Post aus Brasilien

Hoffnung auf den Erlöser

Von Andreas Weiser
25.03.2019. Konsum statt Landreform, Turnschuhe statt Bildung - Lulas Strategie der Camouflage in Brasilien ist nach der Wahl Jair Bolsonaros endgültig gescheitert. Da hilft auch die trotzig geballte Faust nicht mehr weiter, zumal auch die Linke der endemischen Korruption keinen Einhalt gebieten konnte. Brasilien ist gespalten. Ein tiefer, schier unüberbrückbarer Graben hat die Bevölkerung des Landes geteilt. Die kleinere Hälfte trägt rot, die andere "grün und gelb".
Der Film ist vorbei, der Abspann gelaufen. Man will gerade aufstehen, um das vorletzte Bild von "Marighella", dem Regiedebüt des brasilianischen Schauspielers Wagner Moura (Berlinalekritik im Perlentaucher), zu verdauen - eine der letzten überlebenden revolutionären Kämpferinnen (man könnte auch sagen: Terroristinnen) im aussichtslosen Kampf gegen die brasilianische Militärdiktatur der sechziger und siebziger Jahre geht in eine Kirche, holt dort aus einem Versteck eine Maschinenpistole und reckt sie trotzig in die Höhe. Ein Bild, das unweigerlich an die gereckte Faust Rudi Dutschkes am Grab von Holger Meins und seinen Ausruf "Holger, der Kampf geht weiter" denken lässt - da sieht man plötzlich die im Kreis versammelte Schauspielertruppe als Privatpersonen zusammen mit ihrem Regisseur voller Inbrunst und mit Tränen in den Augen auf der eben noch blutigen Leinwand die brasilianische Nationalhymne singen. Ein verwirrendes Bild zwischen nationalistischem Revolutionskitsch und rührender Emotionalität. Für einen Deutschen ziemlich befremdlich. Für den Teil der Brasilianer, die sich "Lula Livre" auf ihre T Shirts gedruckt haben, also Brasiliens Linke, Ausdruck einer zur Zeit verzweifelten Liebe zu ihrem Land. Dieser Tage für den wohl weit größeren Teil der Brasilianer allerdings ein Motiv, diese Truppe den roten Teufeln zuzuordnen.

Gemeint sind hier nicht etwa die Fans von Liverpool, sondern die Truppen des Leibhaftigen, in Brasilien zur Zeit pauschal "Kommunisten", "Schwule" oder auch "Kinderschänder" genannt. Brasilien ist gespalten. Ein tiefer, schier unüberbrückbarer Graben hat die Bevölkerung des Landes geteilt. Die kleinere Hälfte trägt rot, die andere "grün und gelb". Es ist ein tiefer Riss, der durch Familien und quer zu den meisten sozialen Schichten verläuft. Nach 14 Jahren PT (Partido dos Trabalhadores) hat ein großer Teil der Bevölkerung genug. Er fühlt sich getäuscht, getäuscht von einem Versprechen auf eine goldene Zukunft für das "von Gott gesegnete" Land. Und getäuscht von seinem Verkünder, der 2002 nach etlichen Versuchen endlich zum Präsidenten der jungen Demokratie gewählt worden war: Luiz Inácio Lula da Silva, genannt Lula. Metallarbeiter und Gewerkschafter von ziemlich weit unten. Einer, der ihre Sprache spricht. Einfach, nicht immer grammatisch richtig, aber emotional und überaus charismatisch. Einer aus dem Volk. Endlich, nachdem auch in der jungen Demokratie immer nur die Vertreter alteingesessener Familien der Großgrundbesitzer und weißen Oberschicht das Sagen hatten.

