Es gibt einen bekannten Ausspruch von Karl Marx über den Staatsstreich von Louis-Napoleon Bonaparte: "Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen:das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce." Und weiter: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden." Woher rührt das Gefühl, dass manche Generationen wie Parodien erscheinen, die auf ungelenke Art wiederkäuen, was ihre talentierteren Vorgänger aussprachen? In dem Feld, das uns hier beschäftigt, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die großen Vordenker des Antikolonialismus Frantz Fanon, Léopold Sédar Senghor, Patrice Lumumba, Aimé Césaire, Albert Memmi oder Edward Saïd ganz unabhängig davon, ob man mit ihren Inhalten einverstanden ist, niemals weitergedacht, immer nur parodiert wurden. Man vergisst häufig, dass diese illustren, oftmals marxistisch geschulten Figuren selbst Universalisten waren. Das Ziel, das sie mit Nelson Mandela oder Martin Luther King verband, war die Versöhnung des Menschengeschlechts und nicht die Beförderung tribalistischer Konflikte. Ihr Ziel war es, das Universelle auf die Kolonisierten, die Sklaven, die Verdammten der Erde auszudehnen. Ihre selbsternannten Erben haben sich jedoch von dieser Botschaft entfernt. In der Korruption dieses Gedankens liegt die Ambiguität der post- oder dekolonialen Wissenschaften.

"Kolonialismus" ist längst zu einem Kofferwort geworden, ein Begriff ohne Zeitbezüge, der gegen alles und jeden verwendet wird. Jeder kann nach Belieben das imaginäre Land der Sklaverei oder des Kolonialismus bewohnen. Aus ehemals trennscharfen Begriffen sind längst Orte geworden, die man vorübergehend bewohnt, um der eigenen Wut oder Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Man schreibt sich in eine glorreiche Geschichte ein und verzerrt sie zugleich. Generationen von Intellektuellen und Aktivisten, untröstlich über die vergangenen Kämpfe, greifen sechzig Jahre nach der Entkolonialisierung die Sprache der Befreiungskämpfe auf. Fröhlich verkünden sie den von Vorgängern verfassten Katechismus, als ob in den letzten Jahrzehnten nichts geschehen wäre. Sie erinnern an die japanischen Soldaten, die erst in den 1960er-Jahren vom Ende des Zweiten Weltkrieges erfuhren. Held zu sein ist eine Berufung. Sind die Kämpfe erstmal beendet, kann man sich frei von jedem Risiko als strahlender Aufständischer inszenieren.


Ist die Philosophie des Westens rassistisch?

Die gegen den Westen gerichtete Kritik des Universalismus ist in Wahrheit eine durch und durch westliche Auseinandersetzung, die ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert hat. Sie nimmt ihren Anfang mit der deutschen Philosophie, die dem französischen Rationalismus vorwirft, menschliche Vielfalt, Kulturen und Traditionen nicht ausreichend zu reflektieren. Was sie am französischen Denken kritisierte, war ein Herrschaftsstreben, das sich später in den napoleonischen Eroberungen und dem Kolonialismus manifestieren sollte. Diese Anschauung, die in Deutschland von Herder und Fichte (ein Bewunderer der Revolution von 1789) verkörpert wurde, lässt sich bis zu Abbé Raynal, dem Kritiker der "europäischen Barbaren", zurückverfolgen. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung war jedoch Rousseau, der beißende Kritiker der Illusion der Aufklärung, der Begründer der Romantik und der Anthropologie. Das imperiale Europa gab vor, das Universelle zu verkörpern, dabei erwies es sich als äußerst provinziell: Engländer und Franzosen begnügten sich damit, im Namen der Zivilisation, den Handel mit Pudding und Cheddar-Käse respektive Rotwein und Baguette zu fördern.

