Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2005. Die FAZ dokumentiert eine Rede von Urheber Günter Grass, der sich heftig gegen die Verwerter wehrt. In der FAZ wendet sich Marcel-Reich-Ranicki gegen Knesset-Abgeordnete, die Horst Köhler nicht auf deutsch reden hören wollen. Die FAZ fragt, ob man Mozarts c-moll-Messe einfach so eigenhändig komplettieren darf, und antwortet: ja. Die taz outet Sophie Dannenberg. Die FR fragt, ob es in Russland überhaupt eine Wende gab. Die SZ dokumentiert einen Brief des Ex-Yukos-Chefs Michail Chodorkowski.

FAZ, 18.01.2005

Auf zum Kiosk - die FAZ enthält heute einigen Sprengstoff!

Zunächst: Darf ein Komponist einfach so das Fragment von Mozarts c-moll-Messe vervollständigen, wie es jüngst Robert Levin für eine New Yorker Aufführung tat? "Welche göttliche Eingebung hat dazu geführt, dass Levin aus einem einzigen kleinen Motiv, dem nicht weiter von Mozart ausgeführtem Kontrasubjekt des Kyrie, die 128 Takte lange Doppelfuge als Schlusssatz 'Et vitam venturi' zum Credo entwickelte?", fragt Wolfgang Sandner. Aber er ist begeistert von Levins Arbeit und antwortet: "Auch ein Komponist so außerordentlicher Fähigkeiten wie Mozart kann nicht alles von ihm verwendete musikalische Material ausgeschöpft haben; wer in 35 Lebensjahren weit über 600 Werke schreibt, muss ökonomisch denken, Skizzen anfertigen, Material sammeln für spätere kompositorische Zwecke. Mozart nahm wie andere Künstler seiner Zeit auch Zuflucht zur Kontrafaktur, der Bearbeitung und Neutextierung eigenen musikalischen Materials für neue Gelegenheiten."

Marcel Reich-Ranicki sagt im Interview mit Hubert Spiegel klare Worte zur Drohung einiger Knesset-Abgeordneter, das Parlament zu verlassen, falls Bundespräsident Horst Köhler seine angekündigte Rede auf deutsch hält: "Die in Israel so heftig gegen die deutsche Sprache protestieren, wissen nicht, welch eine außerordentliche Rolle Juden in der deutschen Literatur der Vergangenheit gespielt haben (neben Kafka etwa Heine, Döblin, Schnitzler) und ebenfalls in der Literatur und Philosophie nach 1945."

Gleich an mehreren Fronten kämpft Günter Grass in seiner Rede "Wir Urheber!", die heute in der FAZ nachgedruckt wird (diese Zeitung ist leider zu vornehm, uns über den Anlass der Rede zu informieren). Er beklagt darin einerseits eine freche Vordrängelei der Sphäre des Sekundären - vom Regietheater bis zur Theaterkritik! -, er schimpft über eine unzureichende Entlohnung von Autoren und Übersetzern, er fürchtet eine "Verschlimmbesserung" des Urhebervertragsrechts durch die Bundesregierung (mehr hier), und er attackiert einen gewissen Herrn Mohn, dessen Random-House-Verlag die Rechte an der englischen Übersetzung der "Blechtrommel" gehören und dem Grass vor kurzem "einen ausführlichen Brief (schrieb), in dem die Notwendigkeit einer Neuübersetzung des Romans begründet wurde. Als Alternative schlug ich die Übertragung der Buchrechte an den Verlag Harcourt vor, der bereit sei, die Arbeit eines Übersetzers zu honorieren. Um es kurz zu halten: Ich habe bis auf den heutigen Tag keine Antwort von Herrn Mohn oder von einem der wechselnden Herren an der Konzernspitze erhalten."

Weitere Artikel:In einer Meldung wird über einen Aufruf 80 prominenter Autoren gegen die Erhöhung der Künstlersozialabgabe bei Verlagen berichtet. In der Leitglosse gibt Paul Ingendaay Bemühungen der Stadt Madrid um ihren internationalen Ruf,der durch eine Marketingkampagne verbessert werden soll, nicht viele Chancen, Verena Lueken lässt zum Tag der zweiten Amtseinführung George W. Bushs die Ballkleider der Präsidentengattinnen Revue passieren. Der emeritierte Rechtsphilosoph Klaus Lüdersen plädiert gegen die "Logik des Luftsicherheitsgesetzes", das einen Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubt, falls sie als terroristische Waffe eingesetzt werden sollen.

