Efeu - Die Kulturrundschau

Das gibt Diskussionen mit dem Jobcenter

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27.02.2021. Im Logbuch Suhrkamp beklagt Thomas Wörtche die Innovationskrise der Krimiliteratur, die unter Ideologie und Blasenbedürfnissen ächzt. Im Freitag erzählt Claudia Durastanti vom Aufwachsen als Kind gehörloser Eltern in Brooklyn. VAN blickt in die bürokratische Hölle, der freie Musiker während der Pandemie ausgesetzt sind. Im BR sieht Nikolaus Bachler, Chef der Bayerischen Staatsoper durch die Schließung der Theater eine "kulturelle Klimakatastrophe" auf uns zukommen. Und die FAZ wandert im spanischen Cáceres von Goya zu Katharina Grosse.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2021 finden Sie hier

Literatur

Mit "Die Fremde" schreibt Claudia Durastanti über ihre Erfahrungen, als Kind gehörloser Eltern in Brooklyn aufgewachsen zu sein. Dem Freitag hat sie ein Interview gegeben und spricht unter anderem über ihre Mutter, die ihr stets ein Rätsel geblieben ist: Sie "ist fast zu romanesk, um wahr zu sein. Wer sollte diese Geschichte eines Mädchens glauben, das taub wurde und immer falsch abgebogen ist, systematisch den schwierigsten Weg wählte? Als sie in Brooklyn lebte, konnte sie auf ihre Familie zählen, Eltern und Großeltern, die ihr beim Kinderbetreuen halfen, sie war wirtschaftlich abgesichert. Mit 34 schnappt sie dann meinen Bruder und mich und geht in ein Dorf. Als Geschiedene nach Süditalien! Sie kannte niemanden, hatte Alkoholprobleme, rasierte sich die Haare. Sie suchte Isolation, eine radikale Einsamkeit. ... Ich hatte eine besondere Jugend, als wir in die Basilikata umgezogen sind, es war anarchischer, moderner als in der geschlossenen Gemeinde in Brooklyn. Ich wurde immer amerikanischer."

In einem Essay fürs Logbuch Suhrkamp berichtet Krimikritiker und -herausgeber Thomas Wörtche von seiner Zusammenarbeit mit Merle Kröger, die ihren Politthriller "Die Experten" (unsere Kritik) an ihn herantrug. Im Zuge kommt er auch auf wesentliches zu sprechen: Politthriller und Krimis leiden derzeit an "einer Art 'Innovationskrise'", die auch mit den Marktbedürfnisse zu tun habe "und als Reaktion darauf mit dem Kinderglauben, dass man nur 'emanzipatorische' Inhalte und Figuren einsetzen müsse, um sie an dasselbe Publikum zu bringen. Natürlich kann man politisch korrekt designte Kriminalromane (je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Blase, resp. 'Zielgruppe') produzieren, die konventionell erzählt sind. Dann aber schleppt man die ideologischen Muster der Erzählkonvention mit sich, die sich aus unterkomplexen Schemata herleiten, beziehungsweise diesen implizit sind. Die zugrunde liegende Idee, dass sich Kriminalliteratur wegen ihrer Popularität dazu eigne, sich in Diskurse einzumischen, ist zwar prinzipiell richtig, funktioniert aber nicht, solange man Diskurse irgendwie emanzipatorisch 'umbesetzt' und ansonsten in den alten semantischen Strukturen belässt" - ein Dilemma, das Kröger, versichert Wörtche, "verlässlich einmal mehr" durchbreche.

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Michael Krüger erinnert sich in der NZZ an seine Zeit auf Rhodos. Außerdem berichtet er in der Literarischen Welt von seiner Begegnung mit dem kürzlich verstorben US-Schriftsteller Lawrence Ferlinghetti. Nachdem George Orwells Texte zu Beginn des Jahres rechtefrei wurden, beginnt das eigentliche Orwell-Jahr erst jetzt mit einer Flut von Neuübersetzungen, schreibt Tobias Döring in der FAZ. Im Literaturefeature von Dlf Kultur widmet sich Ralph Gerstenberg den Vätern im Gegenwartsroman. "Öffnet die Buchläden", ruft Kurt Kister in der SZ. Arno Widmann (FR) und Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) schreiben Nachrufe auf den französischen Lyriker Philippe Jaccottet (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem Christian Krachts "Eurotrash" (Tagesspiegel), Jia Tolentinos Essayband "Trick Mirror" (taz), Ulrich Peltzers Berlinroman "Das bist Du" (FR), Victor Klemperers "Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945" (NZZ), Candice Fox' Krimi "Dark" (taz), Takis Würgers "Noah. Von einem der überlebte" (SZ), Andreas Maiers "Die Städte" (Standard) und Stefan Zweigs "Briefe zum Judentum" (Literarische Welt).
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Bühne

