Im Kino

Grüne Masse

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt, Fabian Tietke
13.08.2021. Michel Franco zeichnet in "New Order - Die neue Weltordnung" ein grausames Bild der mexikanischen Gesellschaft, in der die Unschuldigen genauso leiden wie die Schuldigen. Das Stummfilmfestival in Bonn zeigt am Samstag Max Obals "Die Jagd nach der Million" mit dem deutsch-italienischen Actionstar Luciano Albertini, einen der letzten Stummfilme der Weimarer Republik.


Ein Schwall grüner Farbe klatscht an die Scheibe eines Modegeschäfts. Als wolle jemand Marianne (Naian González Norvind), die im Inneren ein Hochzeitskleid anprobiert, daran erinnern, dass die Welt gerade den Bach runtergeht. Denn das tut sie: auf dem Straßenpflaster stapeln sich die Leichen, die Krankenhäuser laufen über, weite Teile der Stadt sind Kriegsgebiet. Marianne sieht nichts davon. Ihr Blick gilt dem Kleid, das sie wenig später zu ihrer eigenen Hochzeit tragen wird; im Kreise der Familie, deren Villa fernab der Stadt liegt, die gerade in Stücke gerissen wird. Die SUVs und Luxuslimousinen der Gäste stehen vor den Toren Schlange, während das Brautpaar im Garten bereits den zweiten, vor Libido überquellenden Kuss austauscht. Noch ein paar Mal werden Marianne und ihr Ehemann, der wenig später aus dem Film verschwindet, diesen Kuss austauschen. Nicht weil die Liebe zwischen ihnen eine wirkliche Bedeutung für das Programm hat, das Filmemacher Michel Franco im Folgenden durchexerziert, sondern weil er am besten taugt, um die Barbarei zu illustrieren, die "Nuevo Orden" mit aller Kraft ausfindig zu machen versucht. Denn Marianne wird, als die Gewalt schließlich die High Society erreicht, ein weiteres Mal geküsst werden - von ihrem Vergewaltiger.

Im Grunde ist damit all das beschrieben, wofür "Nuevo Orden" steht. Eine Rechnung soll ausgestellt werden. An alle Beteiligten, die im Gefüge des Films nicht mehr sind als Mitspieler im Team der Reichen oder dem Team der Plünderer, und an die Zuschauer, die Franco gern ins Boot der voyeuristischen Schuld ziehen würde, ohne je einen adäquaten Weg dafür zu finden. Das eigentliche Opfer der gewaltsamen neuen Weltordnung ist die Bourgeoisie. Das scheint eher Fahrlässigkeit als einem politischen Willen geschuldet, denn für derart bewusst reaktionäres Statement hat Franco zu wenig Interesse an seinen Figuren. Die Restbevölkerung von Mexiko-Stadt ist nicht viel mehr als eine namenlose Masse aus Marodeuren. Aus besagter Masse heraus versucht Rolando (Eligio Meléndez), ein ehemaliger Angestellter von Mariannes High-Society-Familie, Geld für eine Notoperation am Herzen seiner Frau zu sammeln. Die Mitglieder der Familie sammeln zunächst lustlos ein paar Pesos zusammen, setzen den ehemaligen Angestellten dann aber doch lieber vor die Tür.



Einzig Marianne entwickelt so etwas wie ein schlechtes Gewissen und folgt Rolando in Richtung Innenstadt. Ihre Irrfahrt bildet den narrative Kern des Films, der unweigerlich Francos Dramaturgie des statuierten Exempels folgt. Interessant ist, dass Rolandos ausgedehnter Versuch Geld zu sammeln darin mündet, dass Marianne selbst von uniformierten Guerillas entführt und gefoltert wird und ihre Familie kurz darauf selbst um Geld anflehen muss. Überhaupt bleibt der Peso neben der menschlichen Destruktivität die einzige Konstante im vagen Kollaps-Szenario, das nun auch die Villa erreicht.

Die indigenen Angestellten der Familie öffnen der Gewalt die Tore. Kurz darauf strömt die gesichtslose, teils grün angepinselte Masse in die geschlossene Wohnanlage und nutzt die Gelegenheit, um das Besteck, die Klamotten, das Bargeld und den Schmuck der Reichen einzukassieren. Härter trifft es nur Marianne und Rolando. Sie werden, wie die wenigen anderen Figuren, in denen man noch einen Rest von Empathie wahrzunehmen glaubt, am grausamsten bestraft.

"Nuevo Orden" fühlt sich in seiner Sprödigkeit oft an wie ein politischer Film an, kommt aber nie über ostentativ ins Bild gesetzte Symbole hinaus: hier ein paar Kadaver vor einem mit Blut beschmierten Louis-Vuitton-Logo, dort eine der größten Flaggen unter den "Banderas monumentales", die zur Hinrichtung der Schuldigen und Unschuldigen träge im Wind weht. Abseits des antiquierten Symbolismus entfaltet sich "Nuevo Orden" ähnlich wie die Filme aus James DeMonacos "The Purge"-Reihe. Der fünfte Teil, der zeitgleich mit Francos Film in die deutschen Kinos kommt, erzählt ironischerweise von einer texanischen Familie, die gemeinsam mit ihren mexikanisch-stämmigen Angestellten vor dem apokalyptischen Chaos in der Vereinigten Staaten in Richtung Mexiko fliehen. Michel Francos neuer Weltordnung nach sieht es dort nicht viel besser aus, dafür spröder, entsättigter, autoritärer und zynischer.

Karsten Munt

New Order - Die neue Weltordnung - Mexiko 2020 - OT: Nuevo Orden - Regie: Michel Franco - Darsteller: Naian González Norvind, Fernando Cuautle, Diego Boneta, Mónica Del Carmen, Darío Yazbek, Eligio Meléndez - Laufzeit: 88 Minuten.

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Leidlich behende krabbelt ein Mann im Frack über die Reling eines Schiffes. Sichtlich bemüht, den Blicken eines anderen Mannes auszuweichen, begibt er sich in den luxuriösen Tanzsaal, um ein Gespräch zu belauschen. Ein Geschäftsmann fortgeschrittenen Alters versucht die junge Irina Grassini in eine Ehe zu pressen. Die Ehe mit diesem vom ihm ausgewählten Mann soll dem Geschäftsmann eine Erbschaft von einer Million sichern. Als die junge Frau allein ist, schiebt sich der Mann im Frack an die junge Frau heran und erklärt ihr beiläufig, dass die Verlobung nicht stattfinden wird. Er selbst wolle sich mit ihr verloben. Die junge Frau bricht in Lachen aus. Wer er denn eigentlich sei. "Ein Mann, dem man den Namen gestohlen hat", lautet die ominöse Antwort. Für die Zuschauer der Zeit dürfte der Name tatsächlich mumpe gewesen sein, denn der Namenlose wird von dem italienisch-deutschen Actionstar Luciano Albertini dargestellt. Max Obals "Die Jagd nach der Million" ist mitten im Übergang zum Tonfilm ein letzter Stummfilm mit Albertini. Am Wochenende läuft der Film auf den Internationalen Stummfilmtagen in Bonn, danach ist der Film wie die meisten des Programms für 48 Stunden auf der Festivalwebsite zum Streamen abrufbar.

An Bord des Schiffs gibt es noch einen zweiten blinden Passagier. Carlos (Ernő Verebes), ein Taschendieb, hat es sich in der Vorratskammer gemütlich gemacht. Er klaut ein paar Eier, salzt aus der Jackentasche und kocht das Wasser für den Kaffee in einer aufgeschnittenen Konservendose. Dazu angelt er sich mit einem komplizierten Mechanismus eine Konservendose. "Die Jagd nach der Million" romantisiert das Leben als blinder Passagier mit so viel Liebe, dass man dem Verschwinden solcher Figuren aus dem Kino spontan nachtrauern möchte. Als das Schiff in den Hafen einläuft, führt das Versteckspiel mit der argwöhnischen Schiffsbesatzung die beiden Protagonisten zusammen. Doch während Albertini als namloser Mann wie gewohnt über Frachtrutschen rutscht und über Dächer sprintet, verbringt Carlos seine Zeit in einem Sack und wird weitgehend von Albertini mitbewegt.



Die Handlung von "Die Jagd nach der Million" lebt von dem Spiel mit zwei Gruppen von Kriminellen. Der Namenlose, der sich später als der wahre Graf Santoro erweisen soll und sich mit einem Taschendieb zusammengetan hat, auf der einen Seite ,und die scheinbar ehrbaren Geschäftsleute, die sich die Million erschleichen wollen, auf der anderen. Obal durchwebt diese Struktur mit allerlei Komplikationen und den Stunts Albertinis (und seiner Doubles), die das Publikum erwartet. Manches davon klappert ein wenig, die Elemente greifen nicht so glatt ineinander, wie bei früheren Produktionen, die noch stärker auf die Stunts setzten. Doch das fällt nicht wirklich ins Gewicht.

Von heute aus irritierender ist die unvermittelte und immer etwas schleimig inszenierte Altersdifferenz zwischen Albertini und seinem Love interest Irina Grassini (Gretl Bernd), zwischen denen keinerlei Anziehungskraft zu entdecken ist. Aber - das zeigt der Schluss des Film eindrücklich - letztlich ist der Film ohnehin auf Albertinis Rolle zugeschnitten und sein lustiger Sidekick Carlos für den Film wichtiger als Irina.

"Die Jagd nach der Million" sollte Albertinis vorletzter Film sein. Der Film markiert das Ende der Karriere eines Stars, der durch Auftritte im Zirkus Busch in Deutschland bekannt geworden war und ab 1921 in einer Reihe von Actionfilmen mitwirkte. Albertini ist anders als Maciste-Star Bartolomeo Pagano heute weitgehend vergessen. Dieses Vergessen begann direkt nach dem Ende seiner Karriere. Albertinis Alkoholismus wurde immer unübersehbarer. Nach einer Prügelei mit einem Portier wurde er in eine Anstalt eingewiesen. Er kehrte nach Italien zurück, kam mit Demenz in eine Anstalt in Bologna und starb im Januar 1945, von der Welt vergessen, in einem Krankenhaus in Budrio. Der Filmhistoriker Ivo Blom hat Albertinis Karriere in Deutschland unlängst erstmals aufgearbeitet. Auch für Regisseur Max Obal bedeutete der Übergang zum Tonfilm und der damit einhergehende Wandel der Erwartungen an Filme den Beginn vom Ende seiner Karriere. Die Phasen zwischen den Regieaufträgen wurden länger. 1937 drehte er seinen letzten kurzen Spielfilm.

Im Falle der Produktionsfirma Aafa-Film und für Ernő Verebes war die Machtübertragung an die Nationalsozialisten drei Jahre nach "Die Jagd nach der Million" der gewichtigere Einschnitt. Die Aafa wurde nach einer langen Reihe erfolgreicher Produktionen in den 1920er Jahren in den Konkurs gezwungen, Produzent Gabriel Levy floh 1935 in die Niederlande. Der in den USA geborene Ernő Verebes, kehrte nach Erfolgen in Ungarn und Deutschland in die USA zurück und konnte eine neue Karriere als Nebendarsteller beginnen. Robert Fuchs-Liska, der in "Die Jagd nach der Million" die Nebenrolle des Kommissars Pronto spielt, arbeitete jenseits der Bühne und Kamera vor allem als Schriftsteller. In den 1910er und 1920er Jahren schrieb Fuchs-Liska eine Reihe erfolgreicher populärer Romane. Einige seiner Bücher wurden von den Nationalsozialisten angefeindet. Robert Fuchs-Liska starb 1935 und geriet sofort in Vergessenheit.

Max Obals "Die Jagd nach der Million" ist ein Schwanengesang auf die Welt des Action-Stummfilms der Weimarer Republik. In den Biografien, die sich in dem Film kreuzen, wie in seiner Überlieferungsgeschichte ist er zudem eine Erinnerung daran, wie paneuropäisch der Verleihmarkt der Stummfilmzeit war. Die unkomplizierte Übersetzung der Zwischentitel ermöglichte den Export, ohne den Aufwand für Synchronisation betreiben zu müssen. Die restaurierte Fassung, die Anke Mebold und Oliver Hanley 2018 für das DFF erstellt haben und die das Festival nun präsentiert, basiert auf Kopien, die in Frankreich und Tschechien überliefert sind. Ein zusätzliches Schmankerl ist die Ergänzung durch eine zeitgenössisch nachproduzierte Unterlegung des Films mit Geräuschen und Musik von Schallplatten. Das Festival ergänzt die Präsentation des Films durch einen Vortrag der Restauratoren.

Fabian Tietke

Die Jagd nach der Million - Deutschland 1930 - Regie: Max Obal - Darsteller: Luciano Albertini, Gretel Berndt, Elza Temary, Ernö Verebes, Robert Fuchs-Liska - Laufzeit: 90 Minuten.

"Die Jagd nach der Million" ist am Samstag, dem 14.8., im Rahmen der Internationalen Stummfilmtage auf dem Arkadenhof der Uni Bonn zu sehen. Ab dem Folgetag ist der Film 48 Stunden lang online als Stream verfügbar. Vorführung und Stream sind gratis, um Spende wird gebeten.