Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2005. Die SZ erklärt, warum Benedikt XVI. mit den Deutschen nicht warm wird. In der FAZ hält Kurt Biedenkopf fest, wer das demografische Problem zuerst erkannte: er, und zwar 1977. Die NZZ hätte gern Wislawa Szymborska besucht, wurde aber nicht empfangen. Und die Welt erzählt Geschichten aus Danzig: "Fünf einfache Arbeiter planten einen Aufstand..."

FR, 16.08.2005

Kleists "Penthesilea" gilt als unspielbar, erzählt Peter Michalzik. Dennoch erlebte er in Stephan Kimmigs Salzburger Inszenierung einige beglückende Momente. "Was war das Glück, das Susanne Wolff fühlte, nachdem sie Penthesilea geworden war, nachdem sie Achill, der nicht mehr Alexander Simon war, besiegt hatte, als sie neben ihm sitzen konnte, als er sie streicheln konnte. War es Liebe? War es Theater? Sie erzählt ihm die Geschichte vom Frauenstaat der Amazonen, jenen Traum der Frauen, die ganz ohne Männer das Gesetz sich selber geben. Da entsteht vor ihr etwas, was sie zuvor noch nie gesehen hatte, sie spricht nicht mehr den Text, sondern er spricht sie. Sie sieht, was sie schon immer in sich trug, und sie meint, das erste Mal sie selbst zu sein. Sie sitzt ganz ruhig da, und da ist sie aus ihrer Haut gefahren. So in etwa muss Stephan Kimmig Kleists 'Penthesilea' geträumt haben, als er sich entschloss, dieses Stück zu versuchen, und manchmal kommt das Theater, das er in Salzburg inszeniert hat, seinem Traum tatsächlich nahe."

Birger Priddat, Professor für Volkswirtschaft und Philosophie, macht sich aus gegebenem Anlass einige Gedanken über Korruption als Wachstumsbranche: in Deutschland hat sich die die Zahl der Korruptionsverfahren laut Bundeskriminalamt seit Mitte der 1990er Jahre von 258 auf 1243 verfünffacht. "Der Versuch, nüchtern zu bleiben bei der Analyse von Korruption darf nicht missverstanden werden als deren Legitimation. Korruptionszahlungen sind illegale Zahlungen. Sie prämieren Leistungen, die weder vom Markt noch vom Arbeitsvertrag her zugerechnet werden können. Dennoch geben Korruptionen Signale: Sie weisen auf eine unternehmerische Energie, die anscheinend im aktuellen Unternehmen (oder in der Verwaltung) nicht akzeptiert wird oder von ihr gewollt bzw. integriert wird."

Weitere Artikel: "Monika Marons Poetikvorlesung in Frankfurt bleibt eine Verlegenheit. Sie zeigt Angst vor Indiskretion", meint ein unzufriedener Jürgen Verdofsky. "Fast könnte man meinen, zwischen der Theorie über das Schreiben und dem Schreiben selbst liege eine von Hunden scharf bewachte Grenze. Wir vertrauen darauf, dass der neue Roman von Monika Maron da gut durchkommt." In Times Mager wirft Harry Nutt einen Blick in den Osten, in dem "wie man hört, die mutmaßlich kommende Bundestagswahl entschieden" wird. Im Forum Humanwissenschaften erklärt Michael Hartmann, warum der Wandel der westeuropäischen Hochschullandschaft die soziale Selektion fördert. Und der Soziologe Andreas Hess beschreibt Versuche, im Baskenland einen liberalen Nationalismus zu verwirklichen.

Besprochen werden Bücher, nämlich Markus Orths Roman "Catalina", Santiago Gamboas "Die Blender" und Kirsty Gunns Urlaubs-Erzählung "Der Junge und das Meer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 16.08.2005

"Die Welt ist offenbar nicht nur beziehungsgestört und verunsichert, sondern auch noch ungerecht", resümiert Anke Leweke das Filmfestival von Locarno, das bei all den verstörenden und berührenden Filmen ausgerechnet Rodrigo Garcias "kunstgewerblichen" Episodenfilm "Nine Lives" mit dem Leoparden auszeichnete. Sie jedenfälls hätte den Goldenen Leoparden Joana Hadjithomas' und Khalil Joreiges Libanon-Film "A Perfect Day" gegeben. Oder Yilmaz Arslans deutsch-türkisch-kurdischer Abrechnung mit der Multikulti-Fantasie "Fratricide - Brudermord".

