Im Kino

Zweitkarriere als Fetischobjekt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
11.04.2018. Da die Kinostarts diese Woche nicht allzu viel hergeben, werfen wir einen Blick ins DVD-Regal. Diese Woche erscheinen gleich zwei Filme, die sich mit erotischen Sonderbarkeiten in der japanischen Provinz beschäftigen: Sion Sonos Finalisierung der Teenie-Sex-Komödie "The Virgin Psychics" und Daisuke Gotōs melancholisches pinku eiga "A Lonely Cow Weeps at Dawn".


Ihre nackten, winkenden Arme, ihre gleichfalls unbekleideten, rennenden Beine, ihre Hand in meiner Hand, unsere synchron rennenden Füße, und schließlich unsere sich nach oben reckenden Füße beim ersten Kuss - diese mantraartig immer wiederkehrende Bilderfolge sucht Yoshirō Kamogawa (Shōta Sometani) regelmäßig im Film heim. Sie zeigt, davon ist er fest überzeugt, die Frau, die für ihn bestimmt ist. Und zwar ist das eine Frau, deren restlichen Körper samt Gesicht er zwar noch nie gesehen hat, die er aber gleichwohl schon seit der Zeit vor seiner Geburt kennt: Im Mutterleib bereits hatte er mit einem anderen Fötus (im Nachbarbauch) Kontakt aufgenommen. Seither wartet er auf sein Liebesideal.

Da er aber bis auf weiteres in einem Teenagerkörper feststeckt, allein und dauergeil, muss Yoshirō sich mit Ersatzobjekten begnügen. Bei seinen mit fast schon religiöser Inbrust zelebrierten Masturbationsorgien dienen ihm nicht die nackten, aber unschuldigen Partialobjekte der fehlenden Geliebten als Vorlage, sondern andere, (halbwegs) verhüllte, dafür umso gründlicher fetischisierte Körperteile: in tief dekolletierten Oberteilen zusammengepresste Brüste, Oberschenkel, die auf ein - Masterfetisch vieler japanischer Filme und auch von "The Virgin Psychics" - Höschen zulaufen, das unter einem kurzen Rock hervorlugt.

Diese anderen Körperteile gehören Frauen, mit denen Yoshirō in seinem Alltag zu tun hat: Mitschülerinnen, Lehrerinnen, einer Pachinko-Parlour-Betreiberin. Wobei, halt, nicht der großmütterlichen Betreiberin, sondern deren Enkelin natürlich. In einem Film wie "The Virgin Psychics" kann man sich da schon einmal vertun: Weiblichkeit ist hier nun einmal kaum mehr als eine nicht enden wollende Tits-and-Ass-Parade (passenderweise verwandelt sich ein Teil des weiblichen Personals im Lauf des Films auch tatsächlich in Gummipuppen). Genau wie Männlichkeit kaum mehr ist als eine pulsierende Erektion, an der eher zufällig ein den Launen des Penis hilflos ausgelieferter Restkörper dranhängt.



Sion Sonos "The Virgin Psychics" ist gewissermaßen die Finalisierung der Teenage-Sex-Comedy: Die Reste an psychologischer Ausdifferenzierung, auch an lebensweltlichem Milieu, die im Genre für gewöhnlich die sexuellen Attraktionen rahmen (beziehungsweise: ihnen als Medium dienen), werden radikal weggestrichen, übrig bleibt die reine, blockierte und deshalb über alle Stränge schlagende Libido der Adoleszenz. Wobei diese Adoleszenz schon ziemlich eindeutig eine männliche ist - zu den "Virgin Psychics" des Titels zählt zwar auch Miyuki Hirano (gespielt von Elaiza Ikeda, die jugendliche Unbeholfenheit deutlich besser rüberbringt als alle anderen Hauptdarsteller), eine Klassenkameradin Yoshirōs, aber wie heterosexuelle Frauen in der Welt dieses Films theoretisch auf ihre Kosten kommen könnten, bleibt weitgehend unklar. Eine andere Figur, die gemäß der Untertitel als eine "budding lesbian" eingeführt wird, entpuppt sich derweil als eine sexuelle Superschurkin.

