Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Unser Kampf. Teil 4

14.02.2008.



In den Jahren 1967/68 ereignete sich in der alten Bundesrepublik ein doppelter Bruch zwischen den Generationen: Zum einen zwischen den (Nazi-)Eltern und deren Kindern, zum anderen zwischen der Generation Kohl und den unter gänzlich unterschiedlichen materiellen Verhältnissen in die Universitäten eingerückten, zwischen 1942 und 1952 geborenen Achtundsechzigern. Infolge der gegensätzlichen Grunderfahrungen mussten sie den Älteren als verwöhnte Profiteure der Prosperität erscheinen, als buchstäblich verrückt. Sosehr sie es versuchten, konnten sie die ihnen unter normalen Verhältnissen zustehende Rolle, zwischen Alt und Jung zu vermitteln, bald nicht mehr wahrnehmen. Erst die Sprachlosigkeit zwischen diesen beiden einander relativ nahen Altersgruppen erklärt das Desaster von 1968.

Neben der massiven Katastrophenerfahrung der Generation Kohl gilt es, einen wichtigen generationsgeschichtlichen Unterschied zu bedenken. Die Eltern der zwischen 1923 und 1933 geborenen Angehörigen dieser Generation hatten ihre Prägungen noch im Kaiserreich erfahren, die Väter hatten den Ersten Weltkrieg allenfalls teilweise mitgemacht, jedenfalls überlebt. Ihren beruflichen Aufstieg begannen sie während der Weimarer Jahre. Auch wenn sich diese Familien für den Nationalsozialismus begeistert hatten, konnten sie sich hernach verhältnismäßig ungebrochen auf die Werte rückbesinnen, die ihnen aus der Zeit vor 1933 vertraut waren.

Emotional frierende Kinder

Im Unterschied dazu waren die Eltern der Achtundsechziger zwischen 1910 und 1922 geboren worden. Nicht wenige hatten ihre Väter im Ersten Weltkrieg verloren oder nach 1918 als gebrochene und verhärtete Männer erlebt. Sie absolvierten ihre Schulzeit während der Weimarer Republik und begannen ihre beruflichen Karrieren im Dritten Reich. Grosso modo konnten die Eltern der Achtundsechziger 1945 deutlich weniger als die Eltern der Generation Kohl auf familiär vorgelebte Werte und Verhaltensnormen zurückgreifen.

Ende Mai 1968 erläuterte Rudolf Wildenmann die Befunde seiner demoskopischen Umfrage über die rebellierenden Studenten vor dem Kabinettsausschuss "Studentenunruhen". Er stellte fest, dass sie sich weder nach Geschlecht noch nach Studienort wesentlich unterschieden und interpretierte die Ergebnisse als "tiefgehende Auseinandersetzung mit der Vätergeneration". Besonders scharf falle die Kritik von Söhnen und Töchtern gut situierter Familien aus. Er brachte das Phänomen auf die Formel: "Viel Geld - wenig Nestwärme."(333)

Ich schlage eine andere, schon angedeutete Interpretation vor. Die materiell etablierten Eltern dieser Generation hatten den Nationalsozialismus als junge Männer und Frauen erlebt und sich zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn überwiegend mit dem Regime identifiziert, das ihnen Aufstiegschancen und Gestaltungsmöglichkeiten verhieß. Sie gehörten zur tragenden und besonders umworbenen Schicht. Nach 1945 verloren deshalb gerade sie - mehr als ältere oder in einfachen, bodenständigen Verhältnissen lebende Deutsche - den Halt. Ihr Wertefundament war schwach. Die Eltern der Achtundsechziger bildeten die Alters- und Sozialkohorte, der es besonders schwerfiel, sich die Maßstäbe des Rechts und der Moral wirklich zu eigen zu machen, die nun wieder in Kraft gesetzt wurden. Die ideelle Entwurzelung im Jahr 1945 führte zu einer spezifischen Starre und Orientierungslosigkeit. Daraus entstand der von Wildenmann beobachtete Mangel an Nestwärme für die späteren Achtundsechziger. Man kann sie als Generation der emotional frierenden Kinder bezeichnen.

Diese gerieten in den Nachkriegsjahren in eine psychosoziale Situation, die der ähnelte, die ihre zwischen 1910 und 1922 geborenen Eltern als Kinder nach der Niederlage von 1918 durchgemacht hatten. Mit anderen Worten: Die familiengeschichtlichen Folgeschäden aus zwei fürchterlichen Kriegen potenzierten sich in den Studenten von 1968.

Trotz aller Aggressivität richteten die Achtundsechziger einen großen Teil ihrer Energien auf die Gruppenprozesse, Recht- und Linkshabereien mit ihresgleichen. Ihre wild ausgreifenden Aktivitäten, ihre Selbsterfahrungs-, Gruppen- und Kindererziehungsexperimente können als (verzweifelter) Versuch gedeutet werden, fehlende zwischenmenschliche Wärme zu erlangen. Wer die Kommune-Berichte oder das 1971 ungemein erfolgreiche Buch "Kinderläden" heute liest, schüttelt den Kopf und ist sofort geneigt, die Texte in den Altpapiercontainer zu werfen. Liest man die Schriften gegen den Strich, nicht als politische Manifeste, sondern als Aussagen der Autoren über sich selbst, werden sie zu veritablen Quellen. Sie zeigen die Schreibenden psychisch nackt, auf der Suche nach Werten, an denen es ihnen offensichtlich mangelte.

Über den Minimalkonsens einer Kinderladengruppe heißt es da: "Wir waren uns einig darüber, dass alle bestehenden Erziehungsmodelle unsere Kinder zu ebenso deprimierten, autoritätsfixierten, unfreien Typen machen mussten, wie wir es selbst sind." Über die Kommune 1 räsoniert eine ehemalige Kommunardin: "Es ist wirklich schwer zu beschreiben, was diese Zeit der Kommune 1 ausgemacht hat, soll man sagen, ein Hauch von Zärtlichkeit? Gefühl, nicht allein zu sein? Sich nicht verstecken zu müssen? Keine Angst voreinander zu haben?" An anderer Stelle wird mitgeteilt, "dass 'normale' Eltern liebesunfähige Eltern sind".(334) Unvorstellbar, dass die Angehörigen der Generation Kohl so über ihre Familien gesprochen hätten.

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(333) Breiteneicher u.a., Kinderläden, S. 39, 118; Kommune 2, S. 69
(334) Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung, Protokoll über die 1. Arbeitssitzung (Sondersitzung) am 17./18.10.1968 in der Evangelischen Akademie Bad Boll; Barch B 106/54135/54133. Teilnehmer: Felix Messerschmid (Vorsitzender), Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis, Max Horkheimer, Helmut Krausnick, Eberhard Müller, Hans Rothfels, Helmut Kuhn