Lula wurde gefeiert wie ein Heiliger, ein Erlöser. Eine sehr brasilianische Eigenart. Wenn nichts mehr geht oder in Zeiten des Umbruchs muss ein Erlöser her. Ob es Ende des 19. Jahrhunderts im brasilianischen Nordosten der religiös fanatische Wanderprediger, "Antônio Conselheiro", "der Ratgeber" war, der einen Krieg gegen die gerade gegründete Republik führte und natürlich verlor - einen Krieg gegen eine Republik, die die Gläubigen für ein Produkt des Teufels hielten, den es zu bekämpfen galt, um dann nach der prophezeiten Apokalypse gereinigt ins ewige Reich einziehen zu können. Ob es bis Mitte des 20. Jahrhunderts der langjährige und vom Volk verehrte Diktator Getulio Vargas war, ob es zur nächsten Jahrhundertwende der charismatische Lula oder nun der rechtsextreme Bolsonaro ist, den sie nur "o mito", "den Mythos" nennen und der von seinen Anhängern mit fast religiöser Innbrunst verehrt wird. Glaube, Emotion und die Hoffnung auf den Erlöser ist in Brasilien ein seit je her sehr wirkmächtiges Triumvirat. Beliebt bei Links wie Rechts.

Auf die totale Begeisterung folgt so sicher wie das Amen in der Kirche und für Brasilien vielleicht zutreffender, der Aschermittwoch (quarta-feira de sinzas) auf den Karneval, meist eine profunde Enttäuschung. Auch das traumatische "sete a um" (das legendäre 7 zu 1 bei der WM 2014) ist ein gutes Beispiel für dieses tief in der brasilianischen Seele verankerte Phänomen. Liebe und Verehrung kehrt sich dann schnell um in sein Gegenteil. Nun dominieren (Selbst-)Hass und Verachtung.

Lula und seine PT sind, trotz all ihrer unbestreitbaren Verdienste, letztendlich an ihren eigenen Ansprüchen und an ihrem anfänglichen Erfolg gescheitert. Gut 40 Millionen Menschen aus der völligen Verarmung zu holen und der Versuch vielen, allein schon wegen ihrer Hautfarbe Marginalisierten den Weg in höhere und weiterführende Ausbildungen zu ermöglichen, war und ist eine weltweit anerkannte, enorme Leistung. Wobei man aber hauptsächlich die universitäre Ausbildung für die bisher marginalisierten Schichten zu öffnen verstand, die Ausbildung an den Grundschulen, die "educação básica" aber seltsamerweise weiterhin vernachlässigte.

Bei aller Euphorie, die Armut zu bekämpfen und der ungebildeten und teils immer noch in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen lebenden, meist farbigen Unterschicht, zu einem kleinen Wohlstand zu verhelfen und ihre Rechte zu stärken, versäumte man es allerdings, die Infrastruktur des Landes zeitgerecht zu modernisieren. Ob des mehr als berechtigten Wunsches, dass die abgehängte, enorm große Unterschicht erstmals in der Geschichte des Landes auch als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrzunehmen und zu behandeln sei, vernachlässigte die Linke und ihre erstmals wirkmächtige Stimme, die PT, die tiefer liegenden strukturellen Probleme des Landes. Die Abhängigkeit von den riesigen Rohstoffvorkommen und deren Export in die Industrieländer wurde sträflich übersehen. Zwar gelang es unter Lula, die ausländischen Schulden zu tilgen - nicht zuletzt aufgrund der Politik des Soziologen und Sozialdemokraten Fernando Henrique Cardoso, dem es als Finanzminister unter der Präsidentschaft von Itamar Franco mit seinem "Plano Real" gelungen war, die Hyperinflation als Folge des Versagens der Militärdiktatur zu beenden.

Die Abhängigkeit des Staates von den traditionellen oligarchischen Strukturen des brasilianischen Wirtschaftssystems (Agro- Bergbau- und Bauindustrie) wurde aber nicht beseitigt. Es gelang nicht, den industriellen Sektor, der im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern durchaus von Bedeutung ist, weiter zu entwickeln. Im Gegenteil. Am Ende von Dilmas Präsidentschaft kam das wenige Jahre zuvor noch große Wirtschaftswachstum u.a. als Folge des Einbruchs der Rohstoffpreise zum Erliegen. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen ging stark zurück. Milliarden Dollar wurden lieber in ausländischen Steueroasen deponiert statt sie in heimische Industrien zu investieren. Auch eine Folge der Zinspolitik unter Dilma, die ab August 2011 die bis dato sehr hohen Zentralbankzinsraten deutlich absenken ließ.

