-Veröffentlichung des Arsenal zur Sudanese Film Group). "The Dislocation of Amber" (1979, kleiner Ausschnitt bei Youtube), produziert von demselben Kulturministerium, gehört in diesen Zusammenhang. Es ist ein Filmpoem über die Inselstadt Suakin an der Küste des Roten Meers. Im Mittelalter ein Handelszentrum und eine Hochburg des Luxus, liegt die aus Korallen gebaute Altstadt inzwischen in Ruinen. Inmitten der Überbleibsel einstigen Ruhms arrangiert Shariffe allegorische Figuren: die reicht betuchte Frau; der osmanische Funktionär; die schwarzen Sklaven in Ketten, die ihrer Ausfahrt harren. Allein ihre Gesten beleben die ansonsten reglosen, malerischen Stadtansichten. Zweimal wird das Bild opak: Erst breitet sich ein Schleier über die die Linse, dann trüben Wassertropfen den Blick, als ob das alles umgebende Meer nicht nur die Stadt, sondern auch ihr Bildnis reklamierte.

Bild aus "The Dislocation of Amber"


"Diary in Exile" (1993), gefilmt in Kairo vier Jahre nach dem Coup, der al-Baschirs "Revolutionären Kommandorat zur Errettung der Nation" an die Macht brachte, spricht für jene ungefähr zwei Millionen geflohenen Sudanesen, die sich (laut einer eingeblendeten Zeitungsschlagzeile) im benachbarten Ägypten von nichts als Tee ernährten - und von nichts als Politik redeten. Von Politikern und Professoren bis zum Straßenverkäufer zeichnet der Film ein Porträt dieser ungleichen Gemeinschaft und ihrer geteilten Exilerfahrung. Sie geben Zeugnis von Folter, von der Suspendierung des Rechtsstaats, der Verfolgung von Journalisten, der Schließung der Kinos in Sudan. Niemand glaubt, dass das Regime sich wird halten können. Tatsächlich sollte al-Baschirs Herrschaft fast dreißig Jahre währen. Shariffe, selbst Teil der Exil-Community, deren Sehnen und Warten er hier verewigt, war es nicht vergönnt, den Sturz des Diktators im April vergangenen Jahres mitzuerleben. Er verstarb Anfang 2005.

Allen, die sich noch weiter einsehen möchten in Hussein Shariffes Bilderwelten, sei außerdem der von Tamer El Said edierte Mitschnitt eines Panels im Rahmen des letztjährigen Forum Expanded ans Herz gelegt, das den unvollendeten Film "Dust and Rubies" zum Gegenstand hatte. El Said, Shariffes Tochter und andere Diskussionsteilnehmer haben aus den Rushes, die von dem Projekt bleiben, je eigene Montagen zusammengestellt, die als Möglichkeitsformen des von Shariffe Intendierten lesbar werden, in ihrer Aufmerksamkeit für Zufälle und Unfertiges aber auch über die Absichten des Künstlers hinausweisen oder, wie in Stefanie Schulte Strathaus' Beitrag, der sich bewusst als "Diebstahl" ausweist, auf die Versuchungen (hier: eines westlichen Exotismus) rekurrieren, mit denen das Rohmaterial die posthumen Aneigner lockt. Das Problem der Aneignung ist übrigens dem Material selbst eingeschrieben: Weil im Exil gefilmt, müssen ägyptische Landschaften für sudanesische einstehen. Das Ergebnis hält uns in Balance zwischen der mesmerischen Attraktion der (oft repetitiven) Rushes und dem Begehren, den Film so zu sehen, wie er Shariffe vorgeschwebt sein mochte, als ein von sudanesischer Dichtkunst inspirierter Bilderreigen in Primärfarben, der von Ferne an Sergei Paradschanow erinnert. "Of Dust and Rubies, A Film on Suspension", so heißt dieser Bonustrack, der uns bis zuletzt in der Schwebe hält.

Nikolaus Perneczky

Die Filme von Hussein Shariffe auf der Streamingplattform Arsenal 3, wo man sie für 11 Euro einen Monat lang sehen kann.

