9punkt - Die Debattenrundschau

Erstaunlicher Unsinn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2022. Dass über die Köpfe der Europäer hinweg über die Ukraine verhandelt wird, liegt in erster Linie an den Europäern, fürchtet der Tagesspiegel, und zwar ganz besonders an den Deutschen. Es gibt einen "Nole" und einen "Novak" Djokovic, erfährt man in einem Porträt des Tennisstars bei Euronews - und auch Nationalismus und Esoterik verhalten sich wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In FAZ und SZ gibt es nochmal Kritik an der Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Und die Katholische Kirche kriegt nochmal Probleme wegen ihrer Missbrauchsfälle.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.01.2022 finden Sie hier

Europa

Der Westen muss dem "Kreml den Preis einer weiteren Eskalation vor Augen zu führen", schreibt Claudia von Salzen im Tagesspiegel: "Darauf ist die Europäische Union allerdings denkbar schlecht vorbereitet. Während die Europäer sich darüber beklagen, dass sie bei den amerikanisch-russischen Verhandlungen nicht mit am Tisch sitzen, wären sie derzeit kaum in der Lage, selbst Gespräche zu führen. Was ihnen fehlt, ist Geschlossenheit in der Russland-Politik - und das liegt vor allem an Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die umstrittene Gasleitung Nord Stream 2 ein 'privatwirtschaftliches Projekt' und zeigte damit, dass er die Pipeline nicht einmal dann zur Disposition stellen will, wenn der Kreml sich für eine militärische Eskalation entscheiden sollte. Damit fällt die neue Bundesregierung noch hinter das zurück, was ihre Vorgänger längst zusicherten. Auch der neue SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert forderte ausgerechnet in diesen Tagen ein Ende der Debatte um Nord Stream 2 und offenbarte auf diese Weise nebenbei, wie stark das Erbe Gerhard Schröders in der Partei selbst dort fortwirkt, wo man es eher nicht vermutet."

Sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, könnte es Konflikte in der bisher so harmonischen Ampelkoalition geben, denn die SPD steht für "Entspannung" mit Russland, auch jetzt noch, wie  SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich heute in der taz unterstreicht. Hubertus Knabe geht in seinem Blog den sehr engen Beziehungen nach, die der heutige Kanzler Olaf Scholz in seiner Zeit als Juso zu Funktionären der DDR suchte. Nach dem Nato-Doppeleschluss trat Scholz, "dafür ein, den Bundestagsbeschluss durch Proteste wieder rückgängig zu machen und seine Umsetzung zu verhindern. Im Bundesvorstand der SPD erklärte er zudem, 'dass man wegen der veränderten Position in Teilen der Friedensbewegung jetzt auch als Jusos das Thema NATO-Austritt diskutieren' könne. In einem Aufsatz über 'Aspekte sozialistischer Friedensarbeit'" betonte er wenig später erneut, dass 'längerfristig auch die Frage der militärischen Integration der BRD in die NATO auf der Tagesordnung stehen' werde."

Linksextremisten sollten in den siebziger Jahren nicht verbeamtet werden. Darum wurde unter Willy Brandt der "Radikalenerlass" eingeführt, der zu - oft sehr manipulativen - Befragungen von Anwärtern auf den Beamtenstatus führten. Dominik Rigoll erinnert in der Zeit an diese Episode: "Forderungen nach einer Rehabilitierung der Betroffenen finden zunehmend Gehör. Zuletzt hat im Berliner Abgeordnetenhaus eine linke Mehrheit den Senat der Stadt aufgefordert, die Radikalenpolitik in West-Berlin 'wissenschaftlich aufarbeiten' zu lassen und die Betroffenen gegebenenfalls zu 'rehabilitieren'."
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Ideen

Zwei Ethnologen forderten in der SZ neulich, ethnologische Museen von Vertretern der ausgestellten Kulturen kuratieren zu lassen - ihr Beispiel sind die Maori und die Darstellung ihres Wissens in neuseeländischen Museen (unser Resümee). Perlentaucher Thierry Chervel stimmt ihnen in einem Twitter-Thread zu. Da wäre etwa das Maori-Wissen über menschliche Hybris und Zerstörung von Natur. "Als die Maori im 13. Jahrhundert Neuseeland besiedelten, ein paar hundert Jahre vor den Weißen, stießen sie nämlich auf eine einzigartige Fauna, vor allem Vögel, kaum Raubtiere. Die Moas waren die größte Laufvogelart, die die Erde je besiedelt hat... Innerhalb von 150 Jahren hatten die Maori die Vögel aufgegessen. Dies gilt als das 'das schnellste vom Menschen verursachte Aussterben einer Großtierart, das bis heute dokumentiert wurde'."

