Im Kino

Das ist dein türkischer Nachbar

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Robert Wagner
29.09.2022. Cem Kaya setzt in "Liebe, D-Mark und Tod" der rauschhaften türkischen Musik im kaltherzigen Deutschland ein Denkmal. Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Film "Blonde" zeigt mit immer neuen Verfremdungseffekten eine im Kern gespaltene Frau.
Wie die Tanzschlange auf einer türkischen Hochzeit formiert sich Cem Kayas filmische Geschichte der türkischen Musik in Deutschland: Zu den Klängen von Baglama und Darbuka fügen sich enttäuschte Liebe, Sehnsucht und Bitterkeit zusammen, lose wie am kleinen Finger untergehakt, aber immer in gemeinsamer Bewegung. Ungeübten Ohren erscheint der Rhythmus viel zu schnell, aber auch wenn man kaum mithalten kann, wird man Teil eines wundersamen Rausches.


Cem Kaya kompiliert für "Liebe, D-Mark, Tod", für den er auf der Berlinale den Panorama-Publikumspreis gewann, eigene Interviews, alte Fernsehaufnahmen und zusammengeklaubte Videoschnipsel. Knallig kolorierte Sequenzen wechseln sich in rasantem Tempo ab mit klarem Schwarzweiß und traurigem Berliner Grau. Bei aller Verehrung, die Kaya den Ikonen der deutsch-türkischen Musik aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entgegenbringt, lässt er nur selten gute Laune aufkommen: Die Geschichte der türkischen Musik in Deutschland ist auch eine Geschichte der bereuten Migration, des Exils und des Abgelehntwerdens.

Den Ton setzt der Musiker Ismet Topçu gleich zu Beginn des Films: Was für Musik würde er wohl spielen, wenn er vom Mond auf die Erde blickte, fragt er hintersinnig lächelnd und macht zugleich mit seinem zartem Spiel auf der Saz klar, dass Berlin bei ihm nur melancholische Melodien hervorrufen kann. Nahezu unerträglich traurig sind die Anfänge in den siebziger Jahren, als die ersten Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen und ein hartherziges Land erlebten, das nichts mit ihnen zu tun haben wollte, das sie in Arbeiterheime und in die "Wartesäle des Heimwehs" verbannte, an die Bahnhöfe und ins Rotlichtviertel.

In Köln besang Metin Türköz gefühlvoll die blutenden Herzen der Arbeiter. Aber er verspottete auch die deutschen Rohlinge, auf die nicht mal ihre eigenen Frauen hören. Yüksel Özkasap, die Nachtigall von Köln, wurde ein Superstar, ihr Musikgeschäft Türküola am Hansaring verkaufte Kassetten millionenfach. Überhaupt wurde Köln, mehr noch als West-Berlin in den siebziger Jahren das Zentrum türkischen Lebens, die selbstbewussten Facharbeiter bei Ford traten 1973 in den wilden Streik, als dreihundert Arbeiter entlassen werden sollten, weil sie zu spät aus dem Heimaturlaub zurückgekehrt waren.

Auch der politische Liedermacher Cem Karaca lebte in Köln im politischen Exil. Nach dem Militärputsch 1980 hatte die türkische Justiz ihn in Abwesenheit zu sieben Jahren Haft verurteilt. Er war ein charismatischer Musiker und verband Anadolu-Rock mit den Gedichten Nazim Hikmets. Von einer deutschen Fernsehmoderatorin gefragt, ob er sich in Deutschland wohlfühlt, antwortete er vorsichtig, er fühle sich zumindest nicht unwohl. Da beschied ihm die Dame streng, dass dies ja auch nicht seine Heimat sei. Nach seiner Amnestierung konnte Karaca 1987 heimkehren, er zögerte nicht und ließ die Gemeinde der Exilanten und Dissidenten konsterniert zurück. Rudi Carrell blödelte derweil im Hummtata-Takt: "Man kommt nur weiter mit Gastarbeiter."

