Efeu - Die Kulturrundschau

Wenn die Kunst der Hammer ist

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2017. Tag der großen Retrospektiven: Die FAZ feiert Otto Freundlichs farbenprächtigen kosmischen Kommunismus in Köln, die SZ schaut zu, wie sich Marina Abramovic in Stockholm dem Tode entgegen kuratiert und die NZZ ergründet die Beliebtheit von David Hockney in London. FAZ und Welt suchen in Brasilien die Gründe für den Suizid von Stefan und Lotte Zweig. Tagesspiegel und DeutschlandradioKultur fragen: Droht am Kulturforum ein neues Berliner Bau-Desaster? Und im Standard spricht Isabelle Huppert über Männer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2017 finden Sie hier

Kunst









(Bild: Otto Freundlich, La Rosace II, 1941, Gouache auf Karton, Musées de Pontoise, Foto: Donation Freundlich, Musées de Pontoise)

Ganz beglückt von der "magischen" Farbenpracht der Otto-Freundlich-Retrospektive im Kölner Museum Ludwig schreibt Konstanze Crüwell in der FAZ. Freundlich betrachtete "die Abstraktion weniger als formale Errungenschaft, sondern vor allem als eine universale, Gemeinschaft stiftende Bildsprache: Beseelt von der Utopie eines 'kosmischen Kommunismus', strebte er an, die gegenständlichen Kunstformen als Ausdruck von Besitzstreben und des in seinen Augen bornierten Individualismus zu überwinden, um neue Bilder als Symbole der ersehnten gesellschaftlichen Erneuerung zu erfinden."

Ähnlich sieht das Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau: "Erst die Abstraktion erschien dem überzeugten Kommunisten als idealer Ausdruck seiner gewaltlosen Utopie. Der Zusammenklang der Farben spiegelt ein Universum ohne Grenzen 'zwischen Welt und Kosmos, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mein und Dein'. Die haarscharf nebeneinandergesetzten Farbfelder sah er als Zellen eines Weltkörpers, zwischen denen universelle Energie ohne trennende Konturlinien fließt. 'Mein Himmel ist rot', heißt ein programmatisches Ölgemälde, das als Leihgabe aus dem Centre Pompidou kommt."

Im Interview mit der Berliner Zeitung spricht Wolfgang Tillmans über Berliner und Londoner-Clubkultur, Chris Dercon, analoge und digitale Fotografie, und die Rückkehr der Musik in sein Werk: "In der Tat, Musik ist der direkteste Weg ins Hirn, auch das hat mich in den letzten zwei Jahren dazu bewegt, Musik wieder ernster zu nehmen. Und diesen Willen von mir zum direkteren Sprechen mit Worten wieder Raum zu geben. Das ist ein tiefes künstlerisches Bedürfnis, kein Nebenprojekt. Auf dem Rückzug fühle ich mich nicht."

Außerdem: SZ-Kritiker freut sich über die Marina- Abramovic-Retrospektive im Moderna Museet in Stockholm, die nächstes Jahr auch in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen sein wird: Glücklicherweise wird hier das gesamte Oeuvre der "Großmutter der Performance" gezeigt - und nicht nur ihre jüngsten, überwiegend esoterischen Arbeiten, so Briegleb. Besprochen wird die Hockney-Retrospektive in der Tate Britain (NZZ).
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Literatur

Heute vor 75 Jahren nahmen sich Stefan Zweig und dessen Frau Lotte im brasilianischen Petrópolis das Leben. Mehrere internationale Delegierte haben sich aus diesem Anlass das restaurierte Häuschen in Brasilien angesehen, in dem die beiden sich umgebracht haben. Für die FAZ war Matthias Rüb vor Ort. Den Schriften Lotte Zweigs entnimmt er einige Hinweise auf die Gründe für den gemeinsamen Suizid: "Sie litten unter Einsamkeit, kultureller und sprachlicher Isolation, waren abwechselnd oder gemeinsam niedergeschlagen, ärgerten sich über das Personal. Für Lottes Asthma war das schwüle Klima im tropischen Hügelland von Petrópolis die Hölle." Für die Welt hat der Schriftsteller Joachim Lottmann Zweigs "Hundehütte" in Brasilien besucht. Dass der Suizid psychisch bedingt war, glaubt er indessen nicht: "Es sei denn, man erklärte Mitgefühl für einen psychischen Defekt. Nein, Zweig starb an inhaltlichen Dingen, am Gift des rassistischen Denkens, das sich zwanzig Jahre lang immer weiter ausbreitete. Dass man nun plötzlich sogar seine Bücher 'jüdisch' fand, war eine neue Stufe der Eskalation." Dazu passend bespricht Stephan Wackwitz in der taz George Prochniks Buch "Das unmögliche Exil: Stefan Zweig am Ende der Welt".

