Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2003. In der SZ erklärt Umberto Eco seinen Bombentrick. In der taz erklärt der Militärhistoriker Frederick Kagan den new American way of war. Die FR erklärt, warum Arnold Schwarzenegger die Wahlen gewonnen hat: weil er die Metrosexuellen mit ihrem inneren Hunnen versöhnt. Die NZZ erklärt den Senegal als Sonderfall islamischer Religiosität. Die FAZ erklärt, nicht über Jörg Friedrichs Band "Brandstätten" diskutieren zu wollen.

SZ, 24.10.2003

"Das Problem ist, dass die Opposition gegen Berlusconi, auch im Ausland, sich von einer Überzeugung leiten lässt, die falsch ist", schreibt Umberto Eco (mehr hier) zum System Berlusconi. "Nämlich vom Glauben, dass Berlusconi, weil er kein Staatsmann sei, sondern ein Geschäftsmann, dem es nur um das Wohlergehen seines Ladens geht, nicht merke, dass er heute dies und morgen das Gegenteil sagt, dass er aus Mangel an politischer und diplomatischer Erfahrung zu Grobheiten neige, in alle möglichen Fettnäpfchen trete und so weiter." Tatsächlich befolge Berlusconi eine "komplexe, kalkulierte und subtile Strategie", deren bestes Mittel der Bombentrick ist: "Wenn ich ein Machthaber wäre, der in viele dunkle Geschäfte verwickelt ist, und erführe, dass in zwei Tagen eine Enthüllung in den Zeitungen stehen wird, die meine Machenschaften ans Licht bringen könnte, dann wüsste ich nur eine Lösung: Ich würde dafür sorgen, dass eine Bombe im Bahnhof oder in einer Bank oder auf der Piazza nach der Sonntagsmesse hochgeht."

Weiteres: Jörg Häntzschel berichtet von der groß zelebrierten Eröffnung von Frank Gehrys Disney Konzertsaal in Los Angeles. "rbh" meldet, dass im Prozess um Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere" das Berliner Landgericht die Auslieferung des Buches verboten hat. Alexander Kissler hat erfahren, dass laut Kuratoriumsbeschluss Gerhard Besier, Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, bleiben und sein Buch zur Ehrenrettung Scientologys schreiben darf, aber "sehr vorsichtig" sein muss.

Stefan Tolksdorf macht uns mit dem kostbaren St.-Trudpert-Kreuz bekannt, das die Petersburger Eremitage an die Stadt Freiburg entliehen hat. Eva Elisabeth Fischer porträtiert den Manager des Münchner Theaterfestivals "Spiel.Art", Tilmann Broszat. Ralf Berhorst berichtet von einer Tagung zu dem Kulturphilosophen und Zionisten Theodor Lessing. Thomas Bärnthaler schreibt einen Nachruf auf den Sänger und Liedermacher Elliott Smith. Mit Genugtuung nimmt Fritz Göttler auf, dass der Film "Göttliche Intervention" des Palästinensers Elia Suleiman für den Oscar nominiert worden ist. Gemeldet wird außerdem, dasss Random House und Holtzbrinck weniger Geld für den Bücher-Butt übrig haben.

Besprochen werde das neue Album "Room On Fire" der Strokes, eine Design-Ausstellung in Nürnberg, zu der 29 Museum ihre jeweils schönsten Stücke geschickt haben, Stephane Braunschweigs Produktion von Alban Bergs Oper "Wozzeck" in Lyon, die Uraufführung von Werner Fritschs "Hydra Krieg" am Landestheater Linz und Bücher, darunter Alphonse Daudets Aufzeichnungen "Im Land der Schmerzen", zwei neue Studien zur deutschen Bildungsmisere (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 24.10.2003

Marcia Pally kommentiert gewohnt luzide Arnold Schwarzenegger und andere Grandiositäten der amerikanischen Politik. "Dem Rest der Welt beweist der Rückruf des kalifornischen Gouverneurs Gray Davis und sein Austausch gegen Arnold Schwarzenegger auf radikale und typische Weise, wie gern die USA voranhüpfen, mit nichts als Scheuklappen um die Augen. Vernünftige Menschen glauben zu wissen, dass Arnold keinen Pieps von Politik versteht und sein größtes Talent darin bestand, die Metrosexuellen mit ihrem inneren Hunnen zu versöhnen. Aber nichts am Gouverneursrückruf und Arnolds Wahl ist radikal, und das Voranhüpfen hat die USA nicht nur in den Schlamassel geführt, sondern ihnen auch ihre größten politischen Erfolge befeuert, ihr Misstrauen gegen die Regierung und ihre Fähigkeit zum Wandel ohne Revolution, sogar zum Besseren."

