Im Kino

So rau und noir

Die Filmkolumne. Von Friederike Horstmann, Karsten Munt
29.08.2019. Anatol Schusters "Frau Stern" erzählt in einem eigensinnigen Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm vom Leben einer 90-jährigen Neuköllnerin, die sterben will. Vorher streift sie aber nochmal die goldenen Birkenstocks über. Mel Gibson und Vince Vaughn versuchen sich in Craig S. Zahlers "Dragged Across Concrete" mit einem unblutigen Coup finanziell zu sanieren. Das endet naturgemäß mit Hinrichtungen, Folter, Schussverletzungen und einer obsessiver Verachtung für Finger.


Die Eröffnungssequenz von Anatol Schusters zweitem, vollkommen ohne Förderung entstandenen Langfilm "Frau Stern" zeigt eine strenge Bildkomposition in Achsensymmetrie: Vor einer weißen Wand schaut eine alte Frau frontal in die Kamera. Ihr Blick ist fixierend, ihr Atem schwer. "Ich will sterben", so lautet ihr erster Satz, den sie mit tiefer Stimme äußert. Im Schnitt vollzieht sich eine räumliche Verortung: Frau Stern (Ahuva Sommerfeld) ist bei ihrem Hausarzt, der ihr attestiert, sie sei körperlich gesund, das sei in ihrem Alter von fast 90 Jahren doch ein Geschenk, genießen solle sie das Leben. Woraufhin Frau Stern eine Zigarette zückt und dem Arzt entgegnet: "Wenn Sie mir nicht helfen, dann helf' ich mir selber."
 
Frau Stern spricht Deutsch, Hebräisch und Englisch, hat oft einen flotten Spruch auf den Lippen, besticht durch ihre Schlagfertigkeit. Dabei ist ihre Sprache resolut und reduziert. In lapidaren Sätzen redet sie über Begehren im Alter, über selbstbestimmtes Sterben, über den Holocaust, den sie als einzige ihrer Familie überlebt hat. Die charismatische Titelfigur belebt und trägt den Film. Das Spiel von Frau Stern ist entschieden: Ihre Gesten, Haltungen, Blicke. Das Rauchen ist routiniert, der Blick ernsthaft, der Gang leicht gebückt, ein wenig staksig, aber zielstrebig. Der Film verweilt ausführlich bei seiner Figur, zeigt ihre kleinen Freuden, wie sie schläft, isst oder bügelt. In den Nichtigkeiten des täglichen Lebens blitzen immer wieder Körpergedächtnis und Realitätsdichte auf - was berührt und Gewicht verleiht.
 
"Frau Stern" ist auch eine Milieustudie, setzt Berliner Topografien insistierend ins Bild, zeigt eine spezifische Verbindung zu seinen Originalschauplätzen. Mit dokumentarischer Beobachtungsgabe filmt die Kamera verqualmte Eckkneipen, Neuköllner Spätis und mit Graffitis besprühte Häuserzeilen. "Frau Stern" ist ein angenehm-erfrischender Film, er ist kein Meisterwerk, denn er ist nicht restlos gemeistert, aber er ist charmant, er entwickelt Humor und Spontaneität, das heißt, man hat das Gefühl, dass man einige Dinge zugleich mit dem Film entdeckt, dass er einem nicht voraus ist. Einige Kleinkunstbühnenauftritte, Huckepack-Rennen und Rührseligkeitsmomente hätte man gut weglassen können. Die Schauspieler*innenführung ist ungleich, manchen Figuren fehlt es an Festigkeit, sie bleiben aus Mangel an größerer Genauigkeit absichtsvoll und ein wenig hölzern.
 


Aber das Entscheidende ist, dass das Gute wirklich gut ist. Die lebenserfahrene Laiendarstellerin Ahuva Sommerfeld und die Darstellerin ihrer Enkelin (Kara Schröder) sind ganz großartig, man muss Sommerfelds Interpretation von Ella Fitzgeralds "Summertime" hören und sehen, wie ihre rauchig-brüchige Stimme zwischen Sprechen und Singen schwankt und ihre rechte Wange unkontrolliert zu zucken beginnt: "So hush, little baby. Don't you cry." Man merkt, dass sich in dieser vielleicht berührendsten Szene Rolle und Biografie der Off-Screen-Persona überlagern. Wie im Film hat Sommerfelds früh verstorbener Mann, "Summertime" immer für seine Frau gespielt. Auch andernorts wird die Grenze zwischen Kino und Leben durchlässig, beginnt zu flimmern: so spielt etwa die echte Tochter, die Schauspielerin Nirit Sommerfeld auch im Film ihre Tochter.
 
