Vorgeblättert

Leon Blum: Beschwörung der Schatten. Teil 1

04.08.2005.
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Einige Wochen nach dem Prozeß von Rennes und der Begnadigung ließ Felix Vallotton einen Holzschnitt erscheinen, den ich immer noch vor mir sehe. Hauptmann Dreyfus, ernst und schwarz, sitzt dem Betrachter gegenüber auf einem Stuhl; er hat zwei fröhliche kleine Kinder auf den Knien, doch er scheint den Blick abzuwenden, als das kleinere sagt : "Vater, eine Geschichte ! ..."      Eine Geschichte ? Der Hauptmann Dreyfus wäre nicht imstande gewesen, die seine zu erzählen. Er hatte sie nicht begriffen; er kannte sie nicht. Er starb dann schließlich nach dreißig Jahren williger Unauffälligkeit, er, der die Welt mit dem Klang seines Namens erfüllt hatte, und vielleicht hat er seine Geschichte auch vergessen. Er war ein bescheidener Mensch, ein ernsthafter Mann, der nichts Heldisches hatte, außer einer stummen, unerschütterlichen Courage. Da er von vollkommener Einfachheit war, da es ihm an Prestige, an Bravour, an Eloquenz fehlte, stand ihm vor seinen Richtern nicht der Schrei der Unschuld zu Gebote. In den Briefen, die er während der fünf Jahre auf der Teufelsinsel an seine Frau schrieb, findet man nicht die geringste Regung der Auflehnung. Die Einordnung in die Hierarchie war bei ihm so vollkommen, daß er auf niemand anderen als auf seine Vorgesetzten vertraute, damit der furchtbare Irrtum erkannt und behoben würde; diese Zuversicht war sein Halt. Er hatte immer alle Befehle mit größter Gewissenhaftigkeit ausgeführt ; er war während der von Paty de Clam durchgeführten Verhöre stoisch verschwiegen geblieben, selbst seiner Frau und seinem Bruder Mathieu gegenüber. Er hatte wahrhaftig gar keine innere Beziehung zu seiner Affäre, keinerlei Begabung für die Rolle, die ihm die Laune der Geschichte zuwies. Ob er, wäre er nicht Dreyfus gewesen, sich überhaupt als "Dreyfusard" gefühlt hätte ?
     Jene Geschichte, die er nicht erzählt hat - die will ich meinerseits auch nicht wieder nachzeichnen, obwohl sie nach und nach von Ignoranz und Vergeßlichkeit verwischt worden ist. Die jungen Leute heute, selbst die Erwachsenen, sind wie Alfred Dreyfus selbst bei der Rückkehr von der Teufelsinsel - sie kennen die Affäre nicht, und vor allem begreifen sie sie nicht. Ich weiß nur allzugut, daß ich für mein Teil vergebens versucht habe, das Interesse meines Sohnes zu wecken. Ich wollte ihn nachfühlen lassen, was diese Affäre für mich und die anderen Leute meines Alters war; was ich ihm erzählte, waren ihm nur Worte. Die Generationen, die der unseren gefolgt sind, machen sich keinen Begriff mehr davon, daß während zweier endloser Jahre - zwischen dem Beginn der Kampagne für die Wiederaufnahme des Verfahrens und der Begnadigung das Leben innezuhalten schien, daß sich alles auf eine einzige Frage konzentrierte, daß in den innersten Gefühlen und den Beziehungen der Menschen zueinander alles unterbrochen war, umgestürzt, neu angeordnet. Man war Dreyfusard oder nicht. Seit ich die Ecole Normale verlassen hatte, war ich mit Paul Dupuy und Victor Berard zerstritten; eines Morgens, als wir erfuhren, daß wir unter demselben Feldzeichen kämpften, fielen wir uns in die Arme. Ich besuchte monatelang einen so guten Freund wie Philippe Berthelot nicht mehr, weil er in sarkastischem Ton von der Rede Scheurer -Kestners im Senat gesprochen hatte. Auf sämtliche politischen Parteien hatte die Affäre eine zersetzende, trennende Wirkung; sie zerlegten sich und gruppierten sich neu, mit ausgetauschten Elementen. Geheime Fäden des Zusammenwirkens und der Sympathie spannen sich über die Grenzen hinweg. Ein Antarktisforscher begrüßte nach einem Winter auf seinem Eisfeld die Hilfsexpedition mit den Worten: "Ist Dreyfus frei ?"
