Im Kino

Leidenschaft, Verzweiflung, Wut. Liebe!

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Robert Wagner
27.01.2021. In Thomas Cailleys "Liebe auf den ersten Schlag" bereitet sich eine so sture wie bezaubernde Adèle Haenel auf die bevorstehende Apokalypse vor. In jedem Fall bekommt man hier das volle Adèle-Erlebnis. Und 1997 wurde nicht nur Hongkong an China übergeben, auch das Hongkongkino änderte sich. Johnnie Tos Feuerwehrfilm "Lifeline" zeigt den Bruch mitten im Film.


"Erst wählen, dann öffnen!" ermahnte die Kühlschrank-Aufschrift in einem Berliner Spätkauf, den ich früher häufig besuchte. Auch beim Filme-Streaming hilft es, sich im Vorfeld zu entscheiden oder sich zumindest auf ein handfestes Kriterium festzulegen, um die eigene wertvolle Zeit nicht zu verplempern. Heute fällt es mir leicht: Ich beschließe, einen Film mit Adèle Haenel zu schauen! Jeder Film, in dem sie mitspielt, muss einfach gut sein.

Wie Adèle aussieht, brauche ich hier niemandem zu erzählen. In Straight Jeans und T-Shirts bewegt sie sich durch ihre Filme. So tough, sie lässt sich nichts gefallen, auch im echten Leben nicht, denke ich mir jedes Mal. Im echten Leben trägt Adèle natürlich auch glitzernde Abendroben, aber auch dann so, wie keine andere sie tragen würde, auf hohen Absätzen entschieden Richtung draußen, die Schulter breit, den Kopf nach vorn gebeugt. Als wolle sie "das ganze Gebäude niederreißen", schreibt Virginie Despentes und meint die Verleihung des französischen Filmpreises César an Roman Polanski Ende Februar letzten Jahres, bei der Adèle aus Protest den Saal verließ.

In ihren Gefühlen und Haltungen ist auch die filmische Adèle stets deutlich. Etwas undeutlich dagegen - so nehme ich es mit meinen bescheidenen Französischkenntnissen jedenfalls wahr - in ihrer Aussprache. Denn es prustet im Wechsel aus ihr heraus: Leidenschaft, Verzweiflung, Wut. Liebe! Ihr Mund kommt dem inneren Geschehen nicht hinterher. Ich stelle mir vor, dass sie beim Sprechen sogar ein bisschen um sich spuckt. Ich liebe die sich abzeichnende Faltenlandschaft ihres Gesichts, die Mundwinkel, die leicht nach unten zeigen, die Lippen sichtlich zusammengezogen. Adèle ist stur, bisweilen manisch, stets unter Strom. Ich denke, sie hat - ihrer überströmenden Vitalität und Unruhe wegen - sogar als kleines Kind nie Mittagsschlaf gemacht. Obendrein ist Adèle wunderschön und dabei kein bisschen eitel. Ich will mit ihr befreundet sein.

In "Liebe auf den ersten Schlag" (französischer Originaltitel "Les Combattants") von Thomas Cailley kommt meine Adèle anfangs aber auch ohne Freunde prima klar. Dieser Film eröffnet mir keine neue Facette ihrer Person, das nicht, aber er bestärkt die Qualität, die ich so an ihr mag. Diese Sturheit! Madeleine, so heißt ihre Figur, ist Anfang Zwanzig, legt jeden Jungen locker aufs Kreuz, beendet unerwünschte Konversationen gerne mit einem Kopfstoß. Klimakrise, Hungeraufstände, Religionskriege, Explosion der Kernkraftwerke, Pol-Umkehr, Epidemien et cetera - Madeleine sieht Dinge kommen, hat deshalb ihr Wirtschaftsstudium geschmissen und nutzt die Zeit, um sich für die bevorstehende Apokalypse abzuhärten. In der Küche ihres Elternhauses an der Atlantikküste haut sie rohe Sardinen in den Smoothie-Shaker, drückt den Knopf, zuckt nicht mit der Wimper, trinkt das eklige Zeug als wäre das sonst etwas. Madeleine ist hungrig, so hungrig, dass sie am Rande einer Provinz-Diskothek in fremden Longdrink-Gläsern nach aufgeweichten Zitronen fischt.



In ihrem sportlichen Adidas-Schwimmanzug (wie damals in "Water Lilies" von Céline Sciamma!) wirkt sie sexuell, aber nicht sexualisiert. Selbst für den interessierten und auch schon begehrenden Blick eines Anderen ist sie zu keinem Zeitpunkt bloß ein Objekt. Um diesen Anderen namens Arnaud (Kévin Azaïs), zarte 18 Jahre alt, ist es geschehen - die entsprechenden Umstände hat der deutsche Verleihtitel ja netterweise schon verraten. Der junge Mann hilft in den Ferien dem älteren Bruder im Familienbetrieb aus, der nach dem Tod des Vaters kurz vor Bankrott steht. Zufällig haben Madeleines Eltern ausgerechnet bei Labrède Bois ein Poolhäuschen in Auftrag gegeben.