"Frau Stern" ist ein eigensinniges Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm. Darüber hinaus sind Familienkonflikte der drei Frauengenerationen und der Umgang mit der Vergangenheit wie beiläufig in die Erzählung geflochten. Mit Enkelin Elli und ihrer Entourage verabenteuert sich die lebensmüde gewordene Frau Stern noch einmal, trinkt und tanzt in ihren goldenen Birkenstocks. Während einer TV-Show, in der ein schmieriger Entertainmentmoderator die Vergangenheit der Holocaust-Überlebenden für eine gefühlige Geschichte zu instrumentalisieren sucht, erklärt sie ihr Interesse an jüngeren Menschen: "Die Deutschen in unserem Alter sind die Mörder unserer Familie. Die jungen Leute, die sind nicht schuld, deshalb habe ich viele junge Freunde." Diese vielen jungen Freunde vermögen es, die Todessehnsucht der Frau Stern wenigstens für eine Weile aufzuschieben, doch "ein Mensch muss abtreten, wenn er kann". Na dann: "Then you'll spread your wings. And you'll take the sky."
 
Friederike Horstmann
 
Frau Stern - Deutschland 2019 - Regie: Anatol Schuster - Darsteller: Ahuva Sommerfeld, Kara Schröder, Nirit Sommerfeld, Pit Bukowski - Laufzeit: 79 Minuten.

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Ridgeman (Mel Gibson) und Lurasetti (Vince Vaughn) sind altes Eisen. Ihr Stil, so rau und noir wie aus einem James-Ellroy-Roman, hat ihre Karrieren in der politisch korrekten und verweichlichten Gegenwart längst zum Erliegen gebracht. Das endgültige Aus beschert den aus der Zeit gefallenen Detectives ironischerweise ein Smartphone: Mit ihm wird das Duo dabei gefilmt, wie es mit beeindruckender Effizienz und ebenso beeindruckender Gesetzesuntreue einen Dealer und sein Versteck aushebt. Die auf die Veröffentlichung des Videos folgende Suspendierung bringt beide - einer Familienvater mit an MS erkrankter Ehefrau, der andere angehender Ehemann einer sozial deutlich bessergestellten Freundin - in finanzielle Schwierigkeiten.
 
Die Umstände, unter denen die hard-boiled Detectives und der Rest des Ensembles von "Dragged Across Concrete" in ein blutiges Verbrechen verstrickt werden, sind so schnell etabliert wie schlicht angelegt: Alle Beteiligten werden vom finanziellen Druck, der Armut und der zunehmenden Hoffnungslosigkeit zerrieben. Eine Geschichte, die schon S. Craig Zahlers letzter Film "Brawl in Cell Block 99" mit brutaler Konsequenz auserzählte. Neben dieser Grundkonstellation ist auch der auf konventionelle Drehbuchnormen verzichtende Erzählstil des Regisseurs und ehemaligen Romanautors geblieben: ein langes Vorspiel, das langsam auf eine tödliche Eskalation zusteuert. Für Ridgeman und Lurasetti beginnt diese genau dort, wo Vorschriften, kategorischer Imperativ und sonstige Skrupel weichen müssen, um der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen.

Nachdem Ridgemans Tochter ein weiteres Mal vor der eigenen Haustür im Armutsviertel überfallen wird und die Arztrechnungen sich weiter türmen, ruft dieser einen alten Bekannten an. Der von Udo Kier gespielte Anzugträger steckt mit allen Finger tief in den Geschäften der Unterwelt und schuldet dem suspendierten Detective einen Gefallen. So nutzen die Cops ihren Zwangsurlaub, um ein Verbrechen zu vereiteln und die private Existenz erträglich zu machen. Die einfachen ideologischen Grundsätze (keine unschuldigen Opfer, keine Exekutionen, keine Schießereien im Stadtzentrum), mit denen beide antreten, werden, im Verlauf ihres Einsatzes, einem bitteren reality-check unterworfen, der gute Absichten und deren Konsequenzen mit Gewalt auseinanderzerrt.
 
Die Feinheiten seines mehrfach erprobten Setups etabliert Zahler während der Observation des Verbrechers Lorentz Vogelmann (Thomas Kretschmann), die den Großteil der gemächlich ausrollenden Exposition ausmacht. Die Einzelteile des im schönste Sinne Pulp-artigen Szenarios setzen sich im gleichen Tempo zusammen, mit dem Lurasetti das wohl knusprigste Pastrami-Sandwich aller Zeiten verzehrt, während Ridgeman seine Wut nur schwer hinter einem Zähnefletschen zu verbergen mag.



Rhythmus und Faszination des bis aufs äußerste gedehnten Setups entwickelt der Film primär über die Sprache. Jede Stimme des Ensembles, das in den blutigen Coup verstrickt ist, hat ihren ganz eigenen Klang. Ridgemans biestige Lakonie wird von Lurasettis flamboyant vorgetragener Smartness ausgekontert. Der pathetische Singsang, den Zahler den zivilen Opfern - allen voran Jennifer Carpenter - in den Mund legt, findet sein Ende in der unmissverständlich ausbuchstabierten Menschenverachtung der in taktische Uniformen gehüllten Bankräuber. Eine Sprache, die wiederum mit dem Straßensprech der lokalen Handlanger Henry (Tory Kittles) und Biscuit (Michael Jai White) kollidiert. Henrys kurzes "We here" wird von den verhüllten Handschuhträgern ins ordnungsgemäße Oxford-Englisch korrigiert. Eine Besserwisserei, die den gleichen Tonfall und damit die gleiche Intensität in sich bringt, die alle Opfer der maskierten Killer zu hören bekommen, bevor sie exekutiert werden. Überhaupt nehmen die beiden Maskenträger, die Vogelmann beim Coup assistieren, eine Sonderstellung im Gefüge von Zahlers Groschenromanthriller ein. Nur nach der Farbe ihrer Handschuhe benannt und unterscheidbar, treten beide mit einer derart außerweltlichen Gewaltbereitschaft auf, dass ihre Präsenz dem gesichtslosen Bösen der Horrorfilmgeschichte deutlich näher kommt als dem Profil eines generischen Kriminellen.
 
Mit der gleichen Vehemenz, mit der die Froschmänner Genrelinien übertreten, durchkreuzen sie die langsam aufgezogene Spannungslinie des Films. Die Blutspur, die sie dabei hinterlassen, spricht weniger für eine effektive Durchführung krimineller Handlungen als einen wollüstigen Sadismus und ist weniger mit dem klassischen Krimi oder Gangsterfilm verwandt als mit der klassischen Exploitation. Es ist ein durchweg aus practical effects bestehendes Horrorkabinett der Hinrichtungen, Folter durch Schussverletzungen und obsessiver Verachtung für Finger, das Zahler, mit zwei dämonischen Masken getarnt, über fast drei Stunden ausrollt. "Dragged Across Concrete" ist die Art von Erwachsenenkino, die selten eine Chance bekommt.

Nach der Venedigpremiere und einem limited release in den US-Kinos, ist der Film in Deutschland und Frankreich scheinbar nur noch als Material für die DVD-Grabbelkiste tauglich. Das mag daran liegen, dass weder der langsam schlurfende Plot noch die hemmungslose Grausamkeit, mit der Unschuldige zu menschlicher Schlacke verarbeitet werden, den Markttauglichkeitskriterien der Verleiher entsprechen. Gewalt ist hier stets erbarmungsloses Kalkül, das nie einen beiläufigen oder gar humoristischen Touch bekommt, und gezielt in die langen Spannungsschleifen injiziert wird. Es ist diese alles einhüllende Unberechenbarkeit, die dem Film seine brennende Schärfe gibt. "Dragged Across Concrete" kriecht langsam durch einen Fleischwolf, der, einmal angeworfen, das selten zu hörende, fast unerträgliche Geräusch produziert, das entsteht, wenn frisches Fleisch und altes Eisen über den Asphalt gezogen werden.
 
Karsten Munt

Dragged Across Concrete - USA 2018 - Regie: S. Craig Zahler - Darsteller: Mel Gibson, Vince Vaughn, Tory Kittles, Michael J. White, Thomas Kretschmann, Jennifer Carpenter, Laurie Holden, Don Johnson, Udo Kier - Laufzeit: 159 Minuten.

"Dragged Across Concrete" ist seit dem 23. August auf BluRay, DVD und Amazon Prime erhältlich.