Die sogenannte "dekoloniale" Strömung hat die Absicht, die Festungen des Nordens anzugreifen und zu schleifen. Sie fordert die Kolonisierung des Westens durch ehemals Kolonisierte, so wie sich früher Rom seinen griechischen Herren zum Untertanen machte. Man erzählt uns, dass Afrika vor der kolonialen Invasion ein wahres Paradies gewesen sein soll. Auch wenn kein Historiker diesem Mythos Glauben schenkt, versucht man aus dieser vermeintlichen Zerstörung Profit zu schlagen. Reue zeigen ist nicht mehr ausreichend. Es geht jetzt darum, Europa (und anschließend die Vereinigten Staaten) mit der tatkräftigen Hilfe aller aufgeklärten Europäer von innen heraus zu sprengen. So forderte die linksextreme Podemos-Partei 2016, dass sich Spanien beim Islam für die Reconquista Andalusiens und die Vertreibung der Muslime entschuldigt! Man stelle sich nur einmal das Gegenteil vor: Der Maghreb entschuldigt sich bei Spanien für die siebenhundertjährige Okkupation! Der Kampf um die Befreiung Spaniens, der mehrere Jahrhunderte andauerte, war der erste antikoloniale Krieg auf europäischem Boden. Aus der mit großer Brutalität geführten Reconquista gegen Juden und Araber ging 1478 auch die spanische Inquisition hervor, die die katholische Religion in eine Ideologie der Eroberung transformierte. Wenn aber die Rückeroberung "faschistisch und völkermörderisch" gewesen sein soll, müssen die Unabhängigkeitskriege der 1960er-Jahre neu bewertet werden, denn auch sie waren von Blutbädern und Vertreibungen, etwa derjenigen der arabischen Juden, gekennzeichnet. Das glorreiche Andalusien ist, wie wir längst wissen, ein Mythos, der sich vor den Tatsachen und historischen Analysen blamiert.

Das Köpfen von Christopher-Columbus-Statuen in den Vereinigten Staaten, das Beschmieren von Leopold-II-Denkmälern in Belgien, die Demontage des Monuments für Colbert, den Förderer des Code Noir, oder auch desjenigen von General Faidherbe in Lille bezeugt einen ikonoklastischen Furor, den Wunsch nach einer Tabula rasa. In allen Epochen hat man so gehandelt. Aber auf den Tischen stapeln sich Akten, und die Staatsanwälte konkurrieren in ihrem Eifer miteinander. Sie suchen fieberhaft nach möglichst kostengünstigen Wegen, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Die Statue von Cervantes, der fünf Jahre lang von Arabern als Sklave gehalten wurde, wird in San Francisco mit roter Farbe beschmiert, ebenso die Büsten von Churchill und De Gaulle, den beiden Siegern über den Nationalsozialismus. Nicht etwa die widersprüchlichen Persönlichkeiten dieser historischen Figuren werden als Verbrechen angesehen, sondern ihr Weißsein, ihr Konservativsein, die Tatsache, dass sie die Vorurteile ihrer Zeit teilten. Ghandi wurden bestimmte rassistische Aussagen über Afrikaner nachgesagt. Obwohl Nelson Mandela ihm diese mit Verweis auf historische Umstände und Kontexte verzieh, wurde in Ghana das Denkmal für den indischen Befreiungskämpfer entfernt. Und wer folgt morgen? Warum nicht Aimé Césaire, der mit den Behörden der Republik zusammenarbeitete. Oder Toussaint Louverture, der Befreier Haitis, der die Leibeigenschaft und den Prunk des Ancien Régimes wieder einführte. Oder Gaston Monnerville, dieser große Diener des französischen Staates? Oder auch der Kolonialverwalter Felix Éboué? Keine Person der Vergangenheit ist vollkommen. Sie waren immer zugleich Erneuerer und rückwärtsgewandt, Produkte ihrer Zeit. Wir urteilen über sie mit der Arroganz der Erben, wir zerren sie vor das Gericht der Gegenwart.