Bald lässt Arnaud jedoch alles liegen und fallen und folgt, obschon pazifistisch erzogen, der athletischen Madeleine in ein militärisches Survival-Camp. Ich drücke dir die Daumen, Arnaud, mein schüchterner Stellvertreter in der Diegese! Von "Liebe auf den ersten Schlag", der auf der Streaming-Plattform filmfriend mit "Abenteuer" und "Komödie " verschlagwortet ist, verspreche ich mir einen sanften Suspense der heranwachsenden Liebe, eine vorhersehbare Handlung ohne Extravaganzen, keine Überraschungen, keinen allzu schweren Überbau. Das volle Adèle-Erlebnis und am liebsten möglichst wenig von allem, was die ohnehin schon enorme Entfernung zwischen uns beiden noch größer machen könnte.

Mit "Abenteuer" und "Komödie" ist "Liebe auf den ersten Schlag" zwar gut beschrieben, der Film bietet aber deutlich mehr, als es zunächst den Anschein macht. Er steckt seinen Genre-Rahmen konventionell ab, bleibt dem damit verbundenen Versprechen treu, hält sich ästhetisch größtenteils in Deckung und schafft es, den sicheren Weg dann doch zu verlassen. Erfrischend und überaus resolut vollführt er einige Setting-Wechsel, ist im realistischen Modus anfangs aufmerksam und humorvoll. Dann ändert sich langsam der Ton: die bukolische Natur, gegen Ende apokalyptische Bilder wie daherhalluziniert. Besonders toll, wie Regisseur und Drehbuchautor Thomas Cailley in seinem 2014 fertiggestellten Langfilmdebüt das Zeitgeschehen in den Liebesplot integriert. Die Existenzangst der jungen Menschen, ausgelöst durch die Finanzkrise, gehört hier zur Prämisse und ist am Ende keinesfalls weg vom Fenster - im Dazwischen entwickelt sie aber eine geradezu befreiende Kraft. Heißt, wieder einmal ein guter Film mit Adèle.

Olga Baruk

Liebe auf den ersten Schlag - Frankreich 2014 - OT: Les combattants - Regie: Thomas Cailley - Darsteller: Adèle Haenel, Kévin Azaïs, Antoine Laurent, Brigitte Roüan, William Lebghil - Laufzeit: 98 Minuten. Justwatch listet auf, wo der Film online gesehen werden kann.

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Die Hoheitsgewalt der britischen Kronkolonie Hongkong wurde am 1. Juli 1997 an China übergeben. Gerne wird diese Zäsur herangezogen, um zu erklären, warum sich die pulsierende Filmindustrie der Metropole danach zu ändern begann. Das anarchische Kino der Schauwerte, dass es schaffte, eine weltweite Marke zu werden und dessen Vertreter zwischenzeitlich auch mal eine Chance in Hollywood bekamen (Jackie Chan oder John Woo beispielsweise), zähmte sich etwas. Das zunehmende Wegbrechen der Märkte führte dazu, dass der Fokus mehr auf die sichtbare Wertigkeit der Produkte gelegt wurde. Hongkongs Filmindustrie gentrifizierte ihr Produkt. Die Gründe waren zwar vielfältig, auch die zunehmende Dominanz Hollywoods in der Region spielte eine Rolle, aber doch gibt es spürbar ein Hongkongkino vor 1997 und eines danach.

Anfang eben dieses Schlüsseljahres kam die letzte Regiearbeit Johnnie Tos in die Kinos, die nicht unter der Schirmherrschaft seiner eigenen Produktionsfirma Milkyway Image entstand. In den folgenden Jahren sollte To mit seinen Action- und Gangsterfilmen zu internationalem Ruhm gelangen und die Speerspitze der Veränderung bilden. (Wobei an seiner Person auch abzulesen ist, wie simple Erklärungsmuster zu kurz greifen. Auf jeden stilsicheren, konzentrierten Film wie "Drug War" kommt in seinem vielseitigen Werk eine Seltsamkeit wie "My Left Eye Sees Ghosts".) So wie für Hongkong allgemein galt auch für To: Es gibt einen Johnnie To vor und einen nach 1997.

Dass "Lifeline", der besagte Film von 1997, in gewisser Weise schizophren ist, sollte deshalb kaum überraschen. In der Hongkonger Tradition, populäre Titel aus Hollywood hemmungslos zu kopieren, wird sich hier an Ron Howards Feuerwehr-Actionfilm "Backdraft" aus dem Jahr 1991 angelehnt. Allerdings fällt die kriminologische Seite des Originalplots weg; der Kampf gegen die Flammen dominiert alles. Die erste Hälfte besteht aus einer Ansammlung diverser Facetten der Arbeit und des Lebens auf einer Feuerwache. In der zweiten Hälfte sitzt der bis dahin porträtierte Trupp in einer Fabrik fest, in der ein unkontrollierbarer Brand wütet. Die erste Hälfte ist sowohl Liebesfilm, Komödie, Melodrama, als auch soziale Studie in Form von Actionsequenzen, der zweite Teil hingegen ein sehr konzentrierter Katastrophenfilm. In die Form schreibt sich Zeitgeschichte ein: Da das Datum der Übergabe der vormaligen Kronkolonie an China seit 1984 bekannt war, nahm die Unsicherheit über die Zukunft auch in den Filmen Jahr für Jahr zu. In "Lifeline" nimmt sie erst die Form einer Pechsträhne und dann die eines Infernos an.