Nach wie vor ist die brasilianische Wirtschaft also besonders abhängig vom Export von Rohstoffen. Ungefähr 10 Prozent Weltmarktanteil bei der Produktion von Privatjets durch den brasilianische Flugzeughersteller Embraer, immerhin viertgrößter Flugzeughersteller der Welt, und die Produktion des größten lateinamerikanischen Busherstellers "Marcopolo" reichen nicht aus, um Brasiliens starke Defizite bei innovativer Industrieproduktion ausgleichen zu können. (Mehr zur brasilianischen Wirtschaftspolitik unter Lula und Rousseff hier und hier)

So fütterten vor allem der Export der Rohstoffe und der Produkte der Agroindustrie die Sozialreformen der PT. Solange auch die Eliten davon profitieren konnten, machten diese mit. Ein gefährlicher Deal. Die dringend gebotene Bodenreform wurde - zum Teil bedingt durch die Tücken des präsidialdemokratischen Systems - ein ums andere mal verschoben. Allein den Konsum der unteren Schichten der Bevölkerung anzukurbeln und dies hauptsächlich über den Verkauf der Bodenschätze und ins Land geholtes internationales Kapital zu finanzieren, also im Grunde genommen die Entwicklungspolitik der gescheiterten und in der Schuldenfalle versunkenen Militärregierung fortzusetzen, erwies sich als eine zum Teil selbst gestellte Falle. Paradebeispiel für solch eine letztendlich zerstörerische Wirtschaftspolitik ist ein von Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff vorangetriebenes Lieblingsprojekt: der Megastaudamm von Belo Monte am Rio Xingu im amazonischen Regenwald, samt des darauf folgenden ökologischen und sozialen Desasters. Er ist Teil eines Masterplans, der mittlerweile ganz Amazonien, beziehungsweise die größten und wichtigsten Flüsse mit Staudämmen überzogen hat. Mit heftigen Folgen für das gesamte amazonische Ökosystem.

Mit dem weltweiten Absturz der Rohstoffpreise ab 2011 ging dem brasilianischen Konsumboom dann schnell die Puste aus. Und damit war der Deal mit den Eliten geplatzt, die PT-Regierung zum Abschuss freigegeben. Der erfolgte dann mit einem perfide eingefädelten institutionellen Putsch, dem berühmt berüchtigten Impeachmentverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Präsidentin Dilma Rousseff. Eine Mischung aus tatsächlicher Korruption und erfundenen Vorwürfen machte die PT zum Hassobjekt einer Vielzahl brasilianischer Bürger (bei weitem nicht nur der Ober- und Mittelschicht), entmachtete Rousseff und brachte Ex-Präsident Lula schließlich ins Gefängnis, was ihm (durchaus intendiert) endgültig die Chance auf eine mögliche Wiederwahl nehmen sollte. Zudem verführte die höchst ineffektive und komplizierte brasilianische Präsidialdemokratie eben auch die PT dazu, sich im Sumpf einer virulenten und ja, gesellschaftsimmanenten Korruptionsmaschinerie zu verlieren und damit kräftig zur Selbstvernichtung mit beizutragen. Ordentlich befeuert durch ihre eigentlich "natürlichen" Gegenspieler, die sozialen und ökonomischen Eliten des Landes, mit denen sie sich in der Regierung aber verbündet hatte.