     Die Affäre war für die Menschen eine Krise, die sich nicht so weit ausdehnte und nicht so lange dauerte wie die Französische Revolution oder der Erste Weltkrieg, die aber mit ebensolcher Gewalt wirkte. Was ist das sicherste Zeichen dieser Krisen kollektiver Leidenschaft? Meiner Ansicht nach das, was ich die Herabsetzung des Lebenswertes nennen möchte. Gemäß den jeweiligen Zeiträumen, Zuständen, Augenblicken schätzen die Menschen das Leben höher oder geringer ein, ihr eigenes wie das der anderen. Sei es ein Symptom oder eine Folgeerscheinung man erkennt die großen revolutionären Erschütterungen an dem Umstand, daß der Kurs des Menschenlebens so tief sinkt wie nie. Man stirbt noch leichter als man tötet. Wenn die Ära des Terrors in der Französischen Revolution bei ihren Augenzeugen und sogar ihren Opfern nicht jenen fürchterlichen Eindruck hinterlassen hat, den man vermuten würde, liegt der tiefste Grund hierin: Der Preis des Lebens war damals Null, und man versteht die Vorgänge und die Personen nicht, wenn man das Urteil von der ruhigen Normalität einer anderen Epoche her spricht, aus einer Zeit heraus, da das Menschenleben sehr viel gilt. Wenn ich mir die hitzige Phase der "Affäre" ins Gedächtnis zurückrufe, ist diese Erinnerung die stärkste von allen, die sich einstellen: Für meine Freunde und für mich zählte das Leben nichts; wir hätten uns ohne das geringste Zögern und vor allem ohne die geringste Notwendigkeit einer Selbstüberwindung für das geopfert, was uns als die Wahrheit und die Gerechtigkeit galt. Und zweifellos hätten wir ebenso, wenn auch mit größerem Unbehagen, jene Menschen geopfert, die den Weg zu Gerechtigkeit und Wahrheit versperrten.
     Solche Eindrücke sind es, jene leidenschaftliche Veränderung des ganzen Lebens, die ich nach all den Jahren heute nacherlebbar oder begreiflich machen möchte. Das einzige Mittel hierzu ist es, mich meiner Erinnerung zu überlassen - fast passiv aufzuzeichnen, was ich mir selbst in der Rückschau anvertraue. Ich gehe nicht zu den Quellen zurück, ich suche keine Anhaltspunkte oder Nachweise in den Texten. Ich riskiere lieber hie und da einen Irrtum im Faktischen, der sich von selbst korrigieren wird, als alles einer dürren Trockenheit zu überantworten. Ach! Indem ich diese Beschwörung der Vergangenheit vornehme, umgebe ich mich mit einer Versammlung von Schatten. Jaures und Clemenceau sind tot, Bernard Lazare und Lucien Herr sind tot, und Pressense, und Picquart, und Scheurer-Kestner und Zola und France und Mirbeau und Anna de Noailles und all die anderen. Wer lebt denn noch aus der kleinen Gruppe derer, die alles in Gang brachten und den Kampf an entscheidender Stelle führten? Lucien Levy -Bruhl, der Mathieu Dreyfus und Jaures zusammenbrachte; Marcel Prevost, dessen diskreter Part entscheidend war, denn durch seine Vermittlung kam Zola mit Leblois zusammen, dem Freund und Vertrauten von Major Picquart. Vielleicht unterläuft mir hier eine törichte Auslassung. Wenn es so ist, möge der vergessene Kamerad mir verzeihen!