Weiteres: Oliver Tepel erliegt den Reizen Julie Delpys, die nicht nur blass, still und schön ist, sondern auch noch Musik machen kann, und zwar sehr melancholische, wie das Album "Julie Delpy" zeige. Fran Keil porträtiert die Surrealistin Meret Oppenheimer, deren Arbeiten momentan die Galerie Levy in Hamburg zeigt. Gabriele Renz widmet sich in Times Mager den ungewohnten Personalquerelen der erfolgsverwöhnten Stuttgarter Oper. Besprochen werden Robert Carsens und Jeffrey Tates Kölner Produktion der "Götterdämmerung" und das Mühlheimer Festival "Theaterlandschaften Seidenstraße" mit Ensembles aus Algerien, Marokko, Tunesien und dem Iran.

TAZ, 24.10.2003

Auf einer Tagesthemen-Seite erklärt der amerikanische Militärhistoriker Frederick Kagan (zur Person), warum die Kriegsführung der USA ihren politischen Zielen widerspricht. "Die Verfechter eines 'new American way of war', an ihrer Spitze Verteidigungsminister Rumsfeld und Präsident Bush, haben versucht, Krieg in eine simple Zielübung umzuwandeln. Sie betrachten den Feind als einen Satz Ziele und glauben, wenn alle oder fast alle dieser Ziele getroffen sind, wird er unweigerlich kapitulieren und Amerika seine Vorstellungen durchsetzen können." Der Text ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes Kagans, der in der November-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik erscheint.

Im Kulturteil plädiert Marius Babias, Mitorganisator des Symposiums "Die Neuerfindung des Balkans", für eine Revison des westlichen Balkan-Bildes, das ja auch mal positiv ausfallen könnte: "Vielsprachigkeit und kulturelle Vielfalt, ethnisches Nebeneinander und religiöse Toleranz, Entgrenzung statt Begrenzung, Raum statt Linie." Dass der Balkan aber "nicht als Modellfall einer Grenzen und Ethnien überschreitenden Transkulturalität angesehen wird", entlarvt für Babias "das falsche neoliberale Versprechen eines Weltmarktes ohne Grenzen, in dem Hautfarbe und kulturelle Identität angeblich keine Rolle spielen".

Weiteres: Andreas Busch feiert die Renaissance der New Yorker No-Wave-Szene, zu deren wichtigster Band er The Rapture zählt. In einem anderen Text schreibt Diedrich Diederichsen, dass The Rapture den Traditionen des Grooves verpflichtet sind. Aber vielleicht widerspricht sich das gar nicht.

Und schließlich Tom.

NZZ, 24.10.2003

Von einem "Sonderfall" islamischer Kultur erfahren wir durch Frank Wittmann, der sich der senegalesischen Religiosität widmet. Den Senegalesen sei bewusst, dass sie eine "lokale Form des Islam leben", die sie von den anderen Muslimen im maghrebinischen Raum unterscheide: "'In Senegal leben 91 Prozent Muslime, 6 Prozent Christen, 3 Prozent Andersgläubige und 100 Prozent Animisten.' Dieses Bonmot wird gerne angeführt, um die Besonderheit der senegalesischen Religiosität zu veranschaulichen. Dieser auf den ersten Blick selbstverständlich anmutende Synkretismus aus klar definierter Konfession und animistischen Praktiken kann allerdings zu Konflikten führen."

Samuel Herzog berichtet von der Eröffnung des wohl höchsten Museums der Welt, dem Mori Art Museum in Tokio. Mori Minoru, der einen Großteil der Wolkenkratzer der Metropole sein Eigen nennen kann, hat sich damit an ein ambitioniertes Projekt gewagt: neun große Gallerien im 52. und 52. Stockwerk des "Mori Towers" sollen den Bewohnern dieser "veritablen Kleinstadt in Turmform", die Identifikation mit ihrem Lebensraum erleichtern. Denn "je besser diese Identifikation gelingt, dest attraktiver, desto erfolgreicher sind diese Zentren" - logisch, oder?

Weitere Artikel: Klaus Englert wohnte der Einweihung des Amsterdamer Architekturzentrums Arcam bei, und hat ein "exzentrisches Gebäude" vorgefunden, das "selbst im avantgardistisch umgestalteten Amsterdamer Hafenquartier hervorsticht". Außerdem erfahren wir von der Wiedereröffnung des Theaters in La Chaux-de-Fonds.