Wie die brillante brasilianische Journalistin Eliane Brum in einem Beitrag vom 11.4. 2018 in El Pais (von der Böll-Stiftung übersetzt) konstatiert, erklärt sich der enorme Hass eines großen Teils der Bevölkerung auf den ehemaligen Volkstribun Lula auch dadurch, dass er, der Charismatiker lediglich der charmante Vertreter einer Illusion war. Der Illusion, dass man die ausgebeutete Unterschicht mit der noch in kolonialen Verhaltensmustern feststeckenden Ober- und Mittelschicht versöhnen könne, indem man die Reichen noch reicher werden lässt und die Armen in einen konsumorientierten, zumindest bescheidenen Wohlstand führt. Also für den Besitz eines Paar Turnschuhe wenigstens nicht mehr gemordet werden muss. Eine Strategie der Camouflage, die an den strukturellen Gegensätzen einer zutiefst rassistischen, gewalttätigen und postfeudalen Gesellschaft im Grunde nichts änderte, weil sie die entscheidenden Privilegien nicht antastete, stattdessen den öffentlichen Schulterschluss mit den Eliten suchte. Eine Strategie, die in dem Augenblick versagen musste, als Schminke und Gleitmittel nicht mehr bezahlt werden konnten. "Der Magier muss wissen, dass seine Magie nur Tricks sind und nichts mit der Realität zu tun haben."

Diese Trickserei aber ist immanenter Bestandteil der brasilianischen Gesellschaft. So gehört das "Jeitinho" zum brasilianischen Alltag wie der Gartenzwerg zu deutschen Kleingärten oder die schlechte Laune der Busfahrer zu Berlin. Das Positive daran: irgendwie geht immer irgendwas. Improvisationskunst auf höchstem Kreativniveau. Allerdings mit einer für das geregelte Funktionieren eines modernen Staates höchst problematischen Grundregel, die da lautet: "Eine Hand wäscht die andere", wobei als Seife u.a. die inoffizielle Weiterleitung von Geldscheinen fungiert. Eine Praxis, die bis in die letzten Ecken des brasilianischen Alltagslebens reicht. Der "Lava-Jato-Skandal" rund um den halbstaatlichen Mineralölkonzern Petrobras, die Spitze des Eisbergs, gab letztendlich dem bereits porösen Skelett der PT-Regierung den Rest, wobei führende Politiker des Koalitionspartners um den Vizepräsidenten unter Ex-Präsidentin Dilma Rousseff, Michel Temer (PMDP), noch erheblich stärker und offensichtlicher in den Skandal verwickelt waren und sind. Es aber machiavellistisch perfekt verstanden, das bereits auch auf sie gerichtete Messer umzudrehen und in den Rücken ihres nie akzeptierten Partners zu rammen.

Ein Grundproblem der brasilianischen Präsidialdemokratie ist die Tatsache, dass es keine 5-Prozent-Hürde und keinen Fraktionszwang im Parlament gibt. Außerdem können Abgeordnete während einer Legislaturperiode ohne Probleme die Parteizugehörigkeit wechseln, ohne ihren Parlamentssitz zu verlieren. So war der jetzige Präsident Jair Bolsonaro in seinen 28 Jahren als parlamentarischer Hinterbänkler Mitglied in acht verschiedenen Parteien und trat erst im Jahre 2018, dem Jahr seiner Wahl, der winzigen, eigentlich völlig unbedeutenden PSL bei. Das brasilianische Parteiensystem hat mit dem unseren so gut wie nichts zu tun. Parteien werden nicht zuletzt gegründet, um den Kandidaten, die sich zur Wahl stellen, die Aussicht auf den lukrativen Posten eines Parlamentariers zu ermöglichen. Ein Ergebnis davon: das brasilianische Parlament umfasst zur Zeit sage und schreibe 30 Parteien.

