Im Kino

Familienrituale

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Jochen Werner
17.11.2016. In Omer Fasts Kinoversion seiner Installation "Continuity" wirkt die behauptete erzählerische Offenheit wie eine Absicherung. Netflix hat seit dieser Woche Jeff Wadlows "Die wahren Memoiren eines internationalen Killers" im Programm, eine sympathische Kevin-James-Komödie. Das Problem: Bekommt das überhaupt jemand mit?


Es gibt diesen seltsamen Moment, wenn Menschen, die sich zwar sehr gut kennen, sich aber schon eine Weile nicht mehr gesehen haben, plötzlich wie Fremde voreinander stehen. All das Wissen über den Anderen, all die geteilten Erfahrungen scheinen für einen verstörenden Augenblick keine Sicherheit mehr zu bieten. In Omer Fasts "Continuity" gibt es gleich mehrere dieser Situationen, die immer demselben Aufbau folgen: Ein Ehepaar mittleren Alters (André Hennicke, Iris Böhm) holt den Sohn (zunächst: Josef Mattes) - einen Soldaten, der gerade in Afghanistan gedient hat - an einem verlassenen Provinzbahnhof ab. Die Familienmitglieder sind nervös und überfordert, nehmen sich zögerlich, dann aber doch intensiv in den Arm und warten darauf, dass alles so wie früher wird. Während der Sohn von der Unmöglichkeit dieses Wunsches weiß und maulfaul in seinem "Lieblingsessen" stochert, versuchen seine Eltern die verlorene Normalität zu erzwingen.

Omer Fast macht das Fremdeln zum Leitmotiv seines Films. Nicht nur, weil die Figuren erfolglos versuchen, den tiefen Graben zwischen sich zu ignorieren, sondern auch, weil wir als Zuschauer nie wirklich vertraut mit ihrer Welt werden. Statt das Familiendrama als lineare Erzählung weiterzuspinnen, bricht "Continuity" mit dem Realismus und schickt uns in eine Endlosschleife grotesk verzerrter Familienrituale. Mehrmals wird die Geschichte des Heimkehrers wiederholt; mit denselben Eltern, aber unterschiedlichen Söhnen und dementsprechenden Variationen in der Handlungsabfolge. Die Künstlichkeit, die Fast inszeniert, lässt ahnen, dass es weniger um reale Erfahrungen geht, als um reine Trugbilder. Und diese entlarven schließlich die Ängste und Agressionen, die sich hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Idylle verbergen.

"Continuity" basiert auf einer mittellangen Installation, die auf der Documenta 13 präsentiert wurde. Mit neu gedrehtem Material hat sie Fast zu einem Langfilm erweitert, der jedoch immer noch keine endgültige Form darstellt. Der israelische Videokünstler bezeichnet sein Projekt als ständiges work in progress, dem man seine Offenheit auch in der aktuellen Fassung deutlich anmerkt: Mit erzählerischen Ellipsen, spärlichen Dialogen und vieldeutig dreinschauenden Gesichtern wird verhindert, dass sich ein Eindruck von Geschlossenheit einstellt. Wie sich die verschiedenen Zeit- und Wahrnehmungsebenen genau zueinander verhalten, bleibt bis zum Schluss rätselhaft. Die Kontinuität des Titels drückt sich nicht nur in den vielen Wiederholungen aus, sondern mehr noch über die Parallelen, die der Film zwischen dem afghanischen Schlachtfeld und der geisterhaften Vorstadt Brandenburgs zieht.



Sobald der erste Junge in der modernistischen Gruselvilla angekommen ist, muss er ein Prozedere über sich ergehen lassen, als wäre er gerade in Kriegsgefangenschaft geraten: die Zigaretten werden einkassiert, der Mund unsanft nach neuen Piercings untersucht und beim Abendessen herrscht eine bedrückende Verhöratmosphäre. So wie der Staat im Krieg über den Körper des Jungen bestimmt und ihn für seine Zwecke missbraucht, beanspruchen auch die Eltern den Sohn für sich. Die Armee, die als Erinnerung in kurzen Flashbacks auftaucht, übernimmt nicht nur als schützende soziale Einheit die Funktion einer Ersatzfamilie, sondern setzt ebenso die Unmündigkeit ihrer "Kinder" voraus. Es gibt interessante, mitunter auch schön provokante Gedankenspiele in "Continuity". In einem Nebenerzählstrang, bei dem zunächst nicht klar ist, wie er sich zur restlichen Handlung verhält, geht es um einen jungen Mann (Constantin von Jascheroff), der seine Drogensucht über Prostitution finanziert. Dass Fast ihn auch als Deserteur in Afghanistan zeigt, offenbart, was das Militär für ihn ist: Nicht mehr als ein Puff, in dem naive Jungs verheizt werden.