Weiteres: Zum Überraschungserfolg dieses Sommers erklärt Dirk Baecker das Berliner Holocaust-Mahnmal: "Faszination und Distanzierung, Neugierde und Vergessen, Konzentration und Zerstreuung gehen hier so sehr Hand in Hand, dass es den alten Priestern und Pädagogen des Sinns schwindlig wird." In der Reihe "Political Studies" beschreibt Felix Klopotek, wie Rot-Grün die Ökonomie politisierte und die Politik ökonomisierte - mit ungeahnten Folgen.

Und Tom.

Welt, 16.08.2005

Für das Magazin besucht Dirk Böttcher historische Orte in Danzig, wo einst die Solidarnosc gegründet wurde: "Fünf einfache Arbeiter planten einen Aufstand und es wurde eine Revolution, die der ersten freien Gewerkschaft des Ostblocks den Weg bereitete: Die Solidarnosc ('Solidarität')." Allerdings, so Böttcher, wird jetzt in Polen auch an einigen Solidarnosc-Mythen gezweifelt.

Im Kulturteil schildert Uwe Schmitt die Erfolge Werner Herzogs in den USA mit seinem Dokumentarfilm über den Grizzly-Liebhaber Timothy Treadwell, welcher am Ende von einem Grizzly verspeist wurde, der Fettreserven für den Winterschlaf brauchte.

FAZ, 16.08.2005

Im Gespräch mit Frank Schirrmacher und Jürgen Kaube hält Kurt Biedenkopf fest, dass das demografische Problem nicht erst gestern entdeckt wurde: "1977 habe ich, zusammen mit Meinhard Miegel, das 'Institut für Wirtschaft und Gesellschaft' in Bonn gegründet. Wir waren überzeugt, dass die enormen Probleme, die sich schon damals auf unser Land zubewegten, wissenschaftlich untersucht und politisch bewusst gemacht werden mussten. Neben den Folgen des Geburtenrückgangs ging es uns um die Folgen der schnell ansteigenden Staatsverschuldung, der Fehlentwicklungen im Arbeitsmarkt und der expandierenden Ansprüche an das Sozialsystem. Für uns stand bereits Ende der siebziger Jahre fest, dass es angesichts der demografischen Entwicklung nicht möglich sein würde, das durch Umlage finanzierte Alterssicherungssystem beizubehalten."

Weitere Artikel: Edo Reents resümiert ein Symposion aus Anlass des fünfzigsten Todestags von Thomas Mann in Lübeck. Andreas Platthaus glossiert ein Studie, die ergab, dass Hummeln bei einer Auswahl von verschiedenen Gemäldereproduktionen am liebsten auf van Goghs Sonnenblumen landen. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Big-Band-Chefs Francy Boland. Oliver Jungen hat einem Symposion über deutsch-indische Kulturbeziehungen in Berlin beigewohnt. Kurt Flasch schreibt zum Tod des Philosophen Raymond Klibansky (mehr hier und hier), der einst durch sein Buch "Saturn und Melancholie" berühmt wurde. Wiebke Hüster gratuliert der Tänzerin Suzanne Farrell zum Sechzigsten. Paul Ingendaay schildert die Hölle der Hotline der spanischen Telecom, die dem deutschen Telekom-Nutzer allerdings keineswegs fremd scheint.

Auf der Medienseite beklagen die Radiopraktiker Inge Seibel-Müller und Horst Müller eklatante Ungenauigkeiten bei der Reichweitenmessung im Radio, auf der nicht zuletzt die Werbetarife beruhen. Und Michael Hanfeld hat sich ein Angela-Merkel-Porträt angesehen, das heute Abend im ZDF läuft.