Lula war zwar 2002 zum Präsidenten der Republik gewählt worden, seine Partei, die PT, im Parlament in Brasilia allerdings, wie alle bisher an Regierungen beteiligten Parteien, immer auf Koalitionspartner angewiesen, da sie nie über die absolute Mehrheit verfügte. Um also die Stimmen von Abgeordneten für ihre Gesetzesvorhaben zu kaufen, wurden auch von den PT-Oberen monatliche Schmiergelder bezahlt. Eine Praxis, die bereits 2005 als "mensalão"-Skandal (mensalão = monatliche Zahlungen) der PT schwer zu schaffen machte. Parallel dazu wurden über Jahre zahlreiche große staatliche Aufträge an große private Konzerne wie den Bauriesen Odebrecht über Bestechungsgelder vergeben, was u.a. dem halbstaatlichen Petrobraskonzern, dessen Aufsichtsratsmitglied Rousseff von 2003 bis 2010 war, Milliarden Verluste bescherte. Systematisch wurden von Petrobras mit großen privaten Unternehmen wie eben Odebrecht wesentlich überteuerte Aufträge über zum Beispiel den Bau von Raffinerien abgeschlossen. Teile dieser Gelder flossen dann unter anderem in Wahlkampagnen der beteiligten Parteien, darunter eben auch der PT, oder blieben bei den beteiligten mafiösen Unternehmern und Politikern hängen. Bekannt wurde er als "Lava Jato Skandal", der nahezu in alle lateinamerikanischen Regierungen hineinreicht und zahlreiche Regierungsmitglieder, Unternehmer und Regierungschefs ins Gefängnis brachte und weiterhin bringt.

Auch dass der Volkstribun Lula mit internen Gegnern wie seiner ehemaligen Umweltministerin Marina Silva nicht gerade zimperlich umging und sie gezielt mit Schmutzkampagnen überziehen ließ, ist zumindest Insidern, die an solchen Aktionen beteiligt waren und sich mittlerweile dafür schämen, mehr als bewusst.

Für die Linke war es schon immer schwer, sich den eigenen Fehlern zu stellen. Der brasilianischen Linken - hin und her gerissen zwischen linkem Nationalismus und dem Inferioritätsgefühl gegenüber dem insgeheim bewunderten und doch so gehassten großen nördlichen Bruder USA, wobei die ständig steigende Einflußnahme Chinas, wenn es um die Rohstoffe Brasiliens geht, mitlerweile die weit größere Herausorderung für das Land ist - fällt dies noch schwerer. Dazu gesellt sich der permanente Druck einer immer noch stark von Kolonialismus, Rassismus und religiöser Bigotterie geprägten Gesellschaft. Außerdem wurden, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, die Folterer der Militärdiktatur nie vor Gericht gestellt, das Trauma der Militärdiktatur also nie aufgearbeitet. Beste Voraussetzung für beide Seiten, um Geschichte zu verklären.

Um auch emotional besser verstehen zu können, wie es dazu kommen konnte, dass ein rechtsextremer Hinterbänkler, der gemäß seinem ideologischen Vorbild, dem in den USA lebenden Pseudophilosophen Olavo de Carvalho, glaubt, die Erde sei eine Scheibe und öffentlich den brutalsten Folterern der ehemaligen Militärdiktatur huldigt, nun zum Präsident der größten Volkswirtschaft Südamerikas gewählt wurde und das mit einem nicht geringen Stimmenanteil der Ärmsten der Armen, muss man dort hingehen, wo es weh tut. In die Favelas dieser Republik.