Auf der Medienseite stellt Melanie Mühl den Entwurf für ein neues Informationsfreiheitsgesetz (mehr hier) vor. Nina Rehfeld berichtet über einen amerikansichen Steit um Spendengelder für Flutopfer. Und Dietmar Dath stellt die neue Staffe der Serie "24" vor.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an das Schicksal des Straßburger Münsters im Zweiten Weltkrieg. Michael Althen kommentiert die jüngst verliehenen Golden Globes. Und Jordan Mejias schreibt über den Erfolg des satirischen Buchs "America (The Book") (Platz 1 der amerikanischen Bestellerliste) und seines Mitautors Jon Stewart, der eine satirische Sendung im amerikansichen Fernsehen betreibt.

Besprochen werden Ettore Scolas Film "Gente di Roma", eine Aufführung von Debussys "Martyre de Saint-Sebastien" unter Sylvain Cambreling in Frankfurt und eine Ausstellung mit chinesischen Möbeln in Köln.

Weitere Medien, 18.01.2005

Alltenthalben ist von Seymour Hershs Artikel im NewYorker die Rede, in der der Journalist konkrete amerikanische Militärpläne gegen den Iran nachweist. Der Artikel steht online. Hier der Link.
Stichwörter: Iran, Hersh, Seymour

FR, 18.01.2005

Anna Schor-Tschudnowskaja kommentiert die Reaktion Russlands auf den Machtwechsel in der Ukraine. Sie konstatiert unter anderem: "Die Suche nach dem neuen verständlichen und akzeptablen Selbstbild ist im postsowjetischen Russland immer noch nicht abgeschlossen. Selbst Fragen, ob es eine Wende gab und wie sie inhaltlich zu bewerten ist, ob die Entwicklung der russischen Politik und die neuen Werte der russischen Gesellschaft von einer Demokratie zu sprechen erlauben, bleiben ohne Antwort. Politische Entscheidungsfindung steht zudem nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses und ist daher sehr leicht für Korruption anfällig."

Auf der Seite Forum Humanwissenschaften schreibt Klaus Vondung über Liebe im Cyberspace zwischen reiner und eliminierter Körperlichkeit. Der Philosoph Thomas Meyer stellt "gewichtige Neuerscheinungen" vor, die Franz Rosenzweigs Religionsphilosophie wieder auf die Agenda gegenwärtigen Denkens setzen.

Besprochen werden der Howard-Hughes-Film "The Aviator" von Martin Scorcese und Bücher, darunter ein Band mit Zeitzeugenberichten von ukrainischen Überlebenden des Holocaust und die postum erscheinende Autobiographie des "Betriebsrats, Häuptlings, Fabrikarbeiters" Willi Hoss (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 18.01.2005

Knut Henkel erinnert an die Blüte der ehemalige kubanischen Zuckerstadt Matanzas, deren Kulturszene im 19. Jahrhundert zeitweise sogar Havanna in den Schatten stellte. Unbestrittene Nummer eins war das Teatro Sauto, in dem Sarah Bernhardt 1887 mit ihrem Ensemble die 'Kameliendame' aufführte. Jürgen Tietz sichtet neue Essays des Architektekten Hans Kollhoff, in denen er "in fast alttestamentarischem Zorn" mit dem Bauhaus abrechnet.

Peter Hagmann bespricht die Aufführung von Paul Dukas' selten gespielter Oper "Ariane et Barbe-Bleue" am Opernhaus Zürich, Barbara Spengler-Axiopoulos schreibt über Soti Triantafillous Roman "Die Bleistiftfabrik". Hans-Albrecht Koch widmet sich der Sonderausstellung über Byzanz in der Archäologischen Staatssammlung München. Urs Bitterli preist in höchsten Tönen Thomas Maissens im NZZ-Verlag erschienene Geschichte der NZZ. Und Christian Wildhagen bespricht Anselm Gerhards Buch über den seiner Meinung nach zu unrecht geschmähten Komponisten Muzio Clementi (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 18.01.2005

Dirk Knipphals lüftet ein Geheimnis: Hinter der Autorin Sophie Dannenberg ("Das bleiche Herz der Revolution") verbirgt sich die Berliner Radiojournalistin Annegret Kunkel. Niemand Prominentes also, und niemand, der mit seinen prominenten 68-Eltern abrechnen wollte: "Interessant an der Rätselraterei war allerdings immerhin, dass man seine Fantasie entweder in Richtung Renegatentum schweifen ließ oder eine biografisch motivierte Abrechnung vermutete. Nun gilt es wohl eher ins Auge zu fassen, dass eine junge Autorin ein Thema gesucht hat, um in der Debattenmaschine Fuß zu fassen. Wie immer man dazu steht: Das ist ihr gelungen. Manchmal steckt eben weniger dahinter, als man immer denkt."