Eine kleine Auswahl der weiteren Attraktionen: "Sexy cosplayers" in Badeanzügen, die mithilfe von Liebesstrahlen und Sexspielzeug die Kleinstadt Toyohashi, in der der Film spielt, terrorisieren; ein Scully-und-Mulder-artiges Ermittlerduo, das in einem silbernen Spielzeugauto einem mysteriösen psychosexuellen Phänomen in Schrittgeschwindigkeit hinterhertuckert; ein roter Plastikroboter namens Toyocky, der im echten Leben als Stadtmaskottchen von Toyohashi dient, nun aber möglicherweise dank Sono eine Zweitkarriere als Fetischobjekt vor sich hat; und eben die "Virgin Psychics": eine Gruppe von jungen und nicht mehr ganz so jungen Unbeleckten, die vom erotischen Weltgeist beim Masturbieren erwischt wurden und seither über Superkräfte verfügen.



Wie das nun alles konkret miteinander zusammenhängt: Da bin ich überfragt. Der Film funktioniert offensichtlich in erster Linie nach dem additiven Wundertütenprinzip. Es ist aber zumindest keineswegs so, dass der Film, wie das amerikanische Teeniekomödien unweigerlich tun würden, die Versuche der Virgin Psychics protokolliert, ihre Unschuld zu verlieren. Vielmehr interessiert er sich für die mannigfaltigen Blüten, die eine kategorisch unbefriedigte Sexualität treibt. Schon in Yoshirōs angeekeltem Blick auf die Zungenspiele der eigenen Eltern wird deutlich, dass die Kehrseite dieser auf reichlich beknackte Art durchsexualsierten Welt die Angst vor echtem Sex ist. An sich kein besonders origineller Gedanke. Und letztlich geht es dem umtriebigen und ausgesprochen produktiven Regisseur Sono ("The Virgin Psychics" ist einer von fünf Filmen, die er in einem einzigen Jahr, 2015, gedreht hat) vermutlich weniger um eine subversive Attacke auf die Konventionen der Sex-Comedy, oder gar um ein tiefergehendes Statement zum Geschlechterverhältnis, als darum, eine Welt zu erfinden, die nach ganz und gar eigenen Gesetzen funktioniert.

Wie die meisten anderen Sono-Filme ist auch dieser als Narrativ kaum, als Konzept ausgesprochen stringent. "The Virgin Psychcis" ist eine zweistündige, hektische, knallbunte, stets etwas zu grell ausgeleuchtete Ode an linkische, jungmännliche Notgeilheit. Dass man sich nach dem Film eher erschlagen als beglückt fühlt, ist da wahrscheinlich ebenfalls nur konsequent.

Lukas Foerster


The Virgin Psychics - Japan 2015 - OT: Eiga: minna! Esper da yo! Regie: Sion Sono - Darsteller: Shōta Sometani, Elaiza Ikeda, Maryjun Takahashi, Mariko Tsutsui, Ken Yasuda, Erina Mano - Laufzeit: 114 Minuten.

"The Virgin Psychics" erscheint am 13.04. bei AV Visionen GmbH.


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Der Bauer Shukichi beginnt seinen Tag immer auf die gleiche Weise: Nachdem die Sonne aufgegangen ist, geht er in den Stall, um seine Kühe zu melken. Wie er den Tieren gut zuredet und sie liebevoll tätschelt, wirkt weniger wie bloße Arbeit als wie ein Akt der Liebe. Irritierend ist allerdings, dass sich zwischen den aufgereihten Tieren eine nackte Frau auf allen Vieren befindet. Der senile alte Mann meint in ihr seine geliebte, schon längst verstorbene Kuh Bessie zu sehen. Und selbst wenn er erfolglos versucht, Milch aus ihrer Brust zu kneten, merkt er nicht, dass es sich stattdessen um seine Schwiegertochter Noriko handelt.

"A Lonely Cow Weeps at Dawn" hat wie die meisten Pinkfilme gleich mehrere Titel - von denen "Cowshed of Immorality" zwar der schönste, aber nicht der treffendste ist. Gerade das Reißerische, das viele japanische Erotikfilme wie ein Versprechen im Titel tragen und nicht selten durch sexuelle Grenzüberschreitungen einlösen, sucht man hier vergeblich. Anstatt das skandalöse oder zumindest absurd komische Potenzial seiner Ausgangssituation auszureizen, versucht der Regisseur Daisuke Gotō vielmehr, sie so normal wie möglich erscheinen zu lassen. Und tatsächlich nimmt man die vermeintliche Perversion bald nicht mehr wahr. Wir sehen in der muhenden Noriko zwar, anders als Shukichi, keine Kuh, dafür aber bald eine pragmatische Witwe, die mit ihrem alleinstehenden Schwiegervater eine Zweckgemeinschaft eingegangen ist und sich nun für sein Seelenheil aufopfert.