Für die letzte Seite besucht Thomas Thiel das abgebrannte Schloss Elmau, das für seine Tagungen und Kulturveranstaltungen berühmt ist und das nun wieder aufgebaut werden soll. Robert von Lucius schildert Streitigkeiten zwischen dem Louisiana-Museum in Humlbaek bei Kopenhagen und dem Kopenhagener Staatlichen Kunstmuseum, die dazu führten, dass beide Museen jetzt Matisse-Ausstellungen zeigen. Und Michael Gassmann porträtiert den katholischen Medienexperten Wilfried Schumacher.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Bernhard Wicki in München, Wiederauflagen von Schallplatten mit dem niederländischen Dirigenten Eduard von Beinum, eine Ausstellung mit Selbstporträts Francis Bacons in Edinburgh, die Ausstellung "Tiere in der Großstadt" in Wien, eine Choreografie Pina Bauschs in Salzburg und Konzerte mit Neuer Musik im Museumspark von Louisiana bei Kopenhagen.

Marcel Reich-Ranickis Lübecker Thomas-Mann-Rede vom Wochenende ist jetzt auch online zu lesen.

NZZ, 16.08.2005

Marta Kijowska hätte gern der polnischen Dichterin und Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska einen Werkstattbesuch abgestattet, ist aber offenbar nicht empfangen worden: "Szymborska spricht nicht gern über sich, und sie hasst es geradezu, über Poesie zu sprechen. Öffentlich tat sie es angeblich nur zweimal: bei der Verleihung des Goethepreises (1991) und als sie den Nobelpreis (1996) entgegennahm. An ihrer defensiven Art hat auch der Letztere nichts geändert. Im Gegenteil, seit der 'Stockholmer Tragödie', wie man in ihrem Bekanntenkreis diese Auszeichnung nennt, steht sie endgültig mit den Medien auf Kriegsfuß. Sie gibt kaum Interviews, Fototermine lehnt sie ab. Sie lebt zurückgezogen und alles in allem bescheiden. In ihrer Dreizimmerwohnung, die am Rande des alten Krakau liegt, soll es vor allem für zwei Dinge Platz geben: für ihre Bücher und für all die absurd-überflüssigen Gegenstände, mit denen sie unentwegt von ihren Freunden versorgt wird. Wer einmal ihren Begeisterungsausbruch erlebt, wer ihre Beteuerung gehört hat, ein sargförmiger Silberkasten, aus dem ein Silbervogel mit immer gleicher Bewegung einzeln Zigaretten herauspickt, wäre das Erste, wonach sie griffe, wenn ihre Wohnung plötzlich in Flammen stünde, wird nach ihrer Dankbarkeit süchtig."

Weiteres: Beat Stauffer stellt die höchst erfolgreich Managerin des Kulturhauses Villa des Arts in Casablanca vor: Sylvia Frei-Belhassan. Die Dame ist Schweizerin!

Besprochen werden die Schau der Sammlung Krugier in der Wiener Albertina und zahlreiche Bücher, darunter die Gedichte "Eisvogel" der inzwischen zur Klassikerin avancierten Amerikanerin Amy Clampitt, die Sammlung später Lyrik "Enuma elisch / Traum im Traum" von Anna Achmatowa und Dieter Hildebrandts Geschichte von Beethovens Sinfonie "Die Neunte" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 16.08.2005

"Allein in Berlin konnte sich Bundeskulturpolitik entfalten, bis zum Anschlag." Rüdiger Schaper sieht das rot-grüne Experiment mit Hauptstadtkulturfonds und Kulturstiftung des Bundes gelungen und fordert nun im nächsten Schritt einen Bundeskulturminister. Der könnte auch Berlin noch besser fördern und als Gegengewicht zu Angela Merkels erschreckend geringer Begeisterung für die Kultur-Hauptstadt fungieren. "Da bleibt sie, wohl aus Furcht vor den CDU-Ministerpräsidenten und deren kultureller Lufthoheit, hinter Helmut Kohls Hauptstadt-Engagement zurück. Merkel schwärmt von 'Grundkenntnissen in Volkslied und Volkspoesie'. Provinzieller geht?s nicht."