Auf der Filmseite lässt sich Christoph Egger von den drei Versuchen in Peter Liechtis Film "Hans im Glück" faszinieren, dem Rauchen zu entsagen. Gerhart Waeger bespricht das neue Werk des Dokumentarfilmers Jürg Neuenschwander "Früher oder später", der sich in seinem Film Todkranken über Gespräche mit den Patienten selbst und ihren Angehörigen nähert. "Ein mutiges Unterfangen" der Kranken, findet Waeger, "war diesen doch bewusst, dass sie die Vollendung des Filmes nicht erleben werden". Dazu gibt es noch ein Stimmungsbild vom 46. Dokumentarfilmfestival in Leipzig.

FAZ, 24.10.2003

Die FAZ nimmt in zwei Artikeln die Diskussion um Jörg Friedrichs Band "Brandstätten" mit Bildern aus bombardierten Städten in Deutschland auf. Henning Ritter lehnt eine moralische Diskussion solcher Kriegsbilder ab: "Es ist selbst ein Ausdruck der medialen Abstumpfung und Abgebrühtheit, wenn über 'richtiges' und 'falsches' Leiden befunden wird." Andreas Platthaus sieht den Skandal nicht in der Publikation von Greuelbildern, sondern darin, dass Verlag und Autor in einer Erklärung im Anhang des Bandes einfach ihren Zwiespalt erklären und den Leser auffordern, "sich sein eigenes Urteil bilden". Platthaus schließt daraus: "Entweder hat die Aussicht auf gute Verkaufszahlen die Lektoren korrumpiert (dann hätte man sich den Verweis sparen sollen), oder der Verlag hat bewusst auf sein Dilemma hingewiesen, um den Band ins Gespräch zu bringen."

Weitere Artikel: Jordan Mejias gewinnt aus einem Blick auf die amerikanischen Bestsellerlisten "höchst überraschende Einblicke in die amerikanische Seelenlage": Linke Autoren sind auf dem Vormarsch. Mejias nennt unter anderem "Lies and the Lying Liars Who Tell Them" von Al Franken und "Dude, Where's My Country?" vom unvermeidlichen Michael Moore. Jürgen Kaube polemisiert in der Leitglosse scharf gegen Gerhard Besier vom Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, der die Scientologische Kirche verteidigt hat. Christoph Albrecht knüpft an eine gestrige Meldung über eine "Berliner Deklaration" von Wissenschaftlern an, die sich gegen die Übermacht von naturwissenschaftlichen Zeitschriften wenden, und schildert eine Initiative des Münchner Chemikers Ulrich Pöschl, der die Dokumentation von Experimenten ins Internet verlagern will.

Auf der Medienseite erzählt Thomas Scheen die Geschichte des Reporters Jean Helene von "Radio France International", der von der Polizei der Elfenbeinküste erschossen wurde, weil er zur falschen Zeit vor einem Polizeiquartier stand (mehr dazu in der Abidjan Post). Und Michael Martens hat einem ersten Treffen serbischer und albanischer Journalisten im Kosovo beigewohnt.

Auf der letzten Seite besucht Hansgeorg Herman in einem schönen Lesestück die "Bibliotheque Sigmund Freud" in der rue Vauquelin 15 im V. Arrondissement von Paris und erzählt die Geschichte von Sigmund Freuds Schülerin Marie Bonaparte, der er seine Bücher vermachte. Edo Reents schildert das Vorgehen der Recording Industry Association of America (RIAA), die sich mit Prozessen gegen zwölfjährige Mädchen und 66-jährige Rentnerinnen, die auch mal ein Stück aus dem Internet luden, Sympathien verscherzt, die sie wohl ohnehin nie genoss. Und Felicitas von Lovenberg porträtiert den Autor und Schauspieler Stephen Fry, der die englische Hörbuchversion von Harry Potter (bestellen Sie hier und bescheren dem Perlentaucher eine Provision) gelesen hat.

Besprochen werden eine Franz-von-Lenbach-Ausstellung im Leverkusener Museum Morsbroich, Alexander Zemlinskys Oper "Der kaukasische Kreidekreis" in Zürich, eine Fritz-Höger-Schau im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, der Film "Geheime Wahl"des iranischen Regisseurs Babak Payami, Glucks "Orphee et Eurydice" in der Berlioz-Fassung an der Bayerischen Staatsoper München, ein Konzert des Gitarristen Daniel Lanois in Frankfurt.