Wo wir nicht sind

Am Grund des lila Teiches deiner Angst

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
03.09.2021. Die simbabwische Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangerembga bekommt in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Roman-Trilogie um Tambudzai Sigauke folgt dem wechselvollen Lebensweg einer Frau, die sich gegen koloniale Demütigung und überkommenen Traditionen behaupten muss. Es ist auch die Geschichte ihres Landes.
Es ist immer aufregend, wenn ein bedeutender Literaturpreis an eine Schriftstellerin geht, auf die der Betrieb nicht vorbereitet war. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der in diesem Jahr an Tsitsi Dangarembga verliehen wird, hat sowohl den Markt als auch die Kritik unvorbereitet getroffen. Kaum jemand kannte die Autorin, Filmemacherin und Aktivistin aus Simbabwe, und auch ihr eigener engagierter Orlanda-Verlag musste eilig neue Auflagen in Druck geben. Es gilt, nicht nur eine literarische Autorin zu entdecken, sondern auch eine politische Stimme. Dangarembga entlässt niemanden aus der Verantwortung, wenn sie für mehr postkoloniale Gerechtigkeit streitet, für mehr Frauenrechte und gegen die Unersättlichkeit der Herrschenden in Simbabwe selbst. Mit ihrem Schaffen zielt sie durchaus auch auf globale Diskurse, vor allem aber auf die Öffentlichkeit im eigenen Land, wie etwa ihr Film "Kare Kare Zvako - Mother's Day" zeigt, eine poetische Schauerparabel über die "Aufopferung der Frau" in Shona-Tradition:



Tsitsi Dangarembga wurde 1959 in Mutoko geboren, hundert Kilometer westlich von Harare, das damals Salisbury hieß und Hauptstadt der britischen Kolonie Rhodesien war. Sie hat erst die Demütigung des Kolonialismus erlebt, dann Rhodesien als weißen Siedlerstaat, den Befreiungskrieg und schließlich die endgültige Unabhängigkeit Simbabwes im Jahr 1980, dessen Hoffnungen unter dem einst verehrten Kämpfer Robert Mugabe kontinuierlich zunichte gemacht wurden. Mugabe und seine Entourage wirtschafteten das Land herunter, und auch unter dem neuen Machthaber Emmerson Mnangagwa wird es nicht auf die Beine kommen. Derzeit blickt sie für ihre Teilnahme an Protesten gegen die Korruption im Land einem Prozess entgegen.

In ihrer dreißig Jahre umspannenden Trilogie erzählt Dangarembga nicht nur die Geschichte einer weiblichen Emanzipation, sondern auch die eines Landes, das nach seiner Unabhängigkeit seine innere Freiheit finden muss. Es ist eine Geschichte von Bildung und Aufstieg, aber auch von zerschlagenen Hoffnungen, Härte und Entfremdung und gelegentlichen Eruptionen der Gewalt. Sie setzt damit den großen Bildungsbiografien von Chinua Achebe und Ngugi wa Thiongo eine weibliche Erzählung entgegen. Wie schonungslos und selbstkritisch Dangarembga schreibt, macht gleich der erste Satz in "Aufbrechen" deutlich, mit dem sie ihre Trilogie vor mehr als dreißig Jahren begann: "Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb."

Es ist das Bekenntnis der dreizehnjährigen Tambudzai Sigauke, Tambu genannt, die durch den Tod ihres Bruders die Chance erhält, in die von ihrem Onkel geleitete Missionsschule zu gehen. Tambu lebt Ende der sechziger Jahre mit ihrem Eltern in kläglicher Armut auf dem Land, Rhodesien hat sich gerade als weißer Siedlerstaat von Großbritannien unabhängig gemacht. Die Eltern können sich das Schulgeld nicht leisten, erst recht nicht für ein Mädchen. Ihr Vater lehnt Bildung für Mädchen rundweg ab, auch die Mutter kann sich für ihre Tochter keine andere Rolle als die traditionelle vorstellen: "Wenn Opfer gebracht werden müssen, bist du diejenige, die sie bringen muss", bereitet sie sie aufs Frausein vor: "In unserer Zeit ist es am schlimmsten; einerseits das Elend, eine Schwarze zu sein, andererseits die Bürde, eine Frau zu sein. Aiwa! Was dir helfen wird, mein Kind, ist zu lernen, deine Bürde mit Ausdauer zu tragen."

