Vorgeblättert

Wolfgang Hädecke: Novalis. Teil 1

25.08.2011.
Viertes Kapitel

Leipzig - Friedrich Schlegel - Studienabschluß in Wittenberg - Sponsieren - Lehre in Tennstedt bei Just


Johann Gottlieb Fichte, der von 1784 bis 1791 Hauslehrer in Leipzig gewesen war, bevor er Philosophie-Professor in Jena wurde - Hardenberg wird ihm erst 1795 persönlich begegnen -, hat die Stadt in einem Brief vom 1. August 1790 mit trefflichem Spott geschildert:

Leipzig soll Deutschland?s Athen sein? Nun ja, - dasjenige zu dem Paulus sagt: Ich sehe, daß ihr in allen Stücken abergläubig seid. Im Ernste: Leipzig hat noch immer Gelehrte, die ihm Ehre machen: es hat gute Köpfe, die weniger bekannt sind, aber jenen nichts nach geben: es ist auf den Universitäten, die ich kenne, immer noch die, wo man am meisten Geschmak und schöne Litteratur mit den solidern Wißenschaften verbindet; aber es ist, als wenn über der ewigen Verfeinerung alle Energie aus den Charakteren aller gebohrenen, oder gemachten Leipziger vertilgt wäre; daher die Schleicherei, die Accomodation an bejahrte Systeme, die man fast in allen Büchern auch unsern besten Gelehrten anmerkt. Man sagt: es ist gefährlich mit der Sprache gerade heraus zu gehen; - und eben durch diese Furcht wird es gefährlich. Wenn alle academischen Docenten, in Sachsen und alle die in geistlichen Aemtern stehen, auf einmal ihre Meinung sagten, so müste man sie alle einige wenige alte Dorfpastoren ausgenommen, absezen, und also würde man wohl keinem viel thun. Unser Volk ist in den meisten Gegenden zu einer Verbeßerung schon längst reif. Nur die furchtsame Politik, die sich aus der Staatsöconomie, bis in die religiöse verbreitet, und der Herrnhuthismus, der die Köpfe unsrer meisten Großen beherrscht, ist Ursache, daß Sachsen in einer so scheinbaren Finsterniß bleibt, die mit dem Grade seiner wirklichen Aufklärung einen so besondern Contrast macht. - In Jena ist man um ein Jahrhundert weiter.

Leipzig, von Goethe auch "Klein-Paris" benannt, war mit 30 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt, die Novalis bis dahin betrat, einer der wichtigsten Handels- und Umschlagplätze zwischen Ost und West, mit großen Messen alljährlich zu Ostern und Michaelis, besonders wichtig für den deutschen und internationalen Buchhandel - 1785 gab es über 30 Buchhandlungen in der Stadt, 12 davon waren auch Buchdruckereien; die Universität schloß während der Messen die Pforten, viele Studenten mußten ihre Zimmer für Messegäste frei machen. In Hardenbergs Leipziger Studienjahr hatte die Hochschule fast 60 ordentliche und außerordentliche Professuren, davon 8 in der juristischen Fakultät. Die Stoffe der dortigen Vorlesungen waren "die Pandekten (die Sammlungen des altrömischen Privatrechts innerhalb des Corpus Iuris Civilis)", dazu Straf-, Staats- und Lehnsrecht, Natur-, Völker-, Kirchen- und sächsisches Recht. Allerdings folgt Fritz den väterlichen Auflagen, aber auch den Schillerschen Ratschlägen und dem eigenen Versprechen für ein strenges Fachstudium nicht: Das fröhliche Studentenleben, die Hörsäle der Philosophie und die "schönen Wissenschaften" überhaupt waren verlockender als die Juristerei - und erst recht die Anfang 1792 beginnende und binnen kurzer Zeit stürmisch blühende, leidenschaftlich erlebte, sogar den Schiller-Enthusiasmus übertreffende Freundschaft zu dem nur sieben Wochen älteren Jung-Poeten Friedrich Schlegel. Leider sind so gut wie alle unmittelbaren Zeugnisse Hardenbergs selber, also Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen aus diesem euphorischen Jahr verloren. Ebenso fehlen etwaige den neuen Freund direkt ansprechende, bewundernde, beflügelnde, abfangende, kritisierende Äußerungen Schlegels, von dem aber Briefe über diesen vibrierenden Dichter-Bund an Bruder August Wilhelm erhalten sind, vor allem sein wunderbares Erst-Porträt Hardenbergs vom Januar 1792:

Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand gegeben, aus dem Alles werden kann. - Er gefiel mir sehr wohl und ich kam ihm entgegen; da er mir das Heiligthum seines Herzens weit öffnete. Darin habe ich nun meinen Sitz aufgeschlagen und forsche. - Ein noch sehr junger Mensch - von schlanker guter Bildung, sehr feinem Gesicht mit schwarzen Augen, von herrlichen Ausdruck wenn er mit Feuer von etwas schönem redet - unbeschreiblich viel Feuer - er redet dreymal mehr und dreymal schneller wie wir andre - die schnellste Fassungskraft und Empfänglichkeit. Das Studium der Philosophie hat ihm üppige Leichtigkeit gegeben, schöne philosophische Gedanken zu bilden. - er geht nicht auf das wahre sondern auf das schöne - seine Lieblingsschriftsteller sind Plato und Hemsterhuys - mit wildem Feuer trug er mir einen der ersten Abende seine Meinung vor - es sey gar nichts böses in der Welt - und alles nahe sich wieder dem goldenen Zeitalter. Nie sah ich so die Heiterkeit der Jugend. Seine Empfindung hat eine gewisse Keuschheit die ihren Grund in der Seele hat nicht in Unerfahrenheit. Denn er ist schon sehr viel in Gesellschaft gewesen (er wird gleich mit jedermann bekannt) ein Jahr in Jena wo er die schönen Geister und Philosophen wohl gekannt besonders Schiller. Doch ist er auch in Jena ganz Student gewesen, und hat sich wie ich höre oft geschlagen. - Er ist sehr fröhlich sehr weich und nimmt für itzt noch jede Form an, die ihm aufgedrückt wird.