Wenige Tage vor der Wahl Bolsonaros bin ich dort, tief in der Nordzone Rios. Eine Favela dicht an der Avenida Brasil, der langen, löcherig schmutzigen Schnellstraße durchs Elend der "Cidade Maravilhosa", der "wunderbaren Stadt". Von hier aus braucht man mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwei bis drei Stunden zu den schönen Stränden der Südzone. Hierhin traut sich kein Tourist. Aus gutem Grund. Die Favela, die ich besuche, befindet sich, wie die Leute hier sagen, "im Krieg". Ich besuche einen Freund, Marcos, knapp 50, Vater von vier Kindern, Gelegenheitsarbeiter, Rapper und Freizeitphilosoph. Er hasst Bolsonaro, hält aber auch von der PT nicht viel. In seinen Augen sind er und seinesgleichen immer und von allen verraten worden. Dass Lula die WM und die Olympischen Spiele nach Rio geholt hat, um der Welt vorzuführen, wie großartig Brasilien doch ist; und nicht zuletzt dadurch Rio de Janeiro internationalen Verwertungsgesellschaften zum Fraß vorgeworfen und auf Jahre hinaus in die Pleite getrieben hat, kann er ihm nicht verzeihen. Er predigt seit Jahren in seinen im Internet verbreiteten Kommentaren, dass "educação", also "Bildung und Erziehung", das A und O eines funktionierenden Staates sein müsste, dass es an einer vernünftigen Gesundheitsversorgung für sich und seine Angehörigen fehlt und dass sie seit jeher, auch unter der PT Regierung, Opfer schlecht bezahlter und somit korrupter Polizisten sind. Letztendlich ohne Erfolg. Wir stehen vor einer Bäckerei in der Nähe seines Favelapalastes, einer für die Gegend so typischen, selbst errichteten zweistöckigen Betonbehausung. "Hier" er zeigt auf die Treppe vor mir, "lag vor ein paar Wochen noch ein abgeschlagener Kopf. Den ganzen Tag. Keiner sagte was. Alle taten so, als wäre nichts." Der Kopf, das war einer aus der Nachbarfavela. Die Gang von dort will dem "Comando Vermelho" ("CV"), der hier das Sagen hat, das Gebiet wegnehmen und hier selbst Drogen verkaufen. Der Kopf war die Antwort des "CV". "Na ja, ist halt Krieg."

Zurück in der Betonhütte geht es um die Anhänger von Jair Messias Bolsonaro - "o mito" wie seine Fans ihn nennen, " a coisa", "das Ding" wie er für seine Gegner heißt. Er wird viele Stimmen auch von den Ärmsten der Armen bekommen. "Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber." Marcos hat, als er das sagt, ein leicht zynisches Lächeln im Gesicht. Er gehört nicht zu den Kälbern, wird deshalb auch von vielen ehemaligen Freunden gemieden.

Sein Bruder, dunkelhäutiger als er selbst, ehemaliger Drogendealer des CV, nun Anhänger einer der vielen evangelikalen Freikirchen, kokst noch immer und ist doch Bolsonaro-Fan. Er würde am liebsten alle "Kommunisten" in die Hölle schicken und wünscht dem offen schwulen und linken Abgeordneten Jean Wyllys, Parteigenosse der letztes Jahr auf offener Straße ermordeten Abgeordneten Marielle Franco von der PSOL (einer linken Abspaltung der PT), ebenfalls den Tod. Der perfekte Platz für solche Hasstiraden und einer der wesentlichen medialen Faktoren für Bolsonaros finalen Sieg sind die sozialen Netzwerke. Sie treiben Menschen wie Jean Wyllys aus dem Land. Aus Angst um sein Leben hat er mittlerweile seinen Sitz im brasilianischen Kongress aufgegeben und ist nach Berlin geflüchtet.

Auch Marielle Franco war nicht irgendein Opfer. Eine politische Aktivistin, die sich gegen die wachsende Macht der Milicias, der Todeschwadrone, formiert aus Ex- und Noch-Polizisten mit offensichtlichen und nachweisbaren Beziehungen zur derzeit herrschenden Clique um Bolsonaro, gewendet hatte. Diese Milicias breiten sich immer mehr in den Favelas von Rio de Janeiro aus, vertreiben die bis dato herrschenden Drogenbanden und beginnen, ihr eigenes Parallelreich aus Schutzgelderpressung und Mord zu errichten. Eine Mafia mit direkter Verbindung zu staatlichen Organisationen. In Zusammenhang mit den rechtsextremen, ja präfaschistischen Ideen eines Jair Bolsonaro und seiner Anhänger eine beängstigende Entwicklung. Drogenkrimineller Terror wird ersetzt durch sich als Ordnungsfaktor aufspielende Killer- und Erpresserbanden mit direkten Verbindungen zur staatlichen Exekutive. Pest oder Cholera, dazwischen darf man an diesen Orten wählen. Marielle Franco hat das öffentlich angeklagt und musste sterben. Sich das alles vor Augen führend, erscheint Wagner Mouras Revolutionskitsch verständlicher, wenn auch nicht richtiger.