Heute existieren nur noch wenige Überreste, die von der Existenz der Moas zeugen. Hier posiert der britische Naturforscher Richard Owen mit dem Skelett eines Moas.
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Stichwörter: Neuseeland, Maori, Moas

Gesellschaft

Es gibt einen "Nole" und einen "Novak" Djokovic, schreibt Aleksandar Brezar ein einem interessanten kleinen Porträt für Euronews.com. Der Weltranglistenerste wollte mit Flunkerei und Impfverweigerung bei den Australian Open antreten. "Nol" ist der sympathische Tennisstar, der sich für kranke Kinder einsetzt. Novak ist der gefürchtete Gegner seiner Konkurrenten, der sich mit Nationalismus und Esoterik aufrüstet. Brezar hat für sein Porträt unter anderem mit dem bosnisch-amerikanischen Schriftsteller Aleksandar Hemon gesprochen: "Nationalisten sind mit Esoterikern und Okkultisten eng verwandt, stellt Hemon klar, denn beide teilen die Überzeugung, Recht zu haben, wenn andere im Unrecht sind, selbst wenn Fakten das Gegenteil beweisen. 'Das Interessante ist, dass dieses Interesse an antiwissenschaftlichen New-Age-Mythologien in den nationalistischen Bewegungen dieser Welt weit verbreitet ist. Denn in gewisser Weise ist der Nationalismus eine Illusion, ein Märchen.'" Jan Schweizer konstatiert in einem Zeit-Artikel zum selben Thema: "Esoteriker und Alternativmediziner hatten bislang erstaunlich viel Spielraum, viele Heilpraktiker etwa dürfen ohne nennenswerte Ausbildung erstaunlichen Unsinn treiben."

Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass Behinderte in Triage-Situationen nicht benachteiligt werden dürfen. (Unser Resümee) Bei dem Philosophen Adriano Mannino sorgt das Urteil in der SZ für Verwirrung. Wenn das Kriterium der kurzfristigen Erfolgsprognose diskriminierend ist, weil es etwa vorerkrankte oder behinderte Menschen benachteiligt, dann ist das Kriterium der Dringlichkeit ebenfalls diskriminierend, meint er: "Entscheidungstheoretisch lässt sich die Dringlichkeit in Triage-Kontexten als die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der ein Patient stirbt, wenn er nicht intensivmedizinisch behandelt wird. Die Erfolgsprognose dagegen bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, mit einer Behandlung zu überleben. Konkurrieren etwa die Patientin A und der Patient B um das letzte Beatmungsgerät und hat A ohne Beatmung eine Sterbewahrscheinlichkeit von 60 Prozent, B dagegen eine von 40 Prozent, so liegt die Dringlichkeit bei A höher. Vor dem Eintritt medizinischer Notlagen nun haben junge und gesunde Menschen eine höhere Wahrscheinlichkeit, in der Position des Patienten B zu landen. Vorerkrankte, behinderte und alte Menschen dagegen werden sich statistisch eher in der dringlicheren Position der Patientin A wiederfinden. Folglich benachteiligt das Kriterium der Dringlichkeit junge und gesunde Menschen. Niemand nimmt diese Tatsache jedoch zum Anlass, den Faktor Dringlichkeit als diskriminierend zu erklären." Am fairsten wäre die Zufallswahl, meint er.

Noch deutlicher wird der Rechtsprofessor Reinhard Merkel in der FAZ. "Tief enttäuschend" nennt er den Beschluss, denn er verpflichte den Gesetzgeber zwar zu "unverzüglichem Handeln", lasse ihn aber ohne Orientierung. Ohnehin sei die Frage umstritten, "welche Kriterien für Triage-Entscheidungen normativ tragfähig" sind: "Der physische Zustand eines Patienten mag die klinische Erfolgsaussicht trüben, aber wegen seiner genetischen Grundlagen dem Betroffenen nicht zurechenbar sein. Warum sollten neben diesem Kriterium dann nicht auch Bedingungen eine Rolle spielen, die sehr wohl, und zwar als Verschulden zurechenbar sind, die grob fahrlässige Verursachung der eigenen Erkrankung etwa? Warum sollte ein 20-Jähriger, der sich auf einer verbotenen 'Anti-Corona-Party' ohne Einhalten von Schutzvorkehrungen infiziert hat und dessen Chancen, die Intensivbehandlung zu überleben, bei 80 Prozent liegen, der 60-jährigen Krankenschwester vorgezogen werden, die sich in ihrem Dienst unter Beachtung aller Vorsichtsregeln infiziert hat, deren Überlebenschance aber nur bei 40 Prozent liegt?"