Tambu lehnt sich gegen ihr Schicksal auf. Schon als Achtjährige hat sie auf einer kleinen Parzelle ihren eigenen Mais angebaut, um sich selbst das Geld für die Dorfschule zu verdienen. Doch durch den Tod ihres Bruders kann sie der Armut ihrer Eltern entkommen, sie wird bei ihrem Onkel Babamukuru aufgenommen, dem Patriarchen der Familie, der als Schulleiter zu Ansehen und Wohlstand gelangt ist.

Ihre Tante Maiguru hat ebenfalls in England und Südafrika studiert, sich nach ihrer Rückkehr jedoch umstandslos in ihre Zweitrangigkeit gefügt. Anders Tambus temperamentvolle Cousine Nyasha: Sie ist in England zur Schule gegangen, während ihre Eltern dort ausgebildet wurden, und von Autonomiestreben und kritischem Denken nicht unberührt geblieben: Sie opponiert gegen ihren autoritären Vater und die überkommenen Traditionen. Aber es droht sie innerlich zu zerreißen, dass sich ihre Rebellion gegen den Vater auf das intellektuelle Instrumentarium der kolonialistischen Unterdrücker stützt.

"Nervous Condition" lautet der Titel von "Aufbrechen" im englischen Original, er bezieht sich auf Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialistischer Schrift "Die Verdammten dieser Erde". Sartre hatte in dem berühmten Text die Situation des kolonisierten Menschen als einen "neurotischen Zustand" beschrieben, in dem sich die Entfremdungen auftürmen und die Unterdrückten ihre zurückgehaltene Wut gegen sich selbst kehren. In "Aufbrechen" wird Nyasha von der Unmöglichkeit verzehrt, gegen ihre Eltern aufzubegehren, ohne illoyal zu werden. Sie wird magersüchtig und - welch böse Ironie - ihre Eltern wissen sich nicht anders helfen, als sie zu Psychiatern nach Salisbury zu schicken. Tambus Mutter hat ihre eigene Erklärung dafür: "'Es ist das Englischsein', sagte sie. 'Es wird sie noch alle töten, wenn sie nicht aufpassen.'"

In "Aufbrechen" beobachtet Tambu als jugendliche, aber kluge und sensible Ich-Erzählerin, wie die Frauen in ihrer Familie mit Zwängen und der zweifachen Unfreiheit umgehen, die ihnen kolonialistische Unterdrückung einerseits, patriarchale Traditionen andererseits auferlegen. Ihre eigene Biografie scheint eine der stetigen Emanzipation zu werden, als intelligente Schülerin schafft sie es am Ende auf das Young Ladies College of the Sacred Heart, eine außergewöhnliche Karriere für eine schwarze Frau in Rhodesien.

Der zweite Teil der Trilogie liegt auf Deutsch noch nicht vor, wegen eines Rechtewechsels ist die Reihenfolge durcheinandergeraten, wie der Verlag mitteilt. Umso unvorbereiteter trifft einen der Schock, wenn Tambudzai im dritten Teil "Überleben" mit Ende dreißig als gescheiterte Frau dasteht. Der Ton in diesem - etwas flüssiger übersetzten - dritten Teil ist satirisch geworden, die Erzählung wechselt von der ersten Person in die zweite Person, das elegische Imperfekt weicht einem sehr direkten Präsens.  Durch das "Du" fühlt sich die Leserin nicht nur angesprochen, sondern auch gemeint. Es klingt nicht unbedingt wie eine Anklage, aber doch wie ein sehr nachdrücklicher Aufruf zur kritischen Selbstvergewisserung.

Tambu lebt jetzt, in den neunziger Jahren, in Harare in einem Wohnheim für alleinstehende Frauen. Sie ist arbeitslos, ledig und von den jüngeren Frauen wegen ihres als minderwertig betrachteten Beziehungsstatus verachtet. Auch die ungebrochenen Sympathien ihrer Leserinnen verspielt Tambu recht bald, in einer bedrückenden Szene zu Beginn des Buches: Der Minibusfahrer weigert sich, eine Frau mitnehmen, die seiner Ansicht nach zu spärlich gekleidet ist. Tambu erkennt in ihr eine Mitbewohnerin, die beneidenswert schöne Gertrude, doch sie kommt ihr nicht einmal zu Hilfe, als Gertrude von der Menge verhöhnt und gedemütigt am Boden liegt: "Die Menge lacht schallend. Du auch."