Marcos wird sich dem Druck, der von allen Seiten auf ihm lastet - ob vom Staat, für den er als "favelado" ein potentieller Gangster ist, noch von Teilen seines sozialen Umfelds, für die er ein "Kommunist", also des Teufels ist, nicht beugen. Aber er hat Angst um sich und um seine Kinder. "Wenn Bolsonaro gewinnt, wird er versuchen uns zu vernichten. Mit Drohnen, Scharfschützen und allem was dazu gehört".

Die Dämmerung hat eingesetzt. Zeit zu gehen. Ich rufe per Handy ein Ubertaxi. Keiner kommt, als sie erfahren, von wo sie mich abholen müssen. Erst nach einigem Suchen entdecken wir einen Block von Marcos Haus entfernt ein Taxi, das vor einer Bäckerei parkt. Der Fahrer, ein hagerer, ausgemergelter Mann Mitte 50 nimmt mich mit. Südzone. Ein gutes Geschäft. Aber zuerst müssen wir zu ihm nach Hause. Es ist ganz in der Nähe. Sein Sohn wartet dort. Auf dem kurzen Weg dorthin erklärt er mir, dass ich gut daran täte von hier sofort zu verschwinden. 100 Meter von hier finde gerade eine Versammlung von 50 bis 60 schwer bewaffneten Mitgliedern des "CV" statt. Sie bereiteten sich auf die Invasion der Nachbarfavela vor. "Gleich wird's hier laut" sagt er mit verkniffenem Gesicht. Wir sind bei ihm. Sein etwa 14 jähriger Sohn steht bereits an der Tür und wartet. "Hier nimm das Geld, geh in die Bäckerei, wir brauchen Brot. Und dann gehst du sofort wieder nach Hause und bleibst dort. Verstanden?" Und dann schärfer "Hast du gehört, was ich gesagt habe?" Ein leichtes Nicken die Antwort. Und weg ist der Kleine. Wir setzen unseren Weg in die Südzone fort. Die Fahrt wird circa eineinhalb Stunden dauern.

Mein Fahrer erklärt mir, dass ich beim nächsten mal auf keinen Fall ein Uber-Taxi für den Weg zurück in die Südzone nehmen soll. Das seien Amateure und mit ihrem Privatauto unterwegs. Wenn die überfallen werden, drücken sie aufs Gaspedal und versuchen zu entkommen. Ihr Wagen ist schließlich ihr einziges Betriebskapital. Da kommt es schon mal vor, dass der Beifahrer, in dem Fall der Fahrgast, erschossen wird. Also besser ein reguläres Taxi. Die wissen, was in einem solchen Fall zu tun ist: Sich ergeben. Besser pleite als tot. Wir sind eine Stunde unterwegs. Es ist bereits dunkel. Der Mann versucht nun schon zum dritten Mal, seinen Sohn per Handy zu erreichen. Vergeblich. Von Minute zu Minute wird er nervöser. "Ich habe ihm doch gesagt, das Handy mitzunehmen und auf jeden Fall sofort wieder nach Hause zu gehen und auf keinen Fall auf der Straße rumzuhängen." Die Minuten verstreichen. Kein Sohn. Der Mann wird wütend. "Wenn ich nach Hause komme, kann der was erleben, das versprech' ich Dir!" Man hört die Wut, aber was man spürt, ist nichts als Angst. Wen er übermorgen wählen wird? "Na, wen wohl? Ganz klar Bolsonaro. So geht's nicht weiter! Wir brauchen wieder Ordnung! Das ist doch kein Leben!" Ob er seinen Sohn wohl wieder gesehen hat?