Die Theater bleiben weiterhin geschlossen und bei den bayrischen Intendanten bricht langsam Panik aus, meldet der BR: "'Wenn wir nicht bald Änderungen bekommen, werden da Wüsteneien und Ödnisse entstehen, von denen man sich Jahre nicht erholen wird, und das müsste, glaube ich, langsam allen klar werden', so Nikolaus Bachler, der Chef der Bayerischen Staatsoper. Er spricht von einer drohenden 'kulturellen Klimakatastrophe'. Und er bezweifelt, dass die Zuschauer in oder unmittelbar nach der Pandemie wieder so zahlreich kommen wie vorher: 'Man entwöhnt ja die Menschen dadurch auch vom Theater.'"

Im FAZ-Gespräch mit Laslo Molnar erklärt Tina Lorenz, einst Mitglied des Chaos Computer Clubs, heute Digitalbeauftragte am Staatstheater Augsburg, weshalb Theater digital zurückliegen - und weshalb sie sich langfristig für die Digitalisierung öffnen müssen: "Es ist so, dass Theater grundsätzlich auf den Kunstbegriff ausgerichtet ist. (...) Die Verwaltung, der restliche Betrieb ist um diesen sehr eng getakteten Kunstbetrieb herum gebaut. Das Theater muss sich erst mal selbst die Freiräume schaffen, um zum Beispiel in der Verwaltung Abläufe zu digitalisieren oder zu automatisieren." Aber das Theater habe "ja gezeigt, dass es sich im Lauf seiner Entwicklung alles einverleibt hat, um Geschichten zu erzählen. Jede Art von technologischer Innovation, die Zentralperspektive, Hydraulik, Elektrizität und künstliches Licht, digitale Steuerungen für die Bühne."

Besprochen wird der vom Frankfurter Mousontrum gestreamte Theaterfilm "Minima Moralia" des japanischen Künstlerkollektivs contact Gonzo (FR). Außerdem streamt die nachtkritik am Wochenende das Stück "Pythonparfum oder Pralinen aus Pirgendwo" von Gregory Caers.
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Film

Anke Sterneborg spricht für epdFilm mit Carlo Chatrian über den am Montag beginnenden, rein dem Fachpublikum vorbehaltenen Teil der in diesem Jahr zweigeteilten Berlinale. Unter anderem erfahren wir, dass die Leiter der großen A-Festivals in diesem Jahr mehr denn je im Austausch miteinander stehen. Das in diesem Jahr viele deutsche Filme im Wettbewerb laufen, habe "sicher auch damit zu tun, dass die Filmwirtschaft hier sehr aktiv ist und mit ihren Projekten früh an uns herangetreten ist, auch weil Venedig und Sundance weniger Filme gezeigt haben und viele Festivals im Herbst ausgefallen sind. Und wenn man nach Cannes schaut - die hatten im letzten Jahr auch mehr französische Filme, das ist eine Konsequenz der Pandemie, alle bauen stärker auf den heimischen Markt."

Weniger gut gelaunt ist Dunja Bialas auf Artechock: Beim Sommerfestival, das sich großzügig über die Stadt legen wird, "wird sich Kosslicks Traum vom Publikumsfestival endlich erfüllt haben", das Publikum schaut die Filme "ohne Branchen- und mit nur wenigen Presseschnösels. Die Berlinale geht in den Wechselunterricht." Und wie soll das mit dem Sichten für die Presse eigentlich funktionieren? Die Filme sind nur je einen Tag lang online: "Für den Montag macht das 22 Filme, die man rein theoretisch gucken könnte. Auf meiner persönlichen Vorauswahlsliste stehen am Montag sieben Filme, am Dienstag sechs, am Mittwoch wieder sieben. Reichlich frustriert habe ich abgebrochen, denn: Das werde ich niemals schaffen."

Weitere Artikel: Michael Meyns führt in der taz durch das Programm der "Woche der Kritik", die die Online-Berlinale ebenfalls online flankiert, daneben aber auch Podiumdiskussionen anbietet. Besprochen wird Miranda Julys "Kajillionaire" (Presse).
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Kunst