SZ, 16.08.2005

Alexander Kissler erklärt, warum Papst Benedikt XVI. mit den Deutschen nicht warm wird, besonders seit 1968. "In Tübingen wurden seine Vorlesungen mit Trillerpfeifen gestört. Man verteilte Flugblätter, auf denen zu lesen war, die Darstellung des Gekreuzigten sei eine 'sadomasochistische Verherrlichung von Schmerz'. Einige Studenten der evangelischen Theologie sollen 'Verflucht sei Jesus!' gerufen haben. Die Schuldigen ortete er bei einem 'kleinen Kreis von Funktionären, der die Entwicklung in diese Richtung trieb'. Eine akademische Elite vermutete Ratzinger hinter der 'gewalttätigen Explosion marxistischer Theologie'; der Anreger war der Tübinger Professor Ernst Bloch. Die Früchte der Studentenrevolte reifen laut Ratzinger bis heute."

Eine Schau in der Hamburger Kunsthalle zeigt sechzig Meeresbilder. Willi Winkler lassen die "Seestücke" über die Jahrhunderte hinweg das Meer rauschen hören. "Nach der Erfindung der Dampfmaschine, eigentlich erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt sich das Meer, es wird wirtschaftlich genutzt, der Fischfang wird industrialisiert, das Wasser ein Verkehrsweg, auf den sich bald auch Touristen trauen. Das Meer ist immer noch schrecklich und unbegreiflich, doch schrecklicher ist's, wenn der Heizkessel explodiert, was immerhin für ganz neue Motive sorgt."

"Kein Meisterwerk war in diesem Jahr in Locarno zu sehen, dafür viel Halb- oder Dreiviertelgelungenes." Martina Knoben schiebt das in ihrem Resümee des 58. Filmfestivals auf die starke Festivalkonkurrenz durch Cannes und Venedig, lobt die deutschen Beiträge und hofft ansonsten auf nächstes Jahr. Gerhard Matzig erinnert eine englische Fernsehshow, bei der das hässlichste Haus des Landes gewählt und dann zum Abriss freigegeben wird, natürlich an den Palast der Republik. In der Zwischenzeit wünscht Claus Heinrich Meyer den Heerscharen der "schimmerlosen" Berlin-Besucher ein Heer von Geschichts-Erzählern. Andrian Kreye meldet in seinen Nachrichten aus New York auch, dass der Chef-Architekt des Freedom-Towers David Childs seinen Entwurf von 2003 nun offiziell aus einer Studienarbeit geklaut hat. Rebecca Casati trauert um das traditionsreiche und oft verfilmte Hotel "Ambassador" in Los Angeles (Bilder), das nun abgerissen werden soll, obwohl in der Küche Robert F. Kennedy erschossen wurde. Thomas Meyer schreibt zum Tod des Philosophen Raymond Klibansky.

Auf der Medienseite schildert Kai-Hinrich Renner, wie der Wahlkampfwerber Coordt von Mannstein jetzt für die FDP arbeitet. "Er sitzt gut. Ruhig und fest." Florian Welle berichtet auf der Literaturseite vom Vorlesegebahren Antonio Lobo Antunes', den er auf einer Lesung bei den Salzburger Festspielen erlebt hat.

Besprochen werden Stephan Kimmigs "hilflose" Inszenierung von Heinrich von Kleists Trauerspiel "Penthesilea" bei den Salzburger Festspielen, Stephen Lawless' Aufführung von Francesco Bartolomeo Contis auf Cervantes' Don Quijote basierender Karnevalsoper "Don Chisciotte" bei den Innsbrucker Festwochen, die durch ihre "luzide szenische Logik" glänzte, Jörn Hintzers und Jakob Hüfners Film "Weltverbesserungsmaßnahmen", und Gedrucktes, darunter Peter Handkes Reisebuch "der Ansätze und der Anfangssätze" "Gestern unterwegs" sowie Hilmar Franks Einordnung von Caspar David Friedrich "Aussichten ins Unermeßliche" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).