Vom Nachttisch geräumt

Das Gras wird das Blech besiegen

Von Arno Widmann
11.05.2016. Der Bildband "Die Welt der verlassenen Orte" zeigt: Der Verfall hat seinen eigenen Glanz.
Das Inhaltsverzeichnis ist eine Weltkarte. Dort sind mit einem kleinen Foto die Plätze eingetragen, die der Leser auf dieser Reise zu den verlassenen Orten besuchen wird. In Deutschland zum Beispiel die Zeche Zollverein und die Beelitz-Heilstätten. "Verlassene Orte" gab es natürlich zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte. Und nicht nur in der. Man könnte beginnen mit der 35 000 Jahre alten, man weiß nicht genau seit wann verlassenen Mammut-Elfenbeinwerkstatt in Breitenbach bei Zeitz und enden bei den ausgestorbenen Ortschaften in der Basilicata. Man kann sich aber auch auf Wikipedia die Liste der durch den Tagebau abgebaggerten Ortschaften ansehen. Allein in Deutschland stehen neben Garzweiler 34 Ortschaften auf ihr.

Schöner ist "Die Welt der verlassenen Orte". Peter Traub hat zu den großartigen Aufnahmen von mehr als einem halben Dutzend Fotografen die Texte geschrieben. Kleine Einführungen, die dem, der es nicht wusste, zum Beispiel sagen, woher Detroit seinen Namen hat: aus dem französischen Ville d'Étroit, Stadt an der Meerenge. Traub schreibt sehr anschaulich vom Aufstieg und Niedergang dieser Stadt, die ein paar Jahrzehnte lang die modernste der Welt war. Die Fotos von Derek Farr zeigen, wie alt uns diese Moderne inzwischen vorkommt. Schönstes Art Déco. Uns so vertraut aus dem Moskau Stalins, späte Neugotik alles in jener Schönheit, die der Graf von Volney - in der Übersetzung von Forkel und Forster - mit den schönen Worten besang "Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche und das Natürliche Gesetz".


Prypjat, Ukraine. Foto: Andy Kay, aus dem besprochenen Band

Der Verfall hat seinen eigenen Glanz. Der und seine ganze Melancholie werden auf diesen Seiten entfaltet. Stillgelegte Fabriken, ein am sagenumwobenen Kap Hoorn einsam vor sich hin rostendes Schiff, ein belgisches Waldschloss, in dem, Zeugen einer lebensfrohen Epoche, noch ein Tretauto aus Blech herumsteht. Es ist fast gleich, ob man den Nachhauch einer Ästhetik oder einer Technologie spürt. Es ist das Scheitern der Verwirklichung einer Utopie, der eines Künstlers, eines Ingenieurs oder eines Kapitalisten. Auge und Gemüt des Nachgeborenen ist das gleich. Auch das norwegische Spielauto aus Plastik, eingebettet in die verwüstete Landschaft eines IKEA-artigen Büroraums, rührt uns deutlich mehr als das unberührt gebliebene Grab des Tutanchamun. Das im Gras versinkende Autowrack vor den windschief gewordenen, leeren Hütten in Bodie (USA) ist stärker noch als all der Staub auf dem Billardtisch im Innern des einstigen Saloons. Auch das Staub zu Staub ist nur eine Metapher. Dass aber das Leben sich wieder holt, was wir ihm genommen haben, das wissen wir nicht nur. Das ist auch unsere Hoffnung. Die größte Utopie, die Verwandlung des Todes in neues Leben, ist auch eine Erfahrung. Das Gras wird das Blech besiegen.

Die Welt der verlassenen Orte, mit Texten von Peter Traub, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014, 140 Seiten, 29,95 Euro.