Efeu - Die Kulturrundschau

Symbiose durch Konfrontation

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2021.  Die taz würdigt die subtilen Störgeräusche und Broken Beats im japanischen Ambient der Achtziger. Die SZ empfiehlt den Berlinalefilm "Courage" des belarussichen Regisseurs Aliaksei Paluyan und seiner furchtlosen Kamerafrau Tanya Haurylchyk. Der Tagesspiegel staunt über den Bilderteppich des Outsider-Künstlers Robert Fischer. Und: Die Architekturkritiker trauern um Gottfried Böhm.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2021 finden Sie hier

Bühne

Der Streit um die Kündigung des Leiters der Staatlichen Ballettschule Berlin, Ralf Stabel, ist in eine neue Runde gegangen, berichtet Susanne Vieth-Entus im Tagesspiegel: Nach der ersten Instanz hat Stabel auch in der zweiten Instanz gewonnen. In der SZ freut sich Wolfgang Schreiber über die Wahl von Nora Schmid zur neuen Intendantin der Semperoper mit der Hoffnung, dass die "Oper der Moderne, mit dem Blick in die Partituren lebender Komponisten, ihr besonderes Interesse weckt". Auch den Weggang Christian Thielemanns kann er verschmerzen, wenn dafür eine Frau neue Musikdirektorin wird.

Besprochen werden Sarah Kurzes Inszenierung von Nele Stuhlers Stück "Gaia googelt nicht" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik) und ein Tanz-"Crescendo" von Stephan Thoss in Mannheim (FR).
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Film

Mit der unter freiem Himmel eröffneten Pandemie-Sommerberlinale regionalisieren sich die Internationalen Filmfestspiele Berlin zwar zum "Berliner Filmfest", meint FAZ-Kritiker Andreas Kilb, aber davon abgesehen "stellt der Sommertermin eine Versuchung dar". Schließlich fand die Berlinale bis 1977 stets im Sommer statt. Viel Hoffnung sollte man sich bei diesen von milden Temperaturen umflorten Kino-Sommermärchen allerdings nicht machen, denn "was den Glamour angeht, wird die Berlinale gegenüber Cannes (das in diesem Jahr pandemiebedingt von Mai auf Juli verschoben ist) immer den Kürzeren ziehen. Deshalb muss sie bei ihrem Wintertermin bleiben, um wenigstens einen zeitlichen Vorsprung zu behaupten. Das 'Summer Special' ist eine Ausnahme, keine echte Alternative." Auch FR-Kritiker Harry Nutt findet: "Die Camping-Version der Eröffnungsveranstaltung der 71. Berlinale hatte zweifellos ihre Vorzüge. Die Reden waren kürzer, der Jahrmarkt der Eitelkeiten überschaubar, die Prominenz bodenständig-lokal."

"Courage" von Aliaksei Paluyan (Living Pictures Production)

Heute zeigt die Berlinale "Courage", Aliaksei Paluyans Dokumentarfilm über den belarussischen Protest gegen Lukaschenko - der Film beobachtet Optimismus, Ermattung und letztendlich auch die Depression des Widerstands, schreibt Sonja Zekri in der SZ. Viele Protagonisten des Films leben mittlerweile außer Landes, doch "die furchtlose Kamerafrau Tanya Haurylchyk noch nicht, was für Paluyan ein steter Grund zur Sorge ist. Dies und die Tatsache, dass seine Eltern in Minsk leben, macht den Start von 'Courage' im Berlinale Special zu einem zwar großartigen, aber eben auch hoch belasteten Ereignis. Dennoch habe er keine Wahl gehabt: 'In Minsk wurden viele Kollegen festgenommen, die ebenfalls gedreht haben, und ihr Material wurde konfisziert', sagt Paluyan: 'Wir haben Glück gehabt und konnten unseres retten. Es jetzt nicht zu zeigen, wäre Verrat.'"

Mehr von der Berlinale: In Monopol spricht Dominik Graf über seinen Wettbewerbsfilm "Fabian". Wenke Husmann bespricht auf ZeitOnline den Eröffnungsfilm, Kevin Macdonalds Politthriller "Der Mauretanier" mit Jodie Foster. Silvia Hallensleben wirft für den Freitag einen Blick in die vom Berlinale-Forum zusammengestellte Online-Reihe "Fiktionsbescheinigung" über filmische PoC-Perspektiven auf Deutschland.

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht im Freitag mit der Filmemacherin Emma Seligman, deren (in der taz besprochenes) Debüt "Shiva Baby" gerade auf Mubi zu sehen ist. Die deutsche Filmbranche produziert trotz Corona munter weiter, weiß Christiane Peitz im Tagesspiegel. Maria Wiesner schreibt in der FAZ zum Tod der Schauspielerin Libuše Šafránková.

Besprochen werden die neue BluRay-Ausgabe von "Monty Python's Flying Circus" (Intellectures), eine Filmbiografie über Tina Turner (NZZ) und die Disney-Serie "Loki" (FR).
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Kunst

Ekaterina Muromtseva. Bild: Silke Briel/Stiftung für Kunst und Kultur Bonn


Statt die Berliner Ausstellung "Diversity United" mitzueröffnen, hat der russische Präsident Putin lieber drei NGOs verboten, die an der Kuratierung der Schau mitgewirkt hatten. Schade, denkt sich Stefan Trinks in der FAZ. Jetzt wird die Ausstellung wohl nicht nach Russland reisen, obwohl sie dort bitter nötig wäre: "Doch selbst im seligen Berlin sind die fast lebensgroßen blutroten Aquarellfiguren 'Picket' der in Moskau geborenen und dort arbeitenden Ekaterina Muromtseva mit die stärksten Werke der Schau. Vor ihren mit Farbe zugelaufenen Leibern halten sie jeweils ein leeres weißes Transparent. Muromtseva begann die Arbeit als Plakat, dass sie nach der Verhaftung des Journalisten Iwan Golunow auf einer Demonstration tragen wollte. ... Nur ein Plakat vor dem Körper ist erlaubt, die oft in der unbarmherzigen Kälte stehenden Demonstrierenden wechseln sich über Tage hinweg ab. Automatisch beteiligen sich auch die umstehenden Betrachter im Hangar mit den Figuren an der stillen, bildmächtigen Demonstration gegen die russische Einschränkung von Freiheitsrechten."


Robert Fischer, ohne Titel, 2014. Foto: Galerie Art Cru


Im Tagesspiegel empfiehlt eine beeindruckte Angelika Leitzke einen Besuch der Berliner Galerie Art Cru, wo gerade der Outsider-Künstler Robert Fischer ausstellt: "Zahlen- und Buchstabenkolonnen, auch spiegelbildlich, dazwischen Kreuze, Kreise, Liniengeflechte, angedeutete Fassaden, großäugige Fratzen und gespenstische Figuren. Eine Art Geheimsprache tut sich auf, teilweise und dann sehr großzügig mit geballten schraffierten Farbschichten in schillerndem Grün, Violett, Rot, giftigem Gelb, Dunkelblau und Nachtschwarz übermalt. ... Seine geheime Sprache wuchert wie ein expressiver und zugleich verträumter Bilderteppich über die Wände in der Galerie".
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Literatur

Nikola Madžirov schreibt seine Gedichte auf Mazedonisch, einer Sprache, die er von seiner Mutter geerbt hat, die aber in seinem Vaterland kaum anerkannt wird. "Die mazedonische Gegenwartsliteratur steht in ständigem Dialog mit den lebendigen europäischen Stimmen der Literatur, und dies ist die einzige Art und Weise, nicht in den extravaganten Museen für verschwundene Zivilisationen oder ausgestopfte Tiere zu enden", schreibt er dazu in einem kleinen Essay für den Tagesspiegel. "Für den Dichter ist die Sprache mehr als ein Instrument oder eine verbale Antwort auf die Einzigartigkeit der Welt. Die Sprache ist ein Körper, in dem er alle Leidenschaften und Einschränkungen fühlt, eine Art, den Instinkt für Wahrheit zu übersetzen. Ich glaube, Übersetzen und Schreiben haben keine Grenze zwischen sich, auch wenn der Dichter ein unsichtbarer Hüter der Übersetzung ist und der Übersetzer ein historischer Hüter der Dichtung."

Außerdem: Cathrin Kahlweit erinnert in der SZ an H. C. Artmann, der vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen werden unter anderem der Comic "Monsters", an dem Barry Windsor-Smith 35 Jahre lang gearbeitet hat (Tagesspiegel), Karin Smirnoffs "Mein Bruder" (FR) und Christoph Heins "Guldenberg" (SZ).
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Architektur

Sabine von Fischer unterhält sich für die NZZ mit der französischen Pritzker-Preisträgerin Anne Lacaton über Abriss und Nachhaltigkeit von Gebäuden und Plätzen. Lacaton ist dafür, Orte zu verbessern, statt tabula rasa zu machen und sie neu zu gestalten: "Für uns ist die vorgefundene Umgebung extrem wichtig: Wir betrachten sie nicht als Problem, sondern als Fundament und als Ressource, auf der wir unsere Projekte aufbauen. Das Vorhandene ist fast nie am Ende der Nutzung und Lebensdauer. Es könnte noch lange gebraucht werden, wenn man es vorurteilsfrei betrachtet. ... Der Reichtum des Ortes ist der Moment, mit dem wir arbeiten, dort beginnen wir mit unseren Beobachtungen und einer genauen Analyse."

In Köln ist der Architekt Gottfried Böhm im gesegneten Alter von 101 Jahren gestorben. Böhm stand in Deutschland "wie kein zweiter für die Verbindung von Architektur und Kunst", schreibt Ulf Meyer im Tagesspiegel. In der FR würdigt Christian Thomas den Architekten: "Wuchtige Betonskulpturen ließ der Architekt bauen, pathetische Burgen säkularer Selbstdarstellung, theatralische Monumente des Sakralen. Und doch spürte er, immer wieder, sensibel der je besonderen Stimmung vor Ort nach - um das anmutige Idyll dann mit der Allgegenwart des Monumentalen zu konfrontieren. Das weite Feld einer Kulturlandschaft und bäuerlichen Sesshaftigkeit sah sich in Böhms sakraler Zeltarchitektur plötzlich Symbolen einer nomadischen Existenz gegenüber. Symbiose durch Konfrontation." Weitere Nachrufe schreiben Gottfried Knapp in der SZ, Dankwart Guratzsch in der Welt und Patrick Bahners in der FAZ.
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Musik

Dank Youtube-Algorithmen erfuhr im Pandemiejahr auch eine Musik ein Revival, die "bis vor kurzem im Rest der Welt kaum jemand kannte", schreibt Stephanie Grimm in einer kleinen Abhandlung in der taz über japanischen Ambient der 80er, bzw. "kankyō ongaku", wie die Musik in Japan genannt wird, deren "beruhigende, auch einlullende Klangflächen" damals auf den japanischen Wirtschaftsboom reagierte. Mittlerweile gibt es auch neue Produktionen im Genre, etwa von Masahiro Takahashi oder Masayoshi Fujita. Letzterer hat auf seinem neuen Album "Bird Ambience" sein Vibraphon durch die Marimba ersetzt: "Durch die Holzklangstäbe erreicht Fujita eine wärmere Klangfarbe. Der bisweilen nah am Kitsch entlang schrammende Wohlklang findet sein Gegengewicht in subtilen Störgeräuschen und Broken Beats. In seinen Jahren in Berlin habe er sein Herz für Noise entdeckt, erzählt er." Wir hören rein:



Außerdem: Für die NMZ spricht Juan Martin Koch mit Gerald Fauth, dem neuen Rektor der Leipziger Hochschule für Musik "Felix Mendelssohn Bartholdy". Daniel Schieferdecker plaudert für ZeitOnline mit Noel Gallagher, der sich seine typische Bescheidenheit aus Oasis-Tagen bis heute bewahrt hat (alle seine Songs in den ersten Oasis-Jahren waren "groß und fantastisch", aber auch "grandios"). Anja-Rosa Thöming beugt sich für die FAZ über Hector Berlioz' 1844 erstmals veröffentlichte, 1855 erweiterte "Große Abhandlung der modernen Instrumentation und Orchestrierung". Vor 100 Jahren erfand Arnold Schönberg die Zwölftontechnik, erinnert Gerald Felber  in der FAZ, und bedingte dadurch einen "nicht nur ästhetisch, sondern auch schaffenspsychologisch tiefgreifenden Paradigmenwechsel - gleichsam die Ersetzung des Geniekultes durch einen des Materials."

Besprochen wird "Metaphysics", das erstmals veröffentlichte zweite Album des mangels weiterer Aufnahmen mythenumrankten Jazzpianisten Hasaan Ibn Ali (taz).

Archiv: Musik