Am nächsten Morgen ruft mich Marcos an. Ich solle froh sein, dass ich gestern Abend noch weggekommen bin. Eine knappe Stunde, nachdem ich ins Taxi gestiegen bin, sei die Schießerei losgegangen. Granaten seien geflogen. MP-Salven ohne Unterlass. Es habe die ganze Nacht bis in die Morgenstunden gedauert. Es herrsche halt Krieg. Am Tag darauf wird Bolsonaro zum Präsidenten gewählt. Der trotz einer zweifelhaften Beweislage vom nun zum Justizminister aufsteigenden Richter Sergio Moro inhaftierte Lula hat sich verzockt. Sein von ihm ins Rennen geschickter Kandidat Fernando Haddad, ehemaliger Bürgermeister von São Paulo, ein kluger, aber nicht sehr charismatischer Intellektueller, hatte keine Chance. Hätte Lula seine Partei zum Verzicht auf einen eigenen Kandidaten aufgefordert, wäre Bolsonaro ziemlich sicher nicht Präsident geworden, sondern dann wohl sein linksliberaler Gegenkandidat Ciro Gomes aus dem nordostbrasilianischen Bundesstaat Ceará. Ebenso wie Marina Silva ein ehemaliger Minister unter Lula. Doch Lulas Sturheit und Egozentrismus, sein Hegemoniebestreben, also als unumstrittener Anführer der Linken niemanden neben sich zu dulden, die viel zu späte Kehrtwende seines Ersatzes Haddad weg von seinem Mentor, der weitverbreitete Hass auf die PT, die geschickt eingefädelten, und diesen Hass noch anstachelnden über WhatsApp verbreiteten Fake-News-Kampagnen der Ultrarechten sowie die Macht der evangelikalen Kirchen mit ihrer TV-Propagandamaschine Rede Record, all das zusammen hat Brasilien nun ins vorletzte Jahrhundert zurück katapultiert.

Der Schlachtruf "Lula Livre" "Freiheit für Lula", filmischer Revolutionskitsch und trotzig geschmetterte Nationalhymnen mit Tränen in den Augen, rotem T-Shirt über der Brust und der geballten Faust in der Tasche oder auch in die Luft gereckt, werden daran erst einmal nichts ändern.

Bleibt zu hoffen, dass Bolsonaro, der sich schon nach ein paar Wochen x-mal lächerlich gemacht hat und sein wahres, ebenfalls durch und durch korruptes Gesicht bereits gezeigt hat, schneller scheitert als gedacht. Bleibt zu hoffen, dass sein Wirtschaftsminister Paulo Guedes, einer der letzten der Chicago Boys aus der neoliberalen Kaderschmiede Milton Friedmans, sein Unwesen in Brasilien nicht so weit treiben kann, wie seine Kollegen bereits in Chile unter Pinochet und auch noch danach. Und bleibt zu hoffen, dass trotz der martialischen Ankündigungen der amazonische Regenwald nicht abgeholzt und auch Marcos und seine Familie von den Scharfschützen und den Killern der Milicia nicht ins Visier genommen werden. Und dass dann, wenn auch dieser Albtraum sich irgendwann seinem Ende zuneigt, die Linke endlich einmal bereit ist, aus ihren Fehlern zu lernen.

Andreas Weiser


PS:

Eben schreibt mir eine alte Freundin aus Brasilien, ich hätte mit einem unbedachten Post über ihre politische Einstellung und ihre Abneigung bezüglich der PT ihr Leben völlig durcheinander gebracht. Ihre Universitätskarriere sei kaputt, sie würde von ihren Studenten angegriffen, alte Freunde hätten sich von ihr getrennt, sie würde nun von den Anhängern der PT beschimpft und gemobbt. Ihren Post Doc könne sie nicht mehr machen. Es sei schlimm. Ihr Leben hätte sich völlig verändert. Ich kann mich an nichts erinnern. Es kann sich nur um eine, für mich jedenfalls, harmlose Kritik an einer etwas anderen politischen Haltung einer guten Freundin gehandelt haben. Dass wenige Worte in Zeiten digitalen Kriegs Leben kaputt machen können ist fürchterlich. Dass das rechte Lager mit Hassmails, Mobbing und offener Aggression agiert, erwartet man. Dass das "linke" Lager dieselben Methoden anwendet, ist nicht hinnehmbar. Wer sich nicht mit seinem Gegner gleich machen will, sollte nicht dessen Methoden übernehmen.