Überwältigt kommt Clementine Kügler aus dem neu eröffneten Museum für zeitgenössische Kunst im spanischen Cáceres, einem Lebenstraum der Madrider Galeristin und Kunstsammlerin Helga de Alvear, entworfen von dem Architekturbüro Emilio Tunon. Alvear hat der Stadt dreitausend Werke aus ihrer Sammlung überlassen: "Unter den Deutschen sind Katharina Grosse und Thomas Hirschhorn mit Großformaten vertreten. Auch wenn der Schwerpunkt zweifellos zeitgenössisch ist, geht die Schau zurück bis zu Picasso, Kandinsky und sogar Francisco de Goya. Ein Saal ist seinem Grafikzyklus der 'Caprichos' gewidmet. Eine erste Auflage, etwas ganz Besonderes, das sie nur erwerben konnte, weil der spanische Staat ein Exportverbot verhängt hat und sie die Rarität nun in Cáceres zeigt, erklärt de Alvear. Ihr Kurator ergänzt fast entschuldigend den didaktischen Hintergrund. Kaum ein Zeitgenosse, der sich nicht auf Goya berufe. Das müssen sich junge Menschen angucken können. So werden die gesellschaftskritischen 'Caprichos' in Kontext gesetzt mit Werken von Arnulf Rainer und Marcel Dzama."

Elfriede Lohse-Wächtler: Selbstportrait (um 1930). Öl auf Karton. Quelle: Wikipedia

Mehr als 200 Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken der Künstlerin Elfriede Lohse-Wächtler hat die Heidelberger Sammlung Prinzhorn aus dem Nachlass angekauft. Im Dlf-Kultur-Gespräch mit Timo Grampes würdigt Thomas Röske, Leiter der Sammlung, das Werk der Malerin, die erst spät in die Psychiatrie kam: "'Sie war sehr stark an menschlicher Physiognomie interessiert', sagt Röske. 'Sie hat sich sehr stark in Menschen eingefühlt und sehr beeindruckende Porträts geschaffen.' In der Psychiatrie setzt sie das fort. 'Das Besondere ist, dass diese Porträts immer etwas Unvollendetes haben, immer etwas Angefangenes', sagt der Kunsthistoriker. 'Sie vertieft sich sehr stark in genaue Studien der Gesichter, zeichnet akribisch Falten nach und das eingeschriebene Leid dieser Gesichter.'"

Weiteres: In der FAZ ist sich Ursula Scheer nicht ganz sicher, was sie von dem neuen Werk des britischen Künstlers Sacha Jafri - dem größten Leinwandbild der Welt, halten soll: Immerhin kommt der Erlös einem guten Zweck zugute, meint sie. Im Tagesspiegel vergisst Elke Linda Buchholz für einen Moment den Alltag beim Atelierbesuch der Malerin Ulrike Seyboth im Prenzlauer Berg. In der Berliner Zeitung entdeckt Christian Seidl einen versunkenes Stück Montmartre in einem wiederentdeckten Gemälde von Vincent van Gogh.
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Musik

Für einen VAN-Longread hat Matthias Nöther sich im Musikbetrieb umgehört, wie es mit Hilfen, Überbrückungen und existenziellen Nöten der freien Musiker in der Pandemie aussieht. Vor allem erweist sich die Lage auch als bürokratische Hölle, schließlich sich Musiker "auch während der Pandemie nicht schlichtweg arbeitslos. Es könnte schon sein, dass ein Studiotermin oder ein Treffen mit Kolleg:innen zur Vorbereitung neuer Programme außerhalb ihres Wohnorts stattfinde", was unter HartzIV-Bedingungen zu einem Rattenschwanz an Anträgen und Problemen führe. Und vielleicht sehe nun auch Monika Grütters: "Wenn sie die gesamte freie Musikszene entsprechend den Plänen der Großen Koalition in Hartz IV lockt, ist jenseits festangestellter Orchestermusiker:innen kaum jemand mehr da, der die Opern- und Konzerthäuser bespielen kann - wenn diese Institutionen denn vorsichtig wieder geöffnet werden sollten. Denn auch in der vereinfachten Grundsicherung gilt: Freischaffend musikalisch tätig sein und damit Geld verdienen - das gibt Diskussionen mit dem Jobcenter."

Außerdem: Dass der Sender RBB-Kultur die klassische Musik im Programm mittlerweile vor allem durch Harmonietunke aus der NeoKlassik und Orchester-Soundtracks auf modern trimmen will, findet Stammhörerin Gabriele Riedle in der taz in etwa "so frisch und so aufregend, wie wenn sich ein ausrangierter Verteidigungsminister beim Großen Zapfenstreich Musik von den Beatles wünscht." Thomas Mauch führt in der taz durch die verborgene Frisurengeschichte in der Berliner Popgeschichte.

Besprochen werden eine Doku über Billie Eilish (Welt, Presse, SZ), Bonnie Tylers "The Best Is Yet To Come" (FR) sowie neue Alben der "surrealistisch geschulten Wortjongleure" Conny Frischauf und PeterLicht (taz). In letzteres hören wir rein:

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