Das Seltsame an "Continuity" ist, wie der Film erzählerische Freiheit suggeriert, dabei aber ziemlich erdrückend wirkt. Die räumliche und zeitliche Geschlossenheit seiner Szenen durchbricht Fast mit starken Rissen. Eine etwas prolligere und geschwätzigere Version des Sohnes (Lukas Steltner) holt einmal mit einer geschmacklosen Anekdote eine afghanische Familie ins Wohnzimmer und etwas später sehen die Eltern in einer brandenburgischen Baugrube die Leichen deutscher Soldaten liegen. Doch trotz dieser scheinbaren Durchlässigkeit wirkt der Kosmos des Films luftleer und aseptisch. Nichts kann eindringen, was nicht auch unbedingt hingehört. Wenn es zwischen den Soldaten oder den Familienmitgliedern zu zärtlichen Annäherungen kommt, wirkt das weniger wie eine sexuelle Grenzüberschreitung, als wie eine pragmatische Entscheidung aus Mangel an Alternativen. Fasts Figuren sind wie Zombies, wie gefangen in einem Automatismus, der vom strengen Konzept des Films bestimmt wird.

Nun ist gerade das Leblose und Bedrohliche zwar ein bewusster Teil der Inszenierung. Das Problem dabei ist jedoch, dass Fast dafür sämtliche Stereotypen eines kargen Kunstkinos auffährt, das vorgibt, vieles zu meinen, aber letztlich wenig zu sagen hat. Die behauptete erzählerische Offenheit wirkt wie eine Absicherung. Wenn "Continuity" das Militär ebenso abwatscht wie die bürgerliche Familie, versucht er diese Kritik weniger plump erscheinen zu lassen, indem er sich in die Mehrdeutigkeit rettet. Der Film ist tatsächlich immer dann am schlimmsten, wenn er sich zu etwas Konkretem bekennt; wenn er bei den hölzernen Dialogen eines mittelmäßigen Fernsehspiels landet oder die verschiedenen Erzählstränge mit dem naheliegendsten Drehbuch-Klischee (Autounfall) zusammenbringt. Dass sich das Fremdeln in "Continity" als produktiv erweist, liegt vor allem daran, dass die Begegnungen mit dem Vertrauten so banal ausfallen.

Michael Kienzl

Continuity - Deutschland 2016 - Regie: Omer Fast - Darsteller: André M. Hennicke, Iris Böhm, Constantin von Jascheroff, Bruno Alexander, Josef Mattes, Lukas Steltner, Anne Ratte-Polle - Laufzeit: 85 Minuten.

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Seit die Internet-Bandbreiten das massenhafte Streamen, Up- und Downloaden von Kinofilmen in qualitativ hochwertigen Versionen ermöglichen, ist das Web Projektionsfläche einer cinephilen Utopie geworden: ein Weltkinoarchiv, alles stets verfügbar, in Sekundenschnelle mittels weniger Klicks. Nicht ganz zu Unrecht, ist doch die Fülle einstmals entlegenster Filme inzwischen beeindruckend. Zur Zeit macht etwa der YouTube-Kanal "Heimatfilme" sich daran, deutsche Kinogeschichte aus den Rechtebeständen des einstigen Medienmoguls Leo Kirch zu retten und in oftmals hervorragenden Transfers legal und kostenlos verfügbar zu machen. Und unter diversen Steinen im Wald findet sich Verschollenes, Obskures, Sperriges, Ignoriertes, Vergessenes - in der Form von Digitalisaten mitunter jahrzehntealter TV-Mitschnitte oder kurz vor dem Exitus stehender VHS-Tapes, oftmals in mühevoller, unbezahlter Heimarbeit englisch untertitelt und somit einem internationalen Publikum zugänglich gemacht.

An einem freilich besteht nach wie vor schmerzlicher Mangel - an der Möglichkeit, diejenigen, die Filme machen und zeigen, online angemessen dafür zu bezahlen. Loggt man sich etwa auf der Website des längst zur Weltmarke avancierten Streaming-Services Netflix ein, so starrt man in eine cinephile Wüstenei. Das vermeintliche Weltkinoarchiv vermag es kaum mit einer mittelmäßig sortierten Videothek aufzunehmen - eher erinnert das Filmangebot an das eine Regal im hintersten Winkel der Video-World-Filiale um die Ecke, wo seit acht Jahren nicht mehr ausgeliehene Ladenhüter neben einer Handvoll mehrheitsfähiger Neoklassiker - Tarantino, Coen Brothers etc. - verstauben. Besserung ist nicht in Sicht. Eher im Gegenteil: die auf Blogs veröffentlichten Listen von Filmen, die allmonatlich aus dem Angebot gelöscht werden, sind lang und werden durch die neu hinzugefügten Filme selten ausgeglichen.

Überstrahlt wird dieses verblüffend mangelhafte Angebot freilich durch das Format "Netflix Originals". Unter diesem Label vermarktet Netflix nicht nur Eigenproduktionen, sondern auch auf Filmmärkten eingekaufte Independent-Produktionen - und, vor allem: Serien. Seit dem Einstieg mit der bei Publikum wie Kritik erfolgreichen Politserie "House of Cards" wurde die Erfolgsgeschichte mit Formaten wie "Orange Is the New Black" oder jüngst "Stranger Things" fortgesetzt. Die parallele Auswertung auf Heimvideomedien wie DVD oder BluRay kommt in den Plänen des Streaming-Services immer seltener vor - eine Strategie, um leidenschaftliche Serienzuschauer an sich zu binden. Kino war gestern, Serie ist heute - jedenfalls für Netflix.

