Vom Nachttisch geräumt

Im falschen Körper

Von Arno Widmann
14.05.2018. Färbt die Wasser von Bangkok mit akademischem Blut: Joaquim Maria Machado de Assis' Erzählband "Das babylonische Wörterbuch".
Vor fünf Jahren legte Marianne Gareis die Übersetzung des Romans "Dom Casmurro" von Joaquim Maria Machado de Assis (Rio de Janeiro 1839-1908) vor. Jetzt hat sie einen Band mit Erzählungen des Autors - ebenfalls bei Manesse - veröffentlicht. Curt Meyer-Clason hatte vor mehr als 20 Jahren bereits 21 Erzählungen von den 170 des Brasilianers in der Anderen Bibliothek herausgebracht. Wer damals noch nicht auf den Geschmack kam, der sollte es jetzt versuchen.

Ich las die erste Geschichte der neuen Sammlung von 13 Erzählungen im Zug auf der Rückfahrt von Dresden nach Berlin. In Dresden hatte ich mir die Ausstellung "Gewalt und Geschlecht" im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr angesehen. Sie stellt unter anderem das Stereotyp in Frage, die Männer kämen alle vom Mars und die Frauen von der Venus, Krieg und Frieden verteilten sich also auf die Geschlechter. In der 1884 erstmals erschienenen Erzählung "Die Akademien von Siam" geht es um eine Preisfrage der Akademien von Siam. "Warum gibt es Männer, die weiblich und Frauen, die männlich sind?" Es mag sein, dass die Akademiker das etwas anzüglich gemeint hatten. Vom schönen König Kalaphangko von Siam nämlich schreibt Machado de Assis: "Alles an ihm verströmte ausgesuchteste Weiblichkeit: Seine Augen waren liebevoll, die Stimme silberhell, seine Umgangsformen sanft und willfährig, und er hatte einen wahren Abscheu vor Waffen." Er hatte dreihundert Konkubinen, verbrachte aber seine Zeit nur mit der schönen Kinnara und mit Tanz, Komödien und Gesängen.

Wie in der Wissenschaft üblich kamen die Experten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Akademie erklärte: "Einige Seelen sind männlich, andere weiblich. Die beobachtete Anomalie ist eine Frage des falschen Körpers." Die drei anderen Akademien widersprachen heftig: "Die Seele ist geschlechtslos; mit der äußerlichen Unterscheidung hat sie nichts zu tun." Der Erzähler berichtet: "Dies genügte, um die Gassen und die Wasser von Bangkok mit akademischem Blut zu färben." Die Geschichte nimmt freilich eine ungeahnte Wendung, als die schöne Kinnara dem König vorschlägt, mit ihm zu tauschen. Seine Seele solle Platz nehmen in ihrem Körper und ihre in dem seinen. Das gelingt ohne Probleme. Die Seele der Frau erweist sich als deutlich männlicher als die des Mannes. Der König ist jetzt ein wirklicher Herrscher und findet jetzt auch Gefallen am Krieg.

Erzählt wird die Geschichte in jenem orientalisierenden Ton, den Antoine Galland in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts mit seiner Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht angeschlagen hatte. Machado de Assis ist noch anspielungsreicher, noch ironischer. Er hat seinen Spaß an der Vorstellung mit welchem Ernst sich die Wissenschaft darauf stürzt, Klarheit in das polymorph-perverse Geschlechtsleben - ja nicht nur unserer - unserer Spezies zu bringen. Man könnte es lesen als eine Parodie auf das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee von Magnus Hirschfeld und sein Interesse an den sexuellen Zwischenstufen. Wäre das nicht erst 1897 im weit entfernten Berlin gegründet worden. Aber das ist nur die erste Geschichte von "Das babylonische Wörterbuch".

Joaquim Maria Machado de Assis: Das babylonische Wörterbuch, aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Marianne Gareis und Melanie P. Grasser, Manesse Verlag, München 2018, Nachwort von Manfred Pfister, 250 Seiten, 20 Euro