Weiteres: Mit Hohn und Spott reagiert Leander F. Badura im Freitag auf den offenbar überschaubar geglückten Versuch, in Berlin mit einem Kongress an den 1935 von hundert Schriftstellern besuchten "Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur" anzuschließen: "Wenn die Kunst der Hammer ist, mit dem man die Wirklichkeit gestaltet, dann war dieser Abend ein Zahnstocher." Für den Freitag unterhält sich Julika Bickel mit Jonathan Safran Foer über dessen neuen Roman "Hier bin ich". Holger Heiman berichtet in der Welt von seinem Besuch bei der Buchmesse auf Kuba, wo kritische Bücher aus der Auslage des Ch Links Verlags beschlagnahmt wurden, wie der Standard meldet.

Besprochen werden Denis Johnsons "Die lachenden Ungeheuer" (NZZ), Chris Kraus' "I Love Dick" (Freitag), Ismail Kadares "Die Dämmerung der Steppengötter" (Tagesspiegel), Denis Johnsons "Die lachenden Ungeheuer" (Welt) und Nora Bossongs Reportage "Rotlicht" (SZ, hier dazu ein Autorinnengespräch im BR).

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Musik

Für die NZZ porträtiert Markus Ganz den Musiker Manuel Gagneux, der in seinem Projekt Zeal & Ardour Black Metal mit Black Music kreuzt. Martina Wohlthat schreibt in der NZZ zum 15-jährigen Bestehen des Basler Musik-Bahnhofs. Christian Wildhagen (NZZ), Udo Badelt (Tagesspiegel) und Volker Michael (Deutschlandradio Kultur) schreiben zum Tod des Dirigenten Stanisław Skrowaczewski. Hier eine von Skrowaczewski dirigierte Aufführung des hr-Sinfonieorchesters von Bruckners Neunter:



Besprochen werden das Album "Fragen über Fragen" der Berlinerin Balbina, die im HipHop angefangen hat und jetzt Pompös-Pop macht (taz), ein Konzert von Vladimir Korneev (Tagesspiegel), ein Auftritt der Sopranistin Julie Fuchs (NZZ), ein Konzert von Virginia Wing (taz), ein Konzert des Pianisten Marc-André Hamelin (SZ), die Aufsatzsammlung "The Weird and the Eerie" des kürzlich verstorbenen Kultur- und Poptheoretikers Mark Fisher (Freitag), das neue Album der Pissed Jeans ("tendenziell Bubenmusik", aber ohne "machistische Klischees", schreibt Karl Fluch im Standard) und das neue Album von Joan of Arc (Jungle World).
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Architektur

Wenn es nach dem Architekten Stephan Braunfels geht, ist am Kulturforum, wo jetzt das Museum der Moderne nach dem Entwurf von Herzog & de Meuron gebaut werden soll, noch längst nichts entschieden, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Allerdings: "Was der Architekt in seinem 'städtebaulichen Gesamtkonzept' vorstellt, erinnert dann aber doch fatal an die zugige Schotterwüste, die sich derzeit dort befindet. Obwohl sich Braunfels auf Michelangelos geniale Lösung für den Kapitolsplatz in Rom beruft, kann er für Berlin nur eine theoretische Piazza-Situation anbieten, keine mit echten Fassaden. Dabei weiß jeder Italienliebhaber, dass wirkliche Aufenthaltsqualität nur dann entstehen kann, wenn ein Platz von bewohnten Häusern umschlossen wird."

