Vom Nachttisch geräumt

Anti-Antiamerikanismus

Von Arno Widmann
27.04.2016. Frisch wie im Jahr 1926, als es erstmals erschien: Wolf Durians Buch über den Reklamekönig "Kai aus der Kiste"
Als Kind las ich begeistert "Kai aus der Kiste" von Wolf Durian. Ich erinnerte mich daran, dass der Junge sich in einer Kiste zu jemandem transportieren ließ, den er sprechen wollte. Ich erinnerte mich auch daran, dass es Zeichnungen in dem Buch gab. Ich wusste auch noch, dass es um eine "Schwarze Hand" ging, aber sonst hatte ich alles vergessen. Das hinderte mich freilich nicht, als ich die Geschichte jetzt - ich bin schon im zur Nostalgie neigenden Alter - wieder las, an der einen oder anderen Stelle wortgenau vorwegnehmen zu können, was gesagt wurde. Irgendwo ist die Sache offenbar perfekt abgespeichert.

Ganz und gar überrascht war ich von der Modernität der Story. Es geht um ein PR-Konzept für eine Einführung einer amerikanischen Zigarettenmarke auf dem deutschen Markt. Es ist nicht zu fassen, dass Regina Ziegler das Buch noch nicht entdeckt hat, um einen Film daraus zu machen. Das taten bisher nur Theo Metzger 1960 für den Süddeutschen Rundfunk und Günter Meyer 1988 für die DEFA. Das Buch war 1926 das erste Mal erschienen. Der Autor Wulf Durian, eigentlich Wolfgang Walter Bechtle (1892-1969), war damals 34 Jahre alt. Als Dreizehnjähriger war er aus Stuttgart geflohen, um als blinder Passagier in die USA zu reisen. Die Polizei holte ihn in Antwerpen aus einem Frachter und schickte ihn zurück zu seinen Eltern. Volljährig geworden, durchstreifte er die USA und arbeitete als Tellerwäscher, Holzfäller, Trapper und Cowboy. Als er zurückkam, floh er wieder. Diesmal nach Berlin. Er wurde Redakteur der Kinderzeitschrift "Der heitere Fridolin". In ihr erschien "Kai aus der Kiste" als Fortsetzungsroman. Mit so großem Erfolg - die Auflage der Zeitschrift verdoppelte sich -, dass daraus auch ein Buch wurde. 1927 lehnte der Prüfungsausschuss der Jugendschriftenwarte das Buch wegen - so Wikipedia - "Darstellung des Amerikanismus ab. Unter der Naziherrschaft wurde es aus gleichem Grund (proamerikanisch) verboten". Nach 1945 war Wolf Durian Mitarbeiter der Berliner Zeitung. Er schrieb dort unter dem Pseudonym Fridolin im Feuilleton.


"'Wetten?', fragte Kai sofort." Zeichnung: Philip Waechter

"Kai aus der Kiste" ist ein witziges Buch, das Reklame nicht sauertöpfisch-kritisch betrachtet, sondern zeigt, mit wie viel Spaß sie gemacht werden kann. Die Begeisterung, mit der Kai, ein Berliner Straßenjunge, irgendetwas zwischen 12 und 16 Jahre alt, dafür sorgt, dass innerhalb weniger Stunden die ganze Stadt von der "Schwarzen Hand" spricht, die Kai und seine Freunde überall in der Stadt auf jede freie Fläche gedrückt haben. Die neue Zigarette, die eingeführt werden soll, wird "Schwarze Hand" heißen. Der amerikanische Zigarettenkönig, der einen Reklamekönig sucht, interessiert sich nicht für das Alter des Jungen, er fragt auch nicht nach Zeugnissen. Er interessiert sich nur dafür, ob Kai Ideen hat und ob er sie umsetzen kann. Damit unterscheidet er sich unübersehbar von den Kriterien, die in Deutschland gelten. Das macht seine Attraktivität aus. Ihn interessiert nur die Leistung, nicht die Herkunft oder die Ausbildung der Bewerber für den Titel und das Einkommen eines Reklamekönigs. "Kai aus der Kiste" ist eines der schönsten Bücher der Weimarer Republik. Mitte der fünfziger Jahre las ich es begeistert. Der Mief, gegen den Wolf Durian in den zwanziger Jahren geschrieben hatte, war - dank der Nazijahre - noch stärker geworden. Kai war frischer als alles, was es sonst für junge Jugendliche zu lesen gab. Frisch ist er immer noch.

Wolf Durian, Kai aus der Kiste, mit neuen Abbildungen von Philip Waechter, Nachwort von Sibylle Durian, Dressler Verlag, 112 Seiten, 7,50 Euro.