Mit der Zeit erweist sich das Rollenspiel als Symptom für die Lebensumstände der beiden. Den irgendwo südlich von Tokio, in der Präfektur Yamanashi gelegenen Handlungsort inszeniert Gotō wie eine Insel, auf der eigene Regeln herrschen. Mehrmals schwenkt die Kamera an der scheinbar endlosen Gebirgskette entlang, die den Landstrich von der Außenwelt abschneidet. Erscheint es zunächst noch verwunderlich, dass Shukichi seiner Kuh mehr hinterhertrauert als dem verstorbenen Sohn, versteht man bald, dass einem in dieser von der Landwirtschaft geprägten Gegend manches Tier näher sein kann als die eigenen, ziemlich missratenen Kinder. Bezeichnenderweise ist der einzige Arzt in der Gegend ein Veterinärmediziner. Und wenn der sich an seiner apathischen jungen Sprechstundenhilfe abmüht, werden sich die beiden nicht einig, ob seine Manneskraft nun eher einer Kuh oder einem Pferd entspricht.



Obwohl sich gerade bei solchen Nebenfiguren auch witzige Untertöne finden, erweist sich  "A Lonely Cow Weeps at Dawn" doch als zutiefst melancholischer Film über Einsamkeit, bedingungslose Solidarität und die Flüchtigkeit der Liebe. Natürlich geht es auch um Sex. Dass Noriko während ihrer Kuh-Performance nackt ist, verleiht dem Rollenspiel einen erotischen Subtext, der erst über einige Umwege behutsam freigelegt wird. Und der im Vergleich mit der Beziehung zwischen dem Dorfgrobian und Shukichis missgünstiger Tochter offenbart, wie unterschiedlich Gotō Sexualität inszeniert. So fallen die sich weniger aus der Handlung als aus den genretypischen Anforderungen nach nackter Haut entwickelnden Szenen überraschenderweise den unsympathischsten Figuren zu. Pinkfilme bieten trotz des geringen Budgets ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit, weil es, abgesehen von einer bestimmten Zahl an Sexszenen, keine Vorgaben gibt. So wirkt es fast wie ein Seitenhieb auf das Genre, dass Gotō das Sex-Pflichtprogramm ausgerechnet auf die abwälzt, die ohnehin nur an Geld denken, ja sogar noch während des Blow Jobs damit wedeln.

"A Lonely Cow Weeps at Dawn" ist ein schöner Beweis dafür, wie sich große Ambitionen auch innerhalb der Beschränkungen der Erotikfilmindustrie verwirklichen lassen. Gotō ließ einmal verlauten, dass er sich für seinen Streifen von Yasujiro Ozus Film "Später Frühling" inspirieren ließ, von dem er neben der Zweckgemeinschaft und dem ständigen Abwägen zwischen persönlichen Idealen und einem aus den äußeren Umständen resultierenden Pragmatismus auch die Namen der beiden Hauptfiguren übernommen hat. Doch in seinem Aufbegehren gegen die Konventionen einer normierten Gesellschaft geht er noch einen guten Schritt weiter als der Altmeister des japanischen Kinos. In einer Welt, in der Verwandtschaftsbeziehungen einem Fluch gleichen und Tiere die besseren Freunde sind, verwundert es nicht, dass sich wahre Liebe nur in der Perversion findet.

Michael Kienzl

A Lonely Cow Weeps at Dawn
- Japan 2003 - OT: Chikan gifu: Musuko no yome to… - Regie: Daisuke Gotō - Darsteller: Noriko, Hidehisa Ebata, Haruki JA Lonely Cow Weeps at Dawn, Sakura Mizuki, Seiji Namamitsu, Hōryū Nakamura - Laufzeit: 61 Minuten.

"A Lonely Cow Weeps at Dawn" erscheint am 13.4. bei Alive AG.