Zustimmung für Braunfels gibts hingegen von Nikolaus Bernau auf Deutschlandradiokultur: "Nun sagen Sie: Okay, mal wieder Berliner Fehlplanung, mal wieder die Aussicht auf ein Dauerdesaster und extrem erhöhte Kosten. Daran ist man ja gewöhnt,  siehe Flughafen, Staatsoper oder Museumsinsel. Aber so einfach sollten wir es uns nicht machen. Denn das, was am Kulturforum droht, die Durchsetzung eines Plans, obwohl eine bessere Alternative vorliegt, geschieht immer wieder und keineswegs nur in Berlin."
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Bühne

In der FAZ kann auch Reinhard Kager nicht verstehen, warum Regisseur Peter Konwitschny Werner Egks Revue "Peer Gynt" für das Theater an der Wien aus der Mottenkiste geholt hat. Was Hitler an der Oper fand, will sich Kager allerdings auch nicht erschließen: "Egk integriert nämlich Elemente der damals jazzig angehauchten Revuemusik, im fünften und sechsten Bild sogar Tänze wie Charleston oder Tango oder einen CanCan ganz im Offenbachschen Stil. Dann und wann hörbar wird sogar der kantige Tonfall der Musik Kurt Weills. Es tauchen viele in Nazi-Deutschland verpönte Musikstile aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts auf - ausgenommen die als 'entartet' diffamierte Zwölftontechnik.
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Film


Luis Gnecco als Pablo Neruda (Bild: Piffl)

Pablo Larraíns
Biopic "Neruda" über den chilenischen Politiker und Schriftsteller hebt sich angenehm ab von der Masse der filmischen Künstlerbiografien, die sich bereits damit begnügen, "Anschauungsmaterial für den Geschichtsuntericht" zu sein, freut sich Tobias Sedlmaier in der NZZ. Der Film lote aus, "wie man eine solche Geschichte erzählen kann. Nicht nur die hellen, geradezu blendenden Bilder suggerieren einen traumhaften, leicht irrealen Zustand. Auch in der Handlung, die von der Stimme des Detektivs erzählt wird, finden sich so manche Zeitsprünge, Brüche und Widersprüche. ... Es geht also nicht um den Dichter selbst, sondern um dessen Verhältnis zur Wirklichkeit. Und die ist politisch."

Eva-Christina Meier hat sich für die taz mit dem Regisseur getroffen. Den Film selbst findet sie im Gegensatz zu ihrem begeisterten NZZ-Kollegen etwas zu eigensinnig im "formalen Spiel mit cineastischen Elementen". Für die SZ hat sich Juliane Liebert mit Gael García Bernal unterhalten, der im Film einen auf Neruda angesetzten Polizisten spielt. Weitere Besprechungen in SZ und beim Perlentaucher.

Im Standard spricht Isabelle Huppert über ihre Rolle in Paul Verhoevens "Elle". Das sei "auch ein Film über Männer, aber die Männer sind sinkende Sterne. Früher hatten sie Macht. Jetzt suchen sie nach ihrer Position. Unweigerlich ist dies auch ein Thema, bei dem die Erotik ins Spiel kommt. Wer hat die Macht? Wer übernimmt die Kontrolle?" Für Die Presse bespricht Andrey Arnold den Film.

Einigermaßen entsetzlich findet taz-Kritiker Tilman Baumgärtel Reiner Krausz' und Christoph Schuchs EU-kritischen Dokumentarfilm "Europa - Ein Kontinent als Beute", der zwar links beginnt, aber in "trübe ideologische Gefilde" abgleitet: "Offenbar fehlt noch immer ein Gespür dafür, auf welchen Ton man achten muss, wenn sich rechte Populisten als frischgebackene Kapitalismuskritiker präsentieren."

Weiteres: Für ZeitOnline plaudert Jochen Wegner mit Detlev Buck. SpiegelOnline meldet den Tod des japanischen Filmemachers Seijun Suzuki. Hier ein kleiner Videoessay über dessen aufregendes Schaffen:



Besprochen werden Michael Kochs "Marija" (NZZ), Craig Atkinsons Dokumentarfilm "Do Not Resist" über die US-Polizei (taz), Yeon Sang-Hos auf DVD veröffentlichter, südkoreanischer Zombiefilm "Train to Busan" (taz), Michael Pfeifenbergers Wüstendoku "Desert Kids", die bei uns am 11. März startet (Standard) und die Serie "Good Girl Revolt" (Freitag).
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