Auch in den achtziger Jahren interessierte sich die deutsche Gesellschaft nicht sonderlich für die Musik ihrer Einwanderer. Der Berliner Popjournalist Barry Graves hielt den Medien ihre Ignoranz vor. Warum gibt es keine Sendungen und keine Berichte, fragte er, die alle miteinander bekannt machten: "Das ist dein türkischer Nachbar, so lebt er und diese Musik hört er." Und wer erinnert sich noch an den Türkischen Basar in Berlin? Im einst stillgelegten Hochbahnhof Bülowstraße befand sich inmitten der Juweliere, Hochzeitsgeschäfte und Kassettenläden auch das legendäre Gazino, der verruchte und doch populäre Nachtklub, in dem Berliner Lokalgrößen neben türkischen Superstars auftraten. "Ein wunderschöner Ort", schwärmt der Revuestar Hatay Engin und seufzt in Erinnerung an seine früheren Auftritte hinreißend kokett: "Ich war vielleicht eine Tunte!"

Besonders krachen ließen sie es auf den Hochzeiten in Köln mit tausend Gästen. Alle Musiker beteuern, dass sie erst dort ihr Metier wirklich gelernt haben. Denn sie mussten die Stilrichtungen der 81 Provinzen bedienen können und Empfindlichkeiten berücksichtigen: Für die Leute vom Schwarzen Meer keine Musik aus dem Süden, bei den Kurden keine türkischen Tänze. Das alevitische Duo Derdiyok beglückte alle gleichermaßen mit seinem krachenden Disco-Folk aus Langhalslaute und Schlagzeug und in einem Mix aus Deutsch und Türkisch: "Kohl und Strauß wollen Ausländer raus, le le liebe Gabi". Ganz feuchte Augen bekommen die Musiker bei der Erinnerung an die Exzesse im Kölner Eurosaal: Das Geld flog nur so um unsere Ohren. Auffegen mussten wir die Scheine. Das Exil machte die Leute großzügig. Die D-Mark hatte eine ganz andere Ausstrahlung.

Anfang der neunziger Jahre, nach dem Mauerfall und den Anschlägen von Mölln und Solingen, war die Party vorbei. In Kreuzberg begehrte der türkische HipHop in seiner eigener Mix aus Wut und orientalischen Samples auf. Aziza A. und Nellie, Alper Ağa und Muhabbet erinnern sich voller Verehrung an Boe B., der seine Islamic Force als musikalischen Arm der legendären 36 Boy gründete, ein unvergleichlicher Charismatiker, der allerdings mit nur dreißig Jahren an einem Herzinfarkt starb. Warum, fragen sie, gibt es so wenig Erinnerung an die eigenen musikalischen Traditionen? Cem Kayas Film holt das Versäumte nach. Er ist Erinnerungsarbeit, Anklage und Enzyklopädie in einem. Man wünschte sich manchmal, er hätte den einzelnen Musikerinnen und Musiker noch viel mehr Raum gegeben.

Den großartigsten Auftritt hat die hinreißenden Cavidan Ünal, eine Diva von Format: Lachend erinnert sie sich an die wilden Zeiten, in denen über die Härte des Lebens in der Fremde entschlossen hinweg gefeiert wurden. In vollem Ornat steht sie vor den Zeugnissen ihrer ruhmreichen Karriere und stimmt einen wunderschönen Klagegesang an: "Ich eilte herbei, um dich zu sehen, um ein Leben nach Herzenslust zu führen, um nach Lust und Laune leben zu können. Du hast mir meine Liebe weggenommen, Deutschland. Glaub mir, alles an dir ist gelogen, Deutschland." Ein Lied der enttäuschten Hoffnung, ungerecht, aber auch ergreifend. Man bekommt es nicht mehr aus dem Ohr. Nur warum war es so lange ungehört?

Thekla Dannenberg

Liebe, D-Mark und Tod / Aşk, Mark ve Ölüm - Deutschland 2022 - Regie: Cem Kaya - Laufzeit: 96 Minuten.

