Virtualienmarkt

Amazon küsst Bücher wach

Von Rüdiger Wischenbart
07.11.2003. Auf seinen amerikanischen Seiten hat Amazon einen neuen Suchdienst eingeführt: Search Inside. Mit ihm lässt sich der gesamte Inhalt von insgesamt 120.000 Büchern durchforsten. Die Nerven der geistigen Welt liegen offen vor uns ausgebreitet.
Wie beiläufig berührte der italienische Arzt und Anatomieprofessor Luigi Aloisius Galvani (1737-1798) im November 1780 die Nerven am Schenkel eines Frosches, den er eben sezierte, mit seinem Skalpell. Das tote Tier zuckte zusammen, als sei es lebendig. Galvani konnte sich erst keinen Reim auf das Phänomen machen, doch vermutete er bald, dass der Impuls von einer Elektrisiermaschine, die auf dem Tisch stand, die Muskelbewegung ausgelöst haben müsse, dass also - eine bahnbrechende Entdeckung - elektrische Signale die Informationen in den Nerven von Lebewesen transportieren.

Ganz ähnlich aufregend und auch aufgeregt wird seit nicht einmal zwei Wochen von der Internetgemeinde, aber auch schon von Anwälten und Autorenvertretern, von Verlagen und Lesern ein neuer Suchdienst diskutiert, den der Internet Buchhändler Amazon auf seinen amerikanischen Seiten kürzlich eingeführt hat: "Search Inside". Wer nunmehr ein oder mehrere Stichworte in die Suchmaske eingibt, bekommt nicht mehr, wie zuvor, nur Titel, in denen diese Stichworte im Autorennamen oder im Titel vorkommen. Bei 120.000 Büchern wird der gesamte Inhalt durchsucht und jede der Fundstellen innerhalb des Buches lässt sich mit einem weiteren Klick aufrufen und nachlesen.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht enorm. Wer, nach der alten Titelsuche, bei Amazon Deutschland "Galvani" eingibt, bekommt ganze 10 Treffer, und die meisten davon beziehen sich auf Bücher der Kinderbuchautorin Maureen Galvani. Die eingeengte Suche "Galvani" und "Frosch" bleibt bereits ohne präzisen Treffer (und als Alternative wird das "Große Buch von Frosch und Kröte" angeboten).

Das neue Suchangebot "Search inside" hingegen weist bei der wesentlich engeren Abfrage "Galvani", "frog" und "electriciy" 219 Treffer aus. Das thematische Spektrum der Fundstellen reicht entsprechend von einem Physiklehrbuch für Kinder über Fachliteratur zur aktuellen Hirnforschung bis zum Titel "Sprezzatura: 50 Ways Italian Genius Shaped the World". Darüber hinaus finde ich aber auch gleich den Hinweis auf den Roman "A Whistling Woman" von A.S. Byatt, einem Roman über "ideas, contradictions, scientific discoveries, ethical conflicts", etc. etc. (so der Klappentext), in dem auf Seite 358 ebenfalls Galvani, "the mechanical jerking and twitching of dead frogs legs attached to magnets" Thema ist, und die Furcht vor derartigen Entdeckungen, Maschinen sowie vor den von Menschen gemachten Automaten ganz allgemein. Es ist nicht zu weit hergeholt, die aktuelle Umbruchssituation mit jener des späten 18. Jahrhunderts zu vergleichen, als Ärzte Körper öffneten um im Detail nachzuvollziehen, wie diese wunderbaren Dinge funktionieren. (Und natürlich wurde darüber der Körper nicht zuletzt zum Ding. Die Amazon Suche zu "Galvani", "frog" und "electricity" führt im übrigen wie selbstverständlich auch zu einer Neuausgabe von Mary Shelly's "Frankenstein"!).

Ich denke, die Dimension, in die uns die neue Suchmaschine von Amazon entführt, wird rasch klar. Dieses digitale Archiv "wird sich wahrscheinlich als einer jener transformativen Web-Momente herausstellen, in denen ganz plötzlich ein Programm auftaucht und sechs Monate später kann man sich schon gar kein Leben ohne mehr vorstellen", wie Steven Johnson in einer Kolumne im Online Magazin "Slate? notierte.

Öffentlich aufgeschreckt zeigte sich postwendend die Vertretung der amerikanischen Schriftsteller, die "Authors Guild". Ihre naheliegende Sorge war, dass etwa ein College Student, der so ein Zitat findet, das entsprechende Buch nicht mehr zu kaufen braucht. Amazon schaltete umgehend die Möglichkeit, die einzelnen Buchseiten auszudrucken, ab. Aber natürlich ist es einfach, eine Bildschirmseite in ein anderes Format zu verwandeln, also zu einem Bild oder pdf zu konvertieren. Zum anderen, so die Authors Guild, decke kaum ein Verlagsvertrag die Bereitstellung elektronischer Kopien. Aber, einmal ehrlich, wie viele Autoren wollen sich dagegen wehren, gefunden zu werden?