Was wir hingegen nicht sehen, ist wie weit sie sich, in Antizipation unserer Gegenwart, bereits von den Vorurteilen ihrer Zeit befreit haben. Ein Fanatismus der Reinheit: Wir suchen unbefleckte, untadelige, reine Helden. Diese aber hat es nie gegeben. Alle historischen Figuren hatten auch eine dunkle Seite, die ihre Bewunderer verzweifeln lässt. Selbst die "Bürgerrechtsikone" Angela Davis, nach der so viele französische Gymnasien benannt sind, war nicht ganz ohne Fehl. Der Sowjetunion und dem Stalinisten Erich Honecker begegnete sie mit großer Milde, man könnte auch von Komplizenschaft sprechen, während die politischen Gefangenen hinter dem Eisernen Vorhang ihr keine Solidarität wert waren. Für sie war es schlicht unvorstellbar, dass die Menschen in den Kapitalismus zurückkehren wollten, nachdem sie die Vorteile des Kommunismus genossen hatten. Diejenigen, die nicht den geringsten Beitrag zur Abschaffung von Sklaverei oder Kolonialismus geleistet haben, legen sich mit Phantomen an: In einem Akt retrospektiver ethnischer Säuberung soll jeder Hinweis auf diese Zeit aus dem Gedächtnis getilgt werden. Zu diesem Zweck sollen ganz nach ihren Vorstellungen Straßen umbenannt werden; die gesamte städtische Landschaft Europas muss ihren Launen unterworfen werden. Warum aber sollte man Denkmäler abreißen, wenn man sie auch als historische Lehrmittel benutzen kann? Man kann Erinnerung auch vielfältiger gestalten, wie sich am Beispiel einiger Städte an der Côte d’Azur sehen lässt. In Bandol werden etwa afrikanische Soldaten, die 1944 bei der Landung in der Provence ihr Leben ließen, mit einer Gedenktafel geehrt. Was wir brauchen, ist ein historischer Unterricht über Kolonialgeschichte und Sklaverei, nicht deren Reinwaschung oder Verdammung. Eine informierte Überzeugung ist der unwissenden Reinheit immer vorzuziehen. (Es ist im Übrigen bedauerlich, dass die Gedenktafeln für die Opfer des Bataclan, von Charlie Hebdo, des HyperCacher oder von Nizza von terroristischen Attentaten sprechen und nicht von islamistischem Terrorismus.) Das Paradox des vandalischen Kretinismus: Er löscht aus und verflucht, anstatt zu lehren. Er vergisst den Rat Martin Luther Kings an junge Amerikaner, "ihr Erbe nicht zu zerstören, sondern ihm gerecht zu werden."

"Europa ist nicht mehr der Ort, von dem aus über andere gesprochen wird, sondern das, worüber Asiaten und Afrikaner sprechen", bemerkt der Philosoph Souleymane Bachir Diagnei. Da nach dem Krieg eine Vielzahl von Kulturen die Bühne der Geschichte betraten, sei es notwendig, "das Imaginäre zu dekolonisieren" und anzuerkennen, dass die Philosophie nun ebenso durch Bagdad, Fez, Timbuktu verläuft wie durch Amsterdam oder Königsberg. In die gleiche Richtung geht die Forderung der französisch-kongolesischen Bergson-Kennerin Nadia Yala Kisukid, die das europäische Denken "entrassen" möchte, um der Vorstellung eines "griechischen Wunders" ohne afrikanische oder orientalische Einflüsse ein Ende zu bereiten. Der Aufklärung macht sie den Vorwurf, den Anderen auf fundamentale Art verdrängt zu haben. "Die Geschichte der Philosophie, d.h. die Darstellung ihrer griechischen Genese und ihrer ausschließlich europäischen Abstammung, die in der Neuzeit konstruiert wurde, besitzt einen diskriminierenden und identitätsstiftenden Charakter." Afrikaner müssten die "koloniale Bibliothek" (V. Y. Mudimbe) verlassen, damit sie nicht mehr genötigt sind, mit den Konzepten der ehemaligen Kolonisatoren zu denken.