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Laut dem Song "Star A.D." von Faith No More ist es fataler, eine Legende zu werden, als zu sterben. Marilyn Monroe war zu Lebzeiten einer der größten Hollywoodstars und machte diverse Filme zu Klassikern. Sie war Sexsymbol, "Blonde Bombshell" und Gesicht der "Playboy Culture", einer Ausprägung der beginnenden sexuellen Revolution. Ihre Affären und Ehen waren ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse. Es war aber vor allem ihr früher Tod, der aus ihr eine der größten Ikonen des 20. Jahrhunderts machte. Die Umstände ihres Ablebens sorgten für unzählige Verschwörungstheorien, die bis ins Weiße Haus führten. Das Mysteriöse und Tragische ihres Todes lag auch darin begründet, dass die Widersprüche ihres Lebens und ihrer Karriere in diesem gipfelten. So richtig festlegen lässt sich das Bild von Norma Jean Baker, die als Marilyn Monroe berühmt wurde, nicht.

Unter dem ausgiebig ausgeschlachteten Image des größten aller naiven, sexy Blondinen brodelte es. Dort findet sich eine sensible, belesene Person, die nicht ernst genommen wurde - nicht zuletzt von den Menschen, die ihr nah standen. Eine Frau auch, die ihre Karriere gezielt vorantrieb. Es findet sich ein Leben aus ständigen Zurückweisungen, Missbrauch und privaten Enttäuschungen. Ein Leben, in dem bis zur Verzweiflung nach Halt gesucht wurde. Das Reichhaltige dieses Lebens mit seinen vielen vagen und widersprüchlichen Elementen lädt das Bild der Marilyn Monroe bis heute auf. Immer wieder wird es neu entworfen und erstritten. Finales gibt es nicht, nur ausfransende Möglichkeiten, schlau aus ihr zu werden. Der Horror der Legende liegt vielleicht darin, dass man entweder auf ein einfaches Klischee beschränkt wird, das jeder "kennt", oder dass das eigene Leben solange durchleuchtet und interpretiert wird, bis alles verwischt, sich ein Gestrüpp aus (befangenen) Deutungen ergibt und einem die eigene Identität noch weniger gehört, als schon zu Lebzeiten.

Wen die Biografie von Marilyn Monroe interessiert, dem sei der Podcast "You Must Remember This" mit einem dreiteiligen Beitrag zu Marilyn Monroe empfohlen, in dem ein kritischer Blick auf die Quellenlage geworfen wird und der eindringlich vermittelt, wie sehr das Bild Marilyn Monroes von den (männlichen) Blicken auf sie bestimmt ist. Regisseur Andrew Dominik wiederum versucht sich in seinem neuen Film "Blonde" erst gar nicht an einer alles umspannenden Aufarbeitung ihres Lebens.

Die Entwicklungen ihrer Karriere und auch ihres Privatlebens verlieren sich in seiner Verfilmung des gleichnamigen Romans von Joyce Carol Oates in zuweilen gewaltigen Ellipsen oder werden zum Hintergrundrauschen. Nur die grobe Struktur ihrer Biographie mit einzelnen. prägnanten Markern bleibt. Ansonsten verschleiert der Film notorisch - trotz ständiger Einblendungen von Jahreszahlen -, was genau in diesem Leben geschieht. Unvermittelt springt er von der Einweisung ihrer Mutter in eine Anstalt, als Norma Jean erst sieben Jahre alt war, zu den Anfängen ihrer Karriere, die nach dem Wechsel zum Namen Marilyn Monroe schon Fahrt aufgenommen hat. Während der kurzen Episode ihrer Ehe mit Joe DiMaggio (Bobby Cannavale) wird dessen Name nicht einmal erwähnt. Das langsam ausbrennende, aber dramatische Ende ihrer Ehe mit Arthur Miller (Adrian Brody) wiederum verliert sich in einem Film, der nur an einzelnen Schlagschatten interessiert ist.

Statt einer verlässlichen Biographie ist "Blonde" ein Grand Guignol-Seelendrama. Es beginnt als Horrorvision einer Kindheit, die durch den Wahn der Mutter zum Fiebertraum aus brennenden Straßen und Wohnungen wird. Darauf folgt Hollywood, das aussieht wie eine von David Lynch entworfene Parallelwelt, in der nach Unschuld und Geborgenheit gesucht wird, aber Missbrauch, Scham, Trauma und Männer warten, die gute Schauspielleistungen von schönen Frauen für Psychosen halten und sich eh nur für deren Ärsche interessieren. Am Ende eskaliert das eh schon Schwammige der Welt, in der Marilyn sich verliert, in Pillen-induzierten psychedelischen Tagträume. Nuancen und Differenzierung spielen schlicht keine Rolle. Die poetische Wahrheit des Films liegt in einer seelischen Zerrüttung, die von der ersten Minute an beklemmend ist.