Denn diesen hastigen, ersten Einwänden stehen freilich ganz andere Anreize entgegen. "Ego-surfing" zum Beispiel, wie der japanischen Medientheoretiker Joichi Ito rasch erkannte. Flugs gab er mit der ihm eigenen Spielfreude und Selbstironie bekannt, er habe auf Amazon acht Fundstellen mit seinem Namen gefunden. Doch nur zwei der Bücher, in denen er zitiert wurde, habe er gekannt.

Und natürlich habe ich es ihm gleich nachgetan - und mich auch gefunden, auf Seite 168 einer Bibliografie über "Central European Folk Music". College Studenten - und ebenso du und ich und alle anderen - bekommen plötzlich ein Google in die Hand, mit dem sich ins Dunkel der dicksten Bücher hineinsehen lässt. Die Nerven der geistigen Welt liegen gewissermaßen offen vor uns ausgebreitet.

Bei aller Informationsfülle und Wissensdichte, die Internet und World Wide Web im vergangenen Jahrzehnt erschlossen haben, blieb das Buch als wichtigstes kulturelles Medium ausgespart. Dies ist umso wichtiger, als Bücher immer noch, und allen wissenschaftlichen Zeitschriften und anderen Informationsmedien zum Trotz, in Hinblick auf inhaltliche Qualität und Zuverlässigkeit das Rückgrat auch der modernen Wissensgesellschaft darstellen. Das Web verdankte seine oft dubiosen Ruf nicht zuletzt diesem Mangel, dass Bücher in aller Regel von der Recherche ausgespart blieben.

Das hat Amazon mit einem Schlag nun geändert. 120.000 Titel erscheinen zwar bescheiden im Vergleich zu den Beständen von Millionen Bänden in großen Bibliotheken. Aber zwei Schlüsselprobleme wurden, wie es scheint gelöst: Technisch funktioniert die Datenbank, und die grundlegenden Fragen des Urheberrechtes - bislang ein zentraler Stolperstein für jede digitale Öffnung von Wissensarchiven - scheinen mit einem Mal lösbar zu sein. Es ist damit abzusehen, wie rasch die Zahl der digital neu verfügbaren Bücher wachsen wird.

Die - zu recht - erschrockene Reaktion der Vertreter der Autoren (und andere, ähnliche Reaktionen werden gewiss bald noch folgen, von Verlagen, Buchhändlern, Bibliothekaren) zeigt auch, wie jede Innovation in einem ohnedies bereits turbulent durcheinander gebrachten kulturellen Umfeld alle gewachsenen Positionen und Rollen noch weiter in Frage stellt.

Buchhändler verlieren das Privileg, dass neugierige Kunden sich erst einmal ansehen möchten, was zwischen den Buchdeckeln steckt. Studenten, Forscher, aber auch wissensdurstige Laien können ohne Mühe nachvollziehen, wie sich Themen in der Literatur verzweigen und verzahnen, wer wen zitiert - und wessen Gedanken unbeachtet bleiben. Die Beschleunigung im Wissensverkehr nimmt einmal mehr zu. Die Diskussion, die wir hier über die neue Suchmöglichkeit führen, ist gerade zwei Wochen alt. Verlage und Autoren werden ganz neue Marketingstrategien nutzen, um diese Werkzeuge optimal zu nutzen. Bereits nach wenigen Tagen meldete Amazon, dass jene Bücher, die sich durchsuchen lassen, um 9 Prozent besser verkauft würden als der Rest. Auch die Authors Guild erkannte einen Nutzen für jene sonst schwerer verkäuflichen Titel, die sonst rasch aus den Regalen der Buchhandlungen verschwinden.

Im übrigen, wenn ich nun schon die Seite mit jenen Stellen, nach denen ich suche, auf dem Bildschirm habe - und nicht auf Papier -, warum sollte ich nicht immer mehr von meinem Sach-Lesestoff über dieses Medium holen und auch kaufen. Die Frage nach elektronischen Büchern wird womöglich neu gestellt. Digitaler Text ist plötzlich nicht mehr eine exotische und ungewohnte Form der Aufbereitung, sondern Alltag, so wie es das Web in weniger als einem Jahrzehnt geworden ist.

Wer jedoch, warum auch immer, über diese Suche nicht auffindbar ist, wird in der kulturellen Landschaft unsichtbar. Was etwa bedeutet dies für kleine Sprachen? Welche Gedanken muss sich das ungarische, finnische oder estnische Kulturministerium machen, damit auch die Bücher in diesen Sprachen sichtbar bleiben? Und welche Budgetmittel sind dafür vorzusehen? Ganz zu schweigen von der weltweiten Perspektive der Unesco, die schon jetzt den zunehmenden kulturellen Verdrängungsdruck der großen auf die kleinen Sprachen beklagt.

Die Techno-Optimisten vom Schlage der Zeitschrift Wired sehen bereits die Vision der von Ptolemäus 286 gegründeten legendären Bibliothek von Alexandria als Ort, an dem alles Wissen versammelt und verfügbar ist, mit medialen Mitteln realisiert. Gewiss, doch lässt sich umgekehrt ebenso gut darauf wetten, dass auch die Kluft zwischen den "information have" und den "information have not" (Manuel Castells) wieder ein Stück tiefer wird.