Im weiteren Brief-Verlauf folgt die zu Beginn des zweiten Kapitels zitierte früheste Einschätzung Schlegels von Hardenbergs poetischen Fähigkeiten, zudem die Ankündigung der vier Sonette an August Wilhelm Schlegel. Friedrich Schlegel schickt sie dem Bruder am 11. Februar 1792 mit der verständlichen Bitte "um zarte Behandlung". Eine Reihe weiterer Äußerungen von Hardenbergs erstem literarischen Freund kann man bis November 1792 als eine Art Chronik der Beziehung lesen, die durchaus nicht nur friedlich verläuft. Einerseits versichert Schlegel, er sehe niemanden so gern wie Hardenberg, dessen "grenzenlose Flüchtigkeit" zu fesseln "selbst einem Weibe einmal schwer werden" müsse; so lasse er, Schlegel, ihn "im ganzen" erst einmal gehen, denn es könne "Alles aus ihm werden - aber auch nichts". Insgesamt sammelt Schlegel, der Gleichaltrige, der sich zu Anfang ihrer Beziehung als überlegener Souverän geriert, günstige Urteile unter großzügigem Aspekt: "Die Freude über den unerwarteten Fund war wohl das schönste, weil ich ihm nicht viel seyn kann; denn er weiß noch nicht, was er an mir haben könnte."
     Andererseits schildert der jüngere Bruder dem älteren auch Spannungen zwischen den Poeten als unvermeidlich. Hardenberg erscheint dann als "stumm, gleichgültig, blöd und arrogant", er verfällt "unverständlichen Reden" und "weiß nicht, was ihm auf die Dauer gefällt; launenhaft, heftig, und treu"; obendrein ist er "rasch bis zur Wildheit" (so schon im April 1792) - die Entladung ist offenbar beiderseits und als Vorankündigung mehrerer künftiger Streitigkeiten zu verstehen, die aber stets behoben werden: "Aber endlich", meldet Schlegel am 21. November, "beredete ihn doch beleidigte Eitelkeit. Mein Benehmen sey hämische Tadelsucht, und unsinniger Stolz; er hielt mich für gefühlloß und fieng an mir nicht zu trauen. Auch sah ich immer deutlicher, daß er der Freundschaft nicht fähig, und in seiner Seele nichts als Eigennutz und Phantasterey sey." Ein Vierteljahr später ist der drohende Absturz verhindert: "Meine ganze Leidenschaft wurde wieder rege" - Leidenschaft für einen einzigartigen Freund, die beiderseits stark empfunden wird und andauert: Am 25. März 1801 wird Friedrich Schlegel in Friedrich von Hardenbergs Todesstunde bei ihm sein.
     Für den künftigen Theoretiker und Vordenker der frühromantischen Dichtung, der von sich sagt, er "habe den Geist einiger großer Männer, vielleicht nicht ganz ohne Erfolg, zu ergründen gesucht als Kant, Klopstock, Göthe, emsterhuys, Spinoza, Schiller; andrer von weniger Bedeutung nicht zu erwähnen", steigt schon 1791 aus seinen ebenso tiefen wie heftigen, weitausholenden wie extravaganten Lektüren eine Vision hoch, die Programm der ganzen Schule werden wird: die "Sehnsucht nach dem Unendlichen", die auch Hardenberg ergreifen wird. Gegenüber ihm, der selbst eine Phase heftiger Orientierungssuche durchlebt, scheint der neue Freund in der ersten Zeit ihrer Begegnung einige Schritte voraus zu sein: Er hat bereits bedeutsame Erkenntnisse für die hervortretende romantische Theorie und Praxis gesammelt; er verbirgt sein dazugehöriges kühnes, originelles, nicht angezweifeltes, von grellen Kontrasten gefärbtes Persönlichkeitsbild nicht im geringsten, und er wagt den riskanten Sprung in die rein schriftstellerische Existenz angesichts der "Unmöglichkeit ? mich itzt in ein bürgerliches Joch zu schmiegen, um einen dürftigen Lohn meinen Geist, das bessere Teil meines Lebens unwiederbringlich hinzu­opfern." Hardenberg bewundert Schlegels Mut, betritt aber nicht dieselbe Bahn, zumal er wahrnimmt, daß der Freund ständig Probleme im Umgang mit Geld und in der Beschaffung des nötigen Existenzminimums durch Schreiben hat.
     War es ein Zufall, der die neuen Freunde ins Hause des wohlhabenden Textilfabrikanten Eisenstuck und dort regelrecht in die Arme zweier seiner Töchter trieb? Die ältere, Jahrgang 1768, war als Laura Limburger bereits mit einem Bankier verheiratet, nach ihr trachtete Schlegel; die jüngere, siebzehnjährige Julie, eine hinreißende Schönheit, hatte es Hardenberg angetan und er womöglich ihr - viel weiß man nicht vom Verlauf der Affäre, seiner ersten Liebe wohl, sie begann gegen Jahresende 1792 und endete plötzlich mit Julies Aufkündigung, wohl auf Betreiben der Eltern, die einer Liaison mit Standesunterschied nichts abgewinnen konnten. Hardenberg überwand seine Niederlage jedenfalls leichter als Schlegel das schlimme Spiel seiner Angebeteten, die ihm zwar kokett den Kopf verdrehte, seine Werbungen aber ins Lächerliche zog und ihn zum Narren hielt. Der Abgewiesene, der sich mit dem Erwerb teurer Garderobe schwer verschuldete, soll hemmungslos, sogar mit Mord- und Selbstmorddrohungen reagiert haben. In beiden Amouren bleibt vieles undurchsichtig, wie auch Briefe Schlegels vom Frühjahr 1793 zeigen: Sie sind ein seltsames Gemisch von Trost und Tadel, Mitleid und Ermahnung, Besserwisserei des eigentlich Schwächeren und Eingeständnis eigenen Unglücks, gipfelnd in konfusen Sätzen wie diesen: "Wie viel glücklicher Du, als ich! Ich wäre, auch glücklich, arm geblieben, denn meine Liebe war kleiner, als ich."
     Sehr viel klarer ist Hardenbergs schon vor den Schlegelschen Briefen verfaßte Selbstdarstellung seiner "Leidenschaft" - dies die zentraleVokabel, die er, samt semantisch analogen Bezeichnungen, im großen Bekenner-Brief an den Vater vom 9. März 1793 verwendet:

Jezt wars, daß ich, verzeihe ja voll Nachsicht meiner ­ Juvenilitaet, mich in ein Mädchen verliebte ? diese Leidenschaft wuchs so schnell empor, daß sie in kurzer Zeit sich meiner bemächtigt hatte ? Mich verließ die Kraft zu wiederstehen. Ich gab mich ganz hin ? Ueberdem wars die erste Leidenschaft meines Lebens ? ich geriet in einen Zustand, in dem ich noch nie war ? Hin und wieder gabs doch eine kühlere Minute ? weil ich zu gut sah, daß ich nicht so seyn sollte, und doch Mangel an Kraft fühlte mich herauszureißen, weil ich zu untrennlich mit der Empfindung der Liebe verbunden war. ? Meine Leidenschaft ist ganz verloschen und Du kannst jezt vor allen Rezidiven derselben Leidenschaft sicher seyn ? so hat mir doch diese Begebenheit erst die Augen geöffnet. Von meiner Leidenschaftlichkeit wußte ich wenig. Ich glaubte nie, daß mich etwas so allgewaltig in so kurzer Zeit unmercklich ergreifen, mich so in meiner innersten Seele gefangen nehmen könne.

Man fragt sich, ob diese "Leidenschaft" wirklich so tief ging, wie der Leidende meinte, ob sie dazu nicht doch viel zu schnell verlosch oder ob noch andere Deutungen denkbar sind. Vater Hardenberg jedenfalls hätte niemals seine Einwilligung zu einer "Mesalliance", einer Beziehung oder gar Ehe mit einer Bürgerlichen gegeben. Friedrich Schlegel meldete dem Freund Mitte Mai 1793 aus Leipzig nach Weißenfels: "Der kindische alte Mann hat hier in Auerbachs Hofe einem Cirkel alter Herren erzählt, Du hättest eine Bürgerliche, die Schwester einer hiesigen Kaufmannsfrau heyrathen wollen. Er hat mit der größten Leidenschaft und beständigem Fluchen von Dir geredet." Woher Schlegel das wußte, ist unklar; ebensowenig weiß man, was mit dem Flecken auf seiner Ehre gemeint ist, den sich Novalis nach den Worten seines Vaters in Leipzig zugezogen haben sollte.
     Nun aber hat Hardenberg die wohl absurdeste Idee in seinem ganzen Leben: Er will Soldat, Offizier werden. Um den Vater dafür zu gewinnen (die Mutter ist offensichtlich entsetzt über den Plan), schreibt er diesen langen Brief, der mit Argumenten und Selbstkritik an seiner ihn geißelnden inneren Unruhe gefüllt ist: "Soldat zu werden ist jezt die äußerste Gränze des Horizonts meiner Wünsche. Die Erfüllung dieser Hoffnung wird die fieberhafte Unruhe stillen, die jezt meine ganze Seele bewegt." Als Soldat, glaubt er, werde er gezwungen sein, durch strenge Disziplin gewissenhaft seine Pflichten zu erfüllen - größtenteils mechanische Pflichten, die Kopf und Herz "alle möglicheFreyheit verstatten", die er sich "im Zivilstande", wo er verweichlicht werde, nicht leisten könne. Er müsse aber noch erzogen werden; Ziel seines Bestrebens sei "Männlichkeit" (was immer das ist; der Begriff kommt auch in einigen Briefen vor und wird weder hier noch dort erläutert). Das Interessanteste, aber vielleicht auch Beunruhigendste in Hardenbergs Argumentation ist das zweifache Auftauchen und Abwerten eines geistig-künstlerischen Phänomens, das ihn später berühmt gemacht und das hier fast untergeht: "Die Erfahrung wird ihre Hand an meine Bildung legen und in ihrem hellen Lichte wird manche romantische Jugendidee verschwinden und nur der stillen, zarten Wahrheit, dem einleuchtenden Sinn des Sittlichen, Schönen und Bleibenden den Plaz überlassen ? Der Romantische Schwung wird in dem alltäglichen, sehr unromantischen Gange meines Lebens viel von seinem schädlichen Einfluß auf meine Handlungen verlieren und nichts wird übrigbleiben, als ein dauerhafter, schlichter bon sens, der für unsre modernen Zeiten den angemessensten, natürlichsten Gesichtspunkt darbietet." Zum Glück kam es zu diesem Niedergang des Romantischen und damit des Außerordentlichen nicht; Novalis trug nie einen Waffenrock, zog in keinen Krieg; er verlor die wirklichen Ziele auch nie ganz aus den Augen: "Was das Zerschießen und das Zerhauen angeht so bleibt mir auch in diesem Falle noch die Zuflucht zu den Wissenschaften, die das Glück meines Lebens ausmachten bisher, und gewiß jezt nicht aufhören werden ? Mein Geist und seine Bildung ist ohnedem mein heiligster Zweck."

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