Vereinzelt bekommen wir die Marilyn gezeigt, die ihren Status in höheres künstlerisches Prestige umzuwandeln weiß. Die Marilyn, die als gleichwertiger Partnerin mit Arthur Miller über die Ausrichtung von dessen Theaterstücken redet. Oder die Marilyn, die eine großartige Schauspielerin ist, aber auf das Image des blonden Sexsymbols beschränkt wird. Ihre vielen Facetten fallen nicht komplett weg, aber bleiben Randnotizen. Im Kern geht es um eine gespaltene Frau: Hier Norma Jean Baker, die wahre Person, dort Marilyn Monroe, die Karriere. Hier die Frau, die Mutter werden möchte, dort die, welche Panik vorm Muttersein empfindet. Hier die Frau, die geliebt werden möchte, dort die Frau, die von geifernden Massen bedrängt wird. Hier die Frau, die sich nach einem Vater als Anker sehnt, dort ihre bigotten Männer, die in ihr erst eine Heilige oder Seelenverwandte sehen und sie dann abstrafen, weil sie ihren Projektionen nicht entsprach.

"Blonde" findet viele Ausdrücke und Stufen für dieses ständig enttäuschte Sehnen, für die romantischen Träume, die sich in Alpträume wandeln. Was der Film dabei an feiner Klinge vermissen lässt, das macht er mit der opulenten Inszenierung der (Selbst-)Zerstörung wett. Beständig wird zwischen schwarzweißen Bildern und Farbe gewechselt, wie auch das Format beständig zwischen 4:3, 16:9, Cinemascope und aufrechten Handyaufnahmen hin und her springt - gerade dieser Punkt lässt einen bedauern, dass Netflix auf eine Kinoauswertung verzichtet. Wiederholt wird die räumliche Integrität aufgelöst, die Zerrissenheit wird tief ins filmische Bild getragen. Seiner Wiederholung des Gleichen gewinnt Dominik mit stets neuen expressiven Ausdrucksformen und neuen Verfremdungseffekten doch immer noch etwas Überraschendes ab.

Im Zentrum des Ganzen bietet Ana de Armas als Marilyn eine beeindruckende Tour de Force und wird zum eindrücklichsten Ausdruck des grellen Willens des Films, weh zu tun und unangenehm zu sein. Am Ende ist schwer zu sagen, was der brutalste Ausdruck für den Schmerz ihrer Figur ist. Dass Marilyn ihre Ehemänner grundsätzlich als "Daddy" anspricht? Dass sie nicht verstehen kann, wer das da auf der Leinwand ist? Dass ihre Föten vertraulich mit ihr reden? Dass ihre Abtreibungen und Fehlgeburten zu wilden Alpträumen werden? Oder doch, dass sie von John F. Kennedy (Caspar Phillipson) einfach wie eine Nutte behandelt wird? Dass sie immer wieder auf Halt und Glück hofft und bitter enttäuscht wird?

Seine Hauptfigur instrumentalisiert "Blonde" durchaus, um mit Hollywood abzurechnen. Mit Ruhm und der Gier nach dieser Legende, in der jeder nur das sieht, was er darin sehen möchte. Mit einer kalten, brutalen Welt. Trotzdem fühlt Andrew Dominiks Film zu jeder Zeit mit der weder heiliggesprochenen, noch verteufelten Marilyn mit. Ein realistisches Porträt Marilyn Monroes oder eben Norma Jean Bakers bekommen wir nicht, aber die Wahrheit einer Frau, die vergebens nach Halt sucht, erscheint in "Blonde" umso nachdrücklicher und ergreifender.

Robert Wagner

Blonde - USA 2022 - Regie: Andrew Dominik - Darsteller: Ana de Armas, Adrien Brody, Bobby Cannavale, Lily Fisher, Xavier Samuel, Julianne Nicholson - Laufzeit: 166 Minuten.