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Auf der einen Seite ist "The Undoing" ein klassisches Guilty Pleasure. Ein Mordfall im Milieu der Reichen und Schönen; eine Ausstattungsparty und ein Pastiche, in dem New York mit der Madison und der Park Avenue mehr oder weniger kongruent und die Parodie nie weiter als zwei Schritte weit entfernt ist. Die Hauptrollen (Nicole Kidman, Hugh Grant) sind exklusiv besetzt, die Nebenrollen (Édgar Ramírez, Noma Dumezweni, Douglas Hodge) exzellent; Donald Sutherland hat ein paar Auftritte als alter Grande der Upper East Side, und seine Großaufnahme ("You don't want ugly? You don't know ugly") ist ein Moment für die Bestenlisten des Jahres 2020.

Auf der anderen Seite, die wohl als die dunkle bezeichnet werden muss, ist "The Undoing" eine Serie über eine kleine Gruppe von Personen, die ein ernsthaftes Problem und Zugriff auf sehr, sehr viel Geld haben. Da es sich außerdem um altes Geld handelt, ist ihr Anspruchsdenken atemberaubend, selbst wenn sie bald nicht mehr genau formulieren können, worin der Anspruch tatsächlich besteht. Glück ist spätestens ab der zweiten Episode keine Option mehr; Recht ist eine Frage der Beweislage und des Budgets; die Wahrheit, von der immer wieder einmal die Rede ist, will in dieser Geschichte eigentlich niemand; und dass die Welt, die aus den Fugen geraten ist, nach einem Freispruch nicht heller wird, macht die Anwältin (Noma Dumezweni) gleich bei der ersten Begegnung deutlich; "I can't wave a wand".

"I know", sagt Grace Fraser (Nicole Kidman); und anstatt davon auszugehen, dass sie es zwar sagt, aber dennoch nicht weiß, oder aber weiß und das Wissen nicht erträgt, spricht manches dafür, Grace als eine Figur zu betrachten, die herausfinden will, wie viel vom Wissen übrig bleibt, wenn man nur entschlossen genug dagegen angeht. Der Rest ist Handlung; Aktivismus, der mit altem Geld gesponsert wird. Viel Hin und Her zwischen den zwei Seiten des Central Parks, zwischen zwei Wohnungen und einigen Institutionen, die sich wie auf dem Karree eines Spielbretts sortieren. Unterredungen finden statt, Zweifel gibt es ohnehin. Manchmal wird es einen Moment etwas hässlich oder etwas bedrohlich; und wenn die Anwältin sagt: "The evidence is not good", wiederholt sie nur, was allen längst bekannt ist.



Die Kamera (Anthony Dod Mantle) folgt Grace Fraser durch die Gespräche, Ortswechsel, Aussetzer als einem Wesen, das nicht ganz von dieser Welt ist und in keinem Augenblick anders betrachtet werden sollte. Eine plastinierte Schönheit, deren Garderobe eine erstaunliche Anzahl von Artikeln in Zeitschriften von Vogue bis Variety getriggert hat, und deren Auftritte durch den Plot und das etwas müde Mystery nur begrenzt eingehegt werden können. Eine irritierende Erscheinung, hochgradig artifiziell, sorgfältig staffiert und optisch resistent gegen die Auflösungsprozesse, die "The Undoing" im Verlauf von sechs Episoden anzettelt oder behauptet. Was auch immer hier aus der Fasson gerät (ein Familiennnarrativ, ein Lebensentwurf?), die Hauptfigur bleibt dabei intakt und durchaus unheimlicher als derjenige, mit dessen Geheimnissen die Serie vorgeblich befasst ist.

Aus der etwas eindimensionalen Investigations- und Emanzipationsgeschichte, die Jean Hanff Korelitz in ihrem Roman "You Should Have Known" erzählt, haben David E. Kelley (Buch; "Big Little Lies") und Susanne Bier (Regie; "The Night Manager") etwas anderes gemacht. Ein Showcase, ja; aber auch eine Horrorgeschichte, sofern Glam, Garderobe, Locations hier als Elemente einer Welt begriffen werden, die die Anspruchshaltung so absolut setzt, dass sie sich von Fall zu Fall verselbständigt. Nicht in dem Verbrechen, für das ein Schuldiger gefunden werden muss. Sondern in dem Unwillen, die Gestaltungsmacht an denjenigen abzugeben, der das Verbrechen verübt hat.

Stefanie Diekmann

The Undoing - USA 2020 - Regie: Susanne Bier - Creator: David E. Kelley - Darsteller: Nicole Kidman, Hugh Grant, Édgar Ramírez, Noah Jupe, Lily Rabe - Laufzeit: 6 Episoden, insgesamt ca 360 Minuten. "The Undoing" auf justwatch.de.