9punkt - Die Debattenrundschau

Bereits wieder Vorkriegszeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2014. Clemens Setz hat sich für die Zeit die Snuff Videos des Islamischen Staats angesehen. Außerdem wirft Arundhati Roy einen kritischen Blick auf Mahatma Gandhi. In der taz setzt Najem Wali seine Korrepondenz mit einer Irakerin fort. In Spiegel Online spricht Navid Kermani über seine Irak-Reise. Im Tagesspiegel warnt Michail Schischkin vor Appeasement. Und wer sagt, dass Print nicht triumphieren kann? Die Tage Wolfgang Büchners als Chefredakteur des Spiegel scheinen laut turi2 gezählt zu sein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.09.2014 finden Sie hier

Politik

Der österreichische Autor Clemens J. Setz konfrontiert sich mit Enthauptungsvideos und der perfiden Medienstrategie des "Islamischen Staats". Im Gegensatz zu dem Video von der Enthauptung Nicholas Bergs vor einigen Jahren, das wirklich den Akt der Ermordung zeigt, sind die Snuