Vom Nachttisch geräumt

Bizarre Potenzfantasie

Von Arno Widmann
08.12.2017. Die bildende Kunst lügt nicht, sie tut ihre Arbeit: Porträts der Fotografin Annie Leibovitz 2005-2016.
Beginnen Sie mit dem Schluss, bitte! Mit dem Nachwort von Annie Leibovitz, das auf der Seite 303 beginnt und am Ende der Seite 305 schon fertig ist. Wenn man erfährt, dass Annie Leibovitz ein Foto aus der New York Times von Venus und Serena Williams, die einander nach einem heißumkämpften Match umarmten, ausriss und an den Kühlschrank klebte, damit ihre Töchter es gleich am nächsten Morgen sehen könnten, dann sieht man die Fotos der Leibovitz mit anderen Augen. Es gelingt einem, durch den Lack, durch die gar zu strahlende Oberfläche hindurch, die Porträtierten zu erkennen. Bei der Geschichte von dem an den Kühlschrank geklebten Foto kommt hinzu, dass man sich die Geschichte vorstellen kann, die Annie Leibovitz nicht erzählt, die nämlich von zwei ständig mit einander zankenden Teenagern, denen eine immer wieder an ihren Erziehungsmöglichkeiten verzweifelnde Mutter zeigen möchte, dass andere Schwestern anders klarkommen mit der Konkurrenz untereinander.


Annie Leibovitz, Rihanna. Havana, Kuba 2015. © Annie Leibovitz/Trunk Archive / courtesy Schirmer/Mosel

Annie Leibovitz erzählt in ihrem Nachwort auch, dass sie genau gewusst hatte, mit welchem Foto dieser Band aufhören sollte: Hillary Clinton im Oval Office. "Das Shooting mit ihr war schon eingeplant. Immer wieder malte ich mir aus, für welchen Arbeitsplatz im Oval Office Hillary sich entscheiden würde." Es kam anders. Dafür aber gibt es ein Foto von Donald Trump, das zu den umwerfendsten des Bandes gehört. Donald Trump am Steuer eines Sportwagens, die Flügeltür hoch aufgeklappt. Daneben sein Privatjet, auf der Treppe, die in ihn hineinführt, steht demonstrativ aufrecht, den hochschwangeren Bauch stolz herausgestreckt, seine Frau Melanie im goldenen Bikini und dreht den Kopf zur Kamera der Fotografin. Eine bizarre Potenzfantasie, in der der Jet als riesiger Phallus auftritt, während der Mann links am Rand in dem Auto sitzt, als wolle er gleich aus diesem Ei schlüpfen. Oder hat man ihn nach getaner Arbeit in es hineingesteckt und im nächsten Moment schleicht er sich? Es ist eines der komischsten Bilder, die ich jemals gesehen habe. Es erschien das erste Mal im April des Jahre 2006 in der amerikanischen Vogue. Mein Verdacht ist, dass nicht nur Trump die Komik daran nicht sah, sondern auch Leibovitz nicht. Zur vollkommenen Parodie scheint nur die Wirklichkeit selbst fähig.

Mein Lieblingsbild in dem Buch ist ein Anti-Annie-Leibovitz-Foto. Es zeigt den Schreibtisch von Virginia Woolf. Nein, es zeigt von oben die Schreibplatte ihres Schreibtischs. Unglamouröser geht nicht. Es ist wie ein Bild des katalanischen Malers Antoni Tàpies. Verwischtes Gelb und Grau, das spezifische Material scheint zurückzusinken in die Materie selbst. So wie er eines seiner Bilder nannte: "Canvas Burned to Matter".

Es wäre sicher lohnend, von diesem Foto aus sich noch einmal das Gesamtwerk der Annie Leibovitz anzuschauen. Sie schreibt in ihrem kurzen Nachwort auch, sie sei eine schlechte Regisseurin, sie sei darauf angewiesen, dass die Porträtierten ihr zuarbeiteten. So gelingt ihr das Trump-Bild und so gelingt ihr auch Virginia Woolfs Schreibtischplatte. So wurde sie auch zu der Fotografin der Epoche des Neoliberalismus, der die Prunksucht des Neureichen ins Zentrum der Ästhetik stellt. Man denke nur an ihr berühmtes Foto von Hillary Clinton aus der Dezember-1998-Ausgabe der amerikanischen Vogue. Clinton sitzt, ein Manuskript redigierend, auf einer Veranda, im Hintergrund Säulen und ein überwältigender Himmel. Alles ist Pose. Kein wahres Wort. Das ist von jeher der Vorteil der bildenden Kunst: Sie lügt nicht, wenn sie lügt. Sie tut ihre Arbeit.

Annie Leibovitz: Portraits 2005-2016, SchirmerMosel, München 2017, mit Texten von Annie Leibovitz und Alexandra Fuller, sowie Kurzbiografien der porträtierten Personen, aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy, 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln, 68 Euro