Politik als Konsensproduktion
beschreibt der Soziologe Dirk Baecker in der Kolumne "Sozialkunde". Und inwiefern "Selbstbefriedung eine Art von Illusion" darstellt. Vor diesem Hintergrund liest sich sein erster Satz doch irgendwie andeutungsvoll-bedeutsam: "Die letzte Lieferung dieser Kolumne hat an das Moment der Inszenierung in jeder Form von sozialer Gewalt erinnert, weil nur vor diesem Hintergrund der Politikbegriff korrigiert werden kann, der sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft allzu sehr ins Blauäugige verschoben hat, und zwar im sozialdemokratischen ebenso wie im konservativen und im grün-alternativen Diskurs." Wir vermuten, dass der Autor schlicht spät dran war und der Redakteur deshalb entsprechend nervös.

Kommt nicht so oft vor, dass einem Roman gleich zwei Texte gewidmet werden. Doch Michael Crichton hat mit "Welt in Angst" einen solchen vorgelegt, der das offenbar notwendig macht. Kolja Mensing erledigt die Besprechung, und Tim Bartles kümmert sich um die Einordnung und Bewertung der - wie immer - wissenschaftlichen Hintergründe von Chrichtons Story, der diesmal die These von der durch den Menschen verursachten Klimaerwärmung vehement anzweifelt (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Besprochen wird das Gastspiel von Christoph Marthalers Inszenierung von Texten zur See "Seemannslieder/Hoffnung auf Segen" gastierte am Wochenende im Berliner Theater Hau 1.

Schließlich Tom.

SZ, 18.01.2005

Die SZ dokumentiert einen Brief, den der Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowski einer russischen Zeitung aus dem Gefängnis schickte. Darin übt "Russlands berühmtester Häftling" zwar heftige Kritik am Vorgehen der Behörden, gibt sich ansonsten aber geläutert: "Nicht ich kontrollierte meine Besitztümer, sie kontrollierten mich. Deshalb möchte ich alle jungen Menschen warnen: Beneidet nicht jene, die großen Reichtum besitzen. Denkt nicht, ihr Leben sei einfach. Besitz schafft neue Möglichkeiten, aber er lähmt die Kreativität, er verwässert die Persönlichkeit. Die Tyrannei des Besitzes ist grausam."

Weitere Artikel: Unter der Überschrift "Der Eigensinn des Mitgefühls" unterzieht Moshe Zimmermann, Leiter des Richard Koebner Center for German History in Jerusalem, die unterschiedlichen Reaktionen auf Katastrophen wie Tsunami, Hungerepidemien und Shoah einem historischen Vergleich. Der Künstler Hans Haacke erläutert in einem Interview seine Pläne für ein Rosa-Luxemburg-Denkmal in Berlin ("Keine der Rosa-Fraktionen wird dieses Denkzeichen für sich requirieren können"). Ira Mazzoni sorgt sich, dass das "schwierige Denkmal" des Nazi-Seebads Prora durch Verkäufe Schaden nimmt. Alexander Kissler überlegt, ob ein "Genohype" nun gerade erst begonnen hat oder bereits hinter uns liegt. Susan Vahabzadeh berichtet über den Golden Globe, wo Martin Scorseses "Aviator" zwar abräumte, der Regiepreis aber trotzdem "wieder mal" an Clint Eastwood ging. Ralf Hertel resümiert eine Tagung des Berliner Literaturhauses mit dem Titel "Verbergen - Überschreiben - Zerreißen" über das Schicksal der Bücher.

"haj" glossiert den Warnhinweis auf dem neuen iPod shuffle ("Do not eat iPod shuffle"), mit dem sich das Unternehmen - unfreiwillig? - an einer Art Wettbewerb beteiligt, in dem es darum geht, mittels absurder Warnungen auf Produkten die Prozesshanselei der Amerikaner zu karikieren. "midt" kommentiert die "märchenhafte" soziale Abfederung, die Frank Castdorf nach Absetzung als Geschäftsführer der Ruhr-Festspiele weiter genießt. Und in der "Zwischenzeit" hält Claus Heinrich Meyer ein flammendes Plädoyer gegen die Unpersönlichkeit von E-Mails. Zu lesen ist schließlich ein kurzer Nachruf auf Danny Sugerman, den Manager der Doors und die Meldung, dass das Saar-Theater zur kommenden Saison eine seiner drei Spielstätten aufgeben muss.

Besprochen werden Calixto Beitos Inszenierung von "Carmen" für die Vlaamse Opera, eine Ausstellung des "fast vergessenen" Malers Gillis Mostaert im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, Peter Flinths Film über den "Fakir" aus Bilbao mit Moritz Bleibtreu, und Bücher, darunter ein Band über "Wilde Tiere in der Großstadt" (siehe hierzu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).