Der neue Koalitionsvertrag sieht vor, muslimische Jugendarbeit zu fördern und gegen Muslimfeindlichkeit vorzugehen. In der NZZ kritisiert die Ethnologin Susanne Schröter, dass auch solche Organisationen finanziell gefördert werden sollen, die jede Kritik an "islamistischen Vereinigungen" als "antimuslimischen Rassismus" bezeichnen. "Eine von ihnen ist die vom Berliner Senat geförderte 'Anlaufstelle Diskriminierung an Schulen' (Adas). Sie hat jüngst eine - von den Autoren selbst als nicht repräsentativ bezeichnete - Umfrage über Diskriminierungserfahrungen junger Muslime veröffentlicht und eine Reihe von Forderungen erhoben, die man umstandslos im Bereich der Cancel-Culture verorten kann. So sollen die Begriffe 'konfrontative Religionsausübung', 'aggressive Religionsbekundung' und 'religiöses Mobbing' aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden, weil sie angeblich Muslime diskriminieren. Befragt wurden tatsächlich Personen im Kontext von Moscheegemeinden, von denen viele ein fundamentalistisch-reaktionäres Islamverständnis vertreten, was die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci veranlasste, von einem 'Who's who des politischen Islam' zu sprechen."

Der Begriff der Leistung hat große Veränderungen erlebt, sagt im SZ-Gespräch mit Aurelie von Blazekovic die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja, die gemeinsam mit Oliver Nachtwey das Buch "Verkannte Leistungsträger:innen" veröffentlicht hat: "In der Nachkriegszeit wurde Leistung an dem Aufwand festgemacht, den man betreibt, um Arbeit zu erledigen. Helmut Kohl ist in den Achtzigerjahren mit dem Slogan 'Leistung muss sich wieder lohnen' an die Regierung gekommen. Er verstand darunter etwas völlig anderes."  (…)  Man sollte "steuerlich entlastet und motiviert werden, Arbeitsplätze zu schaffen. Ob diese Position auf eigener Anstrengung beruhte, war egal. Gesellschaftlich weniger gut gestellte Beschäftigte wurden zunehmend in prekäre Jobs gedrängt, ihre Leistung lohnte sich immer weniger. Das hat auch damit zu tun, dass viele von ihnen Frauen sind. Speziell weiblich dominierte Tätigkeiten werden oft weniger honoriert, weil angenommen wird, dass man für Reinigung, Pflege, oder Erziehung keine Qualifikationen brauchen würde, sondern wir Frauen das naturgemäß könnten."
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Religion

Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirchen ist in Deutschland in einigen Studien steckengeblieben, aber Konsequenzen gab es so gut wie nicht, schreibt Evelyn Finger in der Zeit: "Es fehlte hierzulande nie an Empörung und Kirchenkritik. Doch keine Wahrheitskommission wurde tätig - wie in Australien. Kein Bischof ermannte sich, einen Staatsanwalt zu betrauen - wie in den USA. Kein Spitzenpolitiker stand auf für eine Brandrede im Parlament - wie Irlands Premier Enda Kenny, der seine Nation zu Tränen rührte. Stattdessen häuften die Deutschen Zahlen von Opfern und Tätern an, empfahlen Kirchenreformen, analysierten Täterstrategien. Nur vor der eigentlichen Aufgabe drückte man sich: im Bundestag zu debattieren, ob der Rechtsstaat systematische Strafvereitelung hinnehmen darf." Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der mit Untersuchungen zum Thema befasst war, schreibt ebenfalls in der Zeit: "Ich gebe zu: Vor zehn Jahren habe ich noch an das ehrliche Aufklärungsinteresse der katholischen Kirche geglaubt. Heute muss ich feststellen: Die Bischofskonferenz hat unter der Führung von Kardinal Reinhard Marx über viele Jahre hinweg Aufklärung eher verhindert als ermöglicht."

Ein Autorenkollektiv von Correctiv und dem Bayerischen Rundfunk erzählt zugleich die Geschichte eines Jungen namens Stefan, der 1994 von einem Priester missbraucht wurde. Der Fall wurde vertuscht, wobei als pikanter Aspekt hinzukommt, dass Joseph Ratzinger eigentlich wohl über den Fall hätte informiert sein müssen. Er zeige auch darum, "wie das System Missbrauch in der Kirche oft funktioniert, weil es in solchen Fällen nicht nur den einen Straftäter gibt, sondern viele Beteiligte auf allen Hierarchieebenen, die kaschieren, schweigen, Hinweise unterdrücken und die Taten so erst möglich machen."
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