Es beginnt in einem Krankenhaus. Klos und Eimer werden in der Notaufnahme strapaziert, während ein Feuerwehrtrupp mit Lebensmittelvergiftung auf einen freien Arzt wartet. Wenig später ist dasselbe Team wieder in dieser Notaufnahme, weil einer der ihren mit einem Fahrstuhl abgestürzt ist. Beine und Wirbelsäule sind gebrochen. Chief Yau Sui (Lau Ching-Wan) bekommt dabei allerdings auch die Möglichkeit, Dr. Annie Chan (Carman Lee) wiederzusehen. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte. Alberne Menschlichkeit, romantische Seitenblicke und ungehemmte Verzweiflung im Angesicht von Schicksalsschlägen werden auf engsten Raum verbunden. Akute Stimmungswechsel bestimmen auch danach das Bild. Hysterische Streitereien über die Vereinbarkeit von Job und Familienleben, Sorgerechtsstreits, Sterbende, Amputationen, die Stürmung einer brennenden Wohnung (nur um festzustellen, dass die vermeintlichen Rufe eines Mannes nur von einem Beo stammen), der Sturz aus einem Haus als amouröse Tollpatschigkeit: Schnell wechselt "Lifeline" Ort, Geschehen und Stimmung, springt zwischen professionellen und privaten Niederlagen und unlösbaren Spannungen hin und her. So sehr alles wechselt und ausschwärmt, so sehr wird gleichzeitig auf der Stelle getreten.

In dem Durcheinander seiner kurzen Skizzen wird jedoch ein klarer Konflikt aufgebaut. Yau Sui möchte einfach nur lospreschen und helfen. Egal, wie sehr alles schief läuft, er lässt sich nicht einschüchtern. Immer wieder versucht er das Heldenhafte und rennt als Lausbub ohne nachzudenken ins Feuer oder in die Unwägbarkeiten einer scheinbar hoffnungslosen Liebe. Dem steht die geradezu militärische Führung der Feuerwehr entgegen. Drill und Kontrolle sollen die Niederlagen aufhalten. Märsche im Gleichschritt, gebrüllte Befehle und gebellte Fragen zur genauen Länge einer Leiter. Vor den Problemen der Welt herrscht totale Verkrampfung. Die impulsiven Qualitäten der goldenen Zeit des Kinos Hongkongs resultieren ironischerweise in einer Stillstellung.

In der zweiten Hälfte nehmen die Zeitlupen dann nicht nur deshalb zu, weil das Geschehen epischer wird. Sondern auch, weil eine gewisse Form von Genuss den Film übernimmt. Standen vorher mal die labbrigen Beine im Vordergrund, die von keinem soliden Knochen mehr gestützt werden, dann wieder der fehlende Sinn für Rationalisierungen, der zu ständigem Nölen führt, gibt es nun nur noch das Feuer. "Lifeline" schickt sich an, zu einem Blockbuster zu werden, der lediglich einen Modus kennt. Brennen, Rennen und Handeln (nur die Synthesizermusik passt nicht ganz dazu). Das Problem ist bekannt und für Zweifel keine Zeit. Das kommende Kino Tos übernimmt und postuliert, dass die damalige Zukunft auch nur ein Brand ist, den wir durchschreiten müssen. Wenn er da ist, dann braucht es wenigstens die Zweifel nicht mehr.

"Lifeline" ist Teil des seltsam planlos zusammengestellten, aber durchaus interessanten Aufgebots von Hongkongfilmen bei Netflix. Beide Hälften des Films gehören, bei aller Qualität, nicht zu den Sternstunden des Regisseurs. Aber sie geben eine spannende Perspektive auf das größte Problem von Corona: Der Virus offenbart sich uns eben gerade nicht als Feuer, sondern liegt irgendwo ungreifbar in der Luft. Weshalb wir unsere Gegenwart nach "Lifeline" vielleicht am besten als alberne Komödie und grenzenloses Melodrama im Hongkongstil auffassen sollten.

Robert Wagner

Lifeline - Hongkong 1997 - OT: Shi wan huo ji - Regie: Johnnie To - Darsteller: Lau Ching Wan, Alex Fong, Carman Lee, Ruby Wong, Raymond Wong Ho-Yin - Laufzeit: 104 Minuten. "Lifeline" auf Netflix