Im Grund genommen wiederholen all diese Autoren bloß eine Kritik, die im 18. Jahrhundert bereits von Jean-Jacques Rousseau gegen den Narzissmus Europas erhoben wurde: "Seit drei-, vierhundert Jahren überschwemmen Europäer andere Erdteile, veröffentlichen ohne Unterlass Berichte ihrer Reisen und Erfahrungen, und dennoch bin ich davon überzeugt, dass wir keine anderen Menschen als Europäer kennen." Dieser Bruch mit der zirkulären Selbstbetrachtung der Kolonisatoren ist das zentrale Anliegen der Anthropologie. Claude Lévi-Strauss, dieser große Anhänger Rousseaus, war der erste, der den Versuch unternahm, sich selbst durch fremde Augen zu betrachten. Die Forderungen dieser Intellektuellen sind für sich genommen nicht ohne Berechtigung, aber ihr Begriff der westlichen Philosophie krankt an Vereinfachungen. Philosophie war zu keinem Zeitpunkt eine reine solipsistische, um sich selbst kreisende Reflexion. Keine Kultur war von einer solchen Neugierde gegenüber anderen Zivilisationen geprägt wie die europäische. Das ging so weit, dass die spätgriechische Philosophie die Überlegenheit der Barbaren (also der Ägypter) proklamierte und dadurch die eigene Sprache, eigene Institutionen und ihre Geschichte abwertete. Karl Jaspers sprach Mitte des 20. Jahrhunderts von der geistigen Schuld gegenüber Buddha und Konfuzius, Schopenhauer und Nietzscheiii waren von orientalischen Philosophien fasziniert und Pyrrhon war nicht der einzige alte Grieche, der von den "Gymnosophen", also Hinduisten und Buddhisten, beeinflusst war. All das scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Laut Roger-Pol Droit fand die Trennung zwischen dem Orient als Ort der Weisheit und Griechenland als Heimat der Philosophie im 19. Jahrhundert statt.

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Es ist evident, dass wir unser Verhältnis zu Afrika – oder vielmehr zu den Afrikas, denn nur der Plural wird diesem gewaltigen Kontinent gerecht – neu denken müssen. Vor allem müssen wir erkennen, dass das Wohl des Kontinents ausschließlich in den Händen seiner Bevölkerung liegt (auch wenn dieser Erdteil gerade dabei ist, von China erneut kolonisiert zu werden). Das Paradox gewisser Intellektueller scheint mir Folgendes zu sein: Indem sie Europa auf die Anklagebank zerren, befördern sie es ungewollt wieder ins Zentrum. Sie blenden aus, dass von den 27 Ländern der Europäischen Union lediglich acht Nationen, also weniger als ein Drittel, Kolonien unterhielten. Alle anderen waren selbst Opfer von Kolonisierung – durch das Russische und das Osmanische Reich oder durch die Sowjetunion. Bei manchen endete die Knechtschaft im 19. Jahrhundert, andere mussten bis 1989 warten. Der Wunsch, Europa zu marginalisieren, genauer gesagt zu "provinzialisieren" (Dipesh Chakrabarty), macht es erneut zum absoluten Brennpunkt. Die den Diskurs prägenden politischen Überbietungen, den stilistischen Manierismus und die theoretischen Basteleien nannte Jean-François Bayard einen "akademischen Karneval". Sechzig Jahre nachdem diese acht westeuropäischen Länder sämtliche Kolonien aufgegeben haben, fällt die Schuldzuweisung größer aus als je zuvor. Diese Nationen, die man wegen ihrer Vergangenheit angreift, spielen im Weltgeschehen keine bedeutende Rolle mehr, auch wenn die Europäische Union weiterhin eine Wirtschaftsmacht ist. Ihre Kritiker lassen sich davon nicht beirren. Die EU soll auch weiterhin von ihrem kolonialistischen Unbewussten bestimmt werden. Auf diese Art zollt man ihr Tribut, indem man sie angreift.