*

Ich hatte die großen Ferien des Jahres 1897 auf dem Land verbracht, ganz nahe bei Paris. Während des Septembers besuchte mich fast jeden Nachmittag Lucien Herr, rittlings auf seinem Fahrrad. Eines Tages stellte er mir die völlig unvermittelte Frage: "Wissen Sie, daß Dreyfus unschuldig ist?"
     Dreyfus? Welcher Dreyfus? Es war schon drei Jahre her, daß Hauptmann Dreyfus verhaftet, verurteilt, degradiert und deportiert worden war. Das Drama hatte die öffentliche Meinung einige Wochen lang stark erschüttert, doch bald war es wieder vergessen, untergegangen, abgeschafft. In der Zwischenzeit hatte nun niemand mehr an Dreyfus gedacht, und um sich die Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen, die sich mit seinem Namen verbanden, brauchte es bereits eine große Anstrengung. Es fiel einem schließlich ein, daß ein Artilleriehauptmann des Hochverrats angeklagt worden war und daß der Hauptbeweis der Anklage die Liste der Aktenstücke war, die er an Deutschland geliefert hatte. Es gab keinerlei Grund, anzunehmen, daß es bei diesem Verfahren irgendeine Unregelmäßigkeit gegeben hatte insbesondere nicht, daß die Richter ihr Urteil ohne erdrückende Beweise gefällt hätten. Alle sieben Richter hatten sich einstimmig geäußert. Im übrigen hatte Dreyfus am Abend seiner militärischen Degradierung, bei der Rückkehr in seine Zelle im Gefängnis Cherche-Midi, sein Verbrechen eingestanden.(1) Das war es, was sich im Dezember 94 zugetragen hatte, das gab mir mein Gedächtnis auf Befragen an, und seitdem waren meine Gedanken und mein Gewissen durch nichts beunruhigt worden.
     Ja, doch wenn ich aufmerksamer in meinen Erinnerungen blättere - ich hatte seit dem Dezember 1894 einmal von Dreyfus sprechen hören. So komme ich nun auf einen Mann, dessen Andenken mir sehr teuer ist : Michel Breal. Er war es, der damals Argumente vorbrachte, die sich etwa so zusammenfassen lassen: "Es geht nicht darum, ob ich an Dreyfus Unschuld glaube oder nicht. Aber an seine Schuld glaube ich nicht weil das Leben mich gelehrt hat, das nicht zu glauben, was ich nicht verstehe. Und das Verbrechen von Dreyfus verstehe ich nicht. Und ich verstehe ebensowenig, weshalb man mir bis auf den heutigen Tag kein begreifliches Motiv genannt hat. Die Möglichkeit einer menschlichen Handlungsweise, für die sich kein begreiflicher Grund finden läßt, schließe ich grundsätzlich aus ..." Richtig, der alte Breal hatte das gesagt, in meiner Gegenwart. Und wen hatte ich noch den Namen Dreyfus sagen hören? Ja! Bernard Lazare war es, eines Morgens in der Redaktion der Revue Blanche, im Büro von Lucien Muhlfeld. Bernard Lazare hatte jemanden mitgebracht - niemand anderen als Forzinetti, den ehemaligen Kommandanten des Cherche -Midi, des Militärgefängnisses, wo Dreyfus eingesperrt worden war.
     Ich weiß nicht, ob der Name Bernard Lazare den jungen Leuten und den Menschen von heute etwas sagt. Aber er hatte einen bedeutenden Platz in den Reihen der literarischen Generation, die der meinen unmittelbar vorausging. Er war ihr Kritiker - so wie Henri de Regnier und Viele-Griffin ihre Dichter waren und Paul Adam ihr Essayist und Romancier. Mit dieser Gruppe von Freunden hatte er eine kleine Zeitschrift gegründet, die er leitete und die sich Entretiens politiques et litteraires nannte. Er fing an, in den großen Zeitungen und bei der breiten Öffentlichkeit Einfluß zu gewinnen. So kannten wir ihn, aber wir kannten nicht den ganzen Bernard Lazare. Es steckte in ihm ein Jude der großen, der prophetischen Rasse, jener Rasse, die dort sagt : "ein Gerechter ", wo andere gesagt haben: "ein Heiliger".
     Wie hatte sich in seinem Geist zuerst die Vorstellung von einem Irrtum, zuerst die Ahnung von der Unschuld geformt ? Ich wußte es nie genau; vielleicht durch den Kontakt mit Mathieu Dreyfus, dem unerschütterlichen Bruder. Doch es ist gewiß, daß er zu jener Zeit bereits von der Unschuld überzeugt war und sich ganz der Aufhebung des Justizirrtums verschrieben hatte. Bernard Lazare war der erste der "Dreyfusards ", derjenige, aus dem fast alle anderen hervorgegangen sind. Er war mit Kommandant Forzinetti in Verbindung getreten, der 1894 in den Ruhestand versetzt worden war, und er hatte durch ihn die Gewißheit gewonnen, daß Dreyfus, entgegen der Behauptung vom angeblichen Geständnis bei der Rückkehr ins Gefängnis, unablässig seine Unschuld beschworen hatte. Er hatte jene Liste, welche den offiziellen Gutachtern zufolge von Dreyfus geschrieben worden war und welche der Generalstab im Faksimile zu veröffentlichen für besonders schlau hielt, anderen Experten vorgelegt, die zu entgegengesetzten Ergebnissen kamen. Mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung suchte er überall Unterstützung, ohne sich um Zurückweisungen oder selbst Verdächtigungen zu bekümmern; er trug das Zeugnis von Forzinetti und den Bericht der Gegenexperten von Haus zu Haus. Er hatte eine kleine Broschüre zusammengestellt und unter seinem Namen veröffentlicht, die auf den Boulevards ausgerufen wurde. Ich erinnere deshalb beiläufig an diese Broschüre, weil an ihr eine der beiden Fährten ansetzte, die zum wahren Schuldigen führten. Der Bankier Castro oder de Castro, der an einem Regentag am Boulevard des Italiens unter dem Schutzdach auf seinen Omnibus wartete, kaufte sie aus Langeweile bei einem Zeitungsjungen und erkannte in der dort faksimilierten Liste die ihm vertraute Handschrift Esterhazys.
     Jener morgendliche Besuch Bernard Lazares hätte mich in Unruhe versetzen müssen; seine Überzeugung mußte mich eigentlich betroffen machen. Und doch hatte ich ihm ungläubig zugehört, mit vorgefaßter Meinung, wie so viele andere, ohne wirkliche Aufmerksamkeit. Vielleicht hatten wir, Muhlfeld und ich, ihn sogar gemeinsam ausgelacht, als er das kleine Büro in der Rue Laffitte verlassen hatte. Ich war kaum stolz auf diese Erinnerung, die gar nicht lange zurücklag, aber ich kam noch auf eine andere, die ich hier deshalb erzähle, weil die Anekdote, professionell behandelt, sehr komisch wäre.
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(1) Der erste Irrtum. Es war nicht am Abend, als er in seine Zelle im Cherche -Midi zurückkehrte, sondern am Morgen, als er sie verließ, daß Dreyfus - der offiziellen Version zufolge - sein Verbrechen einem Offizier der Garde Republicaine gestanden hatte, dem Hauptmann Lebrun-Renaud.

Teil 2