Was ist passiert? Was hat aus der aufstrebenden Tambu eine Frau gemacht, die nicht nur keinen Platz im Leben gefunden, sondern auch ihren moralischen Kompass verloren hat? Von Tambus Jahren auf dem College wissen wir ebenso wenig wie von der Zeit des Bürgerkrieges. Wurde sie auf dem College um die Anerkennung gebracht, weil sie schwarz war? Hat sie ihren Job bei der Werbeagentur hingeworfen, weil ihre guten Ideen von weißen Männern für sich reklamiert wurden? Es kann so gewesen sein, aber auf Tambus Urteilsvermögen darf niemand mehr bauen. Selbstreflexion hält sie für Ausdruck westlicher Überspanntheit: "Simbabwische Frauen, rufst du dir ins Gedächtnis, wissen, wie man Dinge zum Verschwinden bringt. Sie kreischen vor Trauer und wälzen sich hin und her. Sie ziehen in den Krieg. Sie setzen Patienten unter Drogen, um voranzukommen. Sie machen weiter. Wenn aus einer Sache nichts wird, wendet sich eine simbabwische Frau einfach der nächsten zu."

In völliger Verkennung der Realität, von ihrer Familie entfremdet und ohne Empathie für ihre Mitmenschen, driftet Tambu durch Harare und verbarrikadiert sich in Niedergeschlagenheit und Ressentiments: "Die Hyäne sitzt am Grund des lila Teiches deiner Angst und lacht." Sie zieht in die Villa einer fundamental-christlichen Witwe, deren Söhne immer ungeduldiger nach ihrem Erbe trachten. Tambu spielt mit dem Gedanken, einen von ihnen zu heiraten, bis dieser versucht, seine Mutter umzubringen. Dann beginnt sie an einer Schule zu unterrichten, bis sich ihre Frustrationen in einer Eruption der Gewalt entladen. Sie kommt in eine Nervenklinik, doch auch der Kollaps wird die arme Tambu nicht zur Besinnung bringen.

"Überleben" strotzt vor karikierendem Witz wie auch vor scharfsinnigen Beobachtungen zum simbabwischen Alltag und globalen Diskurs. Man spürt das Vergnügen, mit dem Dangarembga Gewissheiten gegen den Strich bürstet. Konsequent lässt sie ihre verstörte Heldin die falschen Entscheidungen treffen und auch die wohlmeinenden Verwandten können ihr nicht helfen: Die Mutter, die vom Land einen Sack Maismehl schickt, die Tante, die in Moskau als Kombattantin ausgebildet wurde, oder die Cousine Nyasha, die mit ihrem deutschen Mann Leon aus Europa zurückkehrt ist und nun für eine NGO Empowerment-Workshops gibt - während Leon, der super kritische, Fela Kuti verehrende Doktorand seine Stipendien vertrödelt, aber Simbabwern Lektionen erteilt.

Das Allegorische der bildstarken Erzählung ist evident. Mit der taumelnden Tambu zeichnet Dangarembga auch das Bild eines strauchelnden Landes, dessen politischer und moralischer Kollaps durchaus die Folge von jahrzehntelanger Ausbeutung und Demütigung ist. Aber eben nicht nur. Er ist auch die Folge verschenkter Freiheit, falscher Ideale und verratener Freundschaft.

Die letzte Pleite übrigens, die Tambu erlebt, wird ihr von einer früheren Kommilitonin bereitet: Sie stellt sie in ihrer Reise-Agentur Green Jacaranda ein, die statt der alten Safari-Reisen jetzt Ghetto Getaways und Village Eco Transits anbieten - für umweltbewusste und postkolonialistisch reflektierte deutsche Mittelschichtstouristen.

Tstsi Dangarembga: Aufbrechen. Roman. Aus dem Englischen von Ilija Trojanow. Orlanda Verlag, Berlin 2019, 265 Seiten, (Bestellen)

Tstsi Dangarembga: Überleben. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Orlanda Verlag, Berlin 2021, 370 Seiten, 24 Euro (Bestellen)