Wenn uns Europa tatsächlich so viele gute Gründe gibt, Europa zu verabscheuen (und ich möchte dem nicht widersprechen), wenn es ein Ort des Rassismus, der Unterdrückung und der Gewalt ist, warum möchten sich dann so viele hier niederlassen? Warum wollen so viel brillante afrikanische Köpfe hier unterrichten und publizieren? Es ist ihr größter Wunsch, von Ländern anerkannt zu werden, deren Politik sie leidenschaftlich angreifen. Ihre Philosophen, Schriftsteller und Romanautoren werden in Europa gefeiert, ausgezeichnet, mit Preisen überhäuft, aber die Verunglimpfungen gehen ohne Unterlass weiter. Man könnte das eine Verführung durch Beleidigung nennen: Nimm mich bei dir auf, damit ich dich besser verdammen kann. Eine äußerst bequeme Position. Man tadelt Europa, indem man es dazu zwingt, seine Ankläger in die Arme zu schließen. Die Manipulation der "weißen" Schuld kann ein wahrer Genuss sein. "Du hast mir Sprache beigebracht, und mein Gewinn ist, dass ich weiß, wie man flucht" (Shakespeare).

Der anglo-ghanaische Schriftsteller Kwame Anthony Appiah fasste diese Situation auf ironische Art zusammen: "Den Zustand der Postkolonialität kann man ein wenig bösartig als eine Art Kompradoren-Intelligenzia beschreiben: eine relativ überschaubare, westlich geprägte Schicht von Schriftstellern und Intellektuellen, die im Handel mit kulturellen Produkten zwischen dem globalen Kapitalismus und der Peripherie als Vermittler tätig sind." Der Status des afrikanischen "Opfer-Intellektuellen", der die Nischen des schlechten Gewissens des Westens erforscht, stellt eine attraktive Marktlücke dar. In der Beziehung sind zwei starre Rollen vorgesehen: der grollende Inquisitor und der sich selbst geißelnde Angeklagte.

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Ein neues Kapitel aufschlagen oder endlos grübeln?

Dass die Dekolonisation bereits stattfand, gehört zu den Tatsachen, auf die man nur ungern hinweist. Mit Sicherheit verlief dieser Prozess nicht perfekt und hinterließ zahlreiche bleibende Spuren, aber Nationen wie England, Frankreich oder Belgien ist es dennoch gelungen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die jüngeren Generationen leiden unter einer historischen Amnesie, weil sie keinerlei Verhältnis zu dieser Epoche haben. Was uns in Frankreich mehr denn je bewegt, ist die Erinnerung an die beiden Weltkonflikte: die demütigende Niederlage von 1940, die Kollaboration eines Teils unserer Eliten mit den Nazi-Besatzern und eines anderen Teils mit der stalinistischen Barbarei. Wir erholen uns nur langsam von diesen Ereignissen.

Dass der Verlust des französischen Imperiums, insbesondere Algeriens, in den 1960ern so schnell überwunden war, zeigt, dass das koloniale Unternehmen den meisten Franzosen weniger als vermutet am Herzen lag. Man fand nicht einmal die Zeit, der Hunderttausenden Pieds-Noirs zu gedenken, die unter der Losung "Koffer oder Sarg" ins Exil getrieben wurden, geschweige denn den von den neuen Herren erschlagenen Harkis. Das imperiale Projekt Frankreichs war die Sache einer bestimmten Lobby, nicht die des Volkes.

Im Juli 1885 fand im Abgeordnetenhaus eine außergewöhnliche und erhitzte Debatte zwischen Georges Clemenceau und Jules Ferry über die Zweckmäßigkeit einer kolonialen Expansion statt. Den Argumenten Ferrys, der Frankreich nach der Niederlage von 1870 wieder zur alten Größe verhelfen wollte und es als seine Pflicht ansah, "niedere Rassen" durch "höhere Rassen" zu zivilisieren, entgegnete der erbitterte Gegner des Kolonialismus Clemenceau Folgendes:

"Minderwertige Rassen, überlegene Rassen, das sagt sich so leicht. Ich für mein Teil bin vorsichtig mit solchen Urteilen, seit ich von deutschen Gelehrten gehört habe, dass Frankreich im Krieg gegen Deutschland besiegt werden muss, weil der Franzose einer minderen Rasse als der Deutsche angehört. Ich gestehe, dass ich seitdem ganz genau hinschaue, bevor ich mich einem Menschen oder einer Zivilisation zuwende und sie als minderwertig bezeichne. Die Inder sollen eine minderwertige Rasse sein? Mit ihrer großen, edlen Zivilisation, die sich im Nebel der Zeit verliert! Mit dieser großen buddhistischen Religion, die sich von Indien nach China ausbreitete! Mit ihren großartigen Kunstwerken, deren prächtige Überreste wir auch heute noch betrachten können! Die Chinesen sollen eine minderwertige Rasse sein? Mit einer Zivilisation, deren Ursprünge unbekannt sind und die sich als Erste zum Höchsten entwickeln konnte! Konfuzius minderwertig? (…) So viele grausame, entsetzliche Verbrechen wurden im Namen der Gerechtigkeit und der Zivilisation begangen. (...) Nein, vermeintlich überlegene Nationen besitzen gegenüber vermeintlich minderwertigen Nationen keinerlei Rechte. (...) Die Eroberung, die sie befürworten, ist der schlichte Missbrauch der Macht einer wissenschaftlichen Zivilisation gegenüber weniger fortgeschrittenen Zivilisationen, mit dem Ziel, sich der Menschen zu bemächtigen, sie zu foltern und sie zum Nutzen des Zivilisierten auszubeuten. Das ist kein Recht, sondern die Negation von Recht."

Trotz seiner Eloquenz unterlag Clemenceau, und Frankreich ließ sich auf ein Abenteuer ein, das sich im Nachhinein als ein moralisches, wirtschaftliches und politisches Desaster entpuppte. Wir bezahlen den Preis dafür bis heute.

Die Dekolonisation war eine echte Befreiung für das Mutterland, das Abladen eines Ballasts, parallel zum Aufschwung der dreißig glorreichen Jahre. Wir haben uns ebenso von den Kolonien befreit wie sie von uns. Dass wir unsere "kolonialen Erinnerungen" rekonstruieren müssen, wie wir es bereits für andere Epochen getan haben, ist zweifellos richtig. Aber Erinnerungen sind diese Ereignisse eben deshalb, weil sie in der Vergangenheit liegen. Der Verlust des Imperiums mag in den Jahren nach 1962, vor allem für die Pieds Noirs, ein signifikantes Ereignis gewesen sein, das narzisstische Wunden (Benjamin Stora) hinterließ. Heute, sechzig Jahre danach, trifft das aber sicher nicht mehr zu. Überhaupt, welche "narzisstische Wunde"? Bei der bloßen Erwähnung des "französischen Imperiums" müssen die jungen Leute grinsen. Die überseeischen Besitztümer loszuwerden war eine Erleichterung. Was hätten wir auch mit diesem Schlamassel anfangen sollen? In einer Zeit der Revolutionierung der Sitten und des Aufbaus der europäischen Gemeinschaft gab es niemanden mehr, der für Tonkin oder Mitijda sein Leben riskiert hätte. Man sagt, wir hätten den Algerienkrieg aus unserem nationalen Gewissen verbannt. Aber es handelt sich um ein Verbanntes, über das die ganze Welt spricht – das meistdiskutierte Geheimnis unserer Zeit. Tausende von Büchern und Artikel, Dutzende von Filmen, endlose Sendungen wurden dem Thema gewidmet. Der Freud'sche Begriff der "Verdrängung" ist hier sicherlich fehl am Platz. Kurioserweise wird das Osmanische Reich, das Algerien fast drei Jahrhunderte lang besetzt hielt, nie für seine Untaten und seine behördliche Bevormundung zur Rechenschaft gezogen. Als islamisches Imperium werden ihm mildernde Umstände gewährt. In Algier fordern manche Leitartikler bereits die Rückkehr in den türkischen Schoß und die Wiederauferstehung des 1924 abgeschafften Kalifats. Ach, wie groß doch der Wunsch nach Knechtschaft bei manchen Ex-Kolonisierten ist.

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Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Editon Tiamat

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