Derzeit befindet sich der Anbieter freilich noch in einer Übergangsphase - erst 2014 hatte Netflix einen vieldiskutierten Vertrag mit dem Filmkomiker Adam Sandler abgeschlossen. Ende 2015 erschien mit "The Ridiculous 6" unter vernichtenden Kritiken der erste im Rahmen dieses Vertrages produzierte Film. Nicht einmal ein halbes Jahr später erschien die zweite Produktion, der deutlich gelungenere "The Do-Over". Im Mai, als "The Do-Over" veröffentlicht wurde, schien das aber niemanden mehr wirklich zu interessieren. Die ambitionierten Filmdeals wirken wie Relikte einer abgelegten Geschäftsstrategie des Anbieters, der sich fortan noch stärker dem Format der Serie zuwenden wird.



Ähnlich, wenngleich nochmal eine Nummer kleiner, wiederholt sich dies bei "Die wahren Memoiren eines internationalen Killers" - einer am Wochenende als Netflix Original veröffentlichten Komödie mit dem vor allem aus der Sitcom "The King of Queens" bekannten Komiker Kevin James. Das Format eines Kinostars wie Sandler hat James trotz mehrerer gemeinsamer Filme, darunter das Meisterwerk "Grown Ups 2", zwar nie erreicht. Mit Werken wie "Paul Blart: Mall Cop" oder "Here Comes the Boom" überzeugte er gleichwohl auch als alleiniger Hauptdarsteller so sympathischer wie humanistischer Kinokomödien. "Die wahren Memoiren eines internationalen Killers" ist keineswegs schwächer als diese - im Gegenteil.

Das zeigt schon die formal ambitionierte Titelsequenz, die den Hobbyschriftsteller Sam Larson mit seinem Alter Ego, dem internationalen Superattentäter Mason Carver, verschaltet - durch eine Reihe von Textkorrekturen und den einen oder anderen Writer's Block hindurch. Starrt der Autor auf das leere Blatt Papier, hängt der Held in der Warteschleife - Augenblicke immer ein wenig zu sehr gedehnter Peinlichkeit, die für den Charakterdarsteller James wie geschaffen sind. Mit viel Leidenschaft und ein paar Insiderstorys seines einst für den Mossad arbeitenden Billardkumpels Amos gelingt es dem in einem deprimierenden Bürojob schuftenden Larson schließlich, seinen Roman abzuschließen - und eine junge, ziemlich skrupellose Verlegerin zu finden, die aus dem Buch einen Bestseller macht: Indem sie das Genre von "Roman" zu "Autobiografie" ändert, was nicht nur zahlreiche Leser, sondern auch einige alte Bekannte eines legendären, totgeglaubten Attentäters auf Sam aufmerksam macht.

Der findet sich bald in Venezuela wieder, wo er nacheinander von einem Revolutionär (Andy Garcia), einem russischen Drogendealer und einem Berater des Präsidenten gekidnappt und mit wechselseitigen Mordaufträgen bedacht wird. Schließlich gerät er an die als Einzelkämpferin agierende DEA-Agentin Rosa Bolivar (Zulay Henao), die freilich nicht nur versucht, ihn am Leben zu halten, sondern ihn wiederum für ihre eigenen Ziele einspannt.

Regisseur Jeff Wadlow, der schon mit Filmen wie dem sacht experimentellen Slasher "Cry_Wolf" oder dem maßlos zynischen Sequel "Kick-Ass 2" - von wenigen geschätzt, aber in Sachen Konsequenz dem halbgaren Vorgänger von Matthew Vaughn überlegen - bewies, dass er vordergründig simple Genrestoffe ambitioniert und mit einem Hauch von Subversion zu bearbeiten versteht, inszeniert "Die wahren Memoiren eines internationalen Killers" als rasante Actionkomödie. Eher quirky als abgründig und im großen Handlungsbogen vorhersehbar, aber in kleinen Einfällen erfrischend verschroben - insbesondere Zulay Henao fällt als begabte Komödiantin auf -, und in der humanistischen Tradition verwurzelt, die die Arbeiten von James und Sandler prägt.

Wie schon im Falle von "The Do-Over" darf man sich über eine weitere, schöne Komödie eines begabten Kinokomikers freuen. Schade, dass man sie nicht auch im Kino sehen kann.

Jochen Werner

Die wahren Memoiren eines internationalen Killers - USA 2016 - OT: True Memoirs of an International Assassin - Director: Jeff Wadlow - Darsteller: Kevin James, Andy Garcia, Zulay Henao, Kim Coates, Maurice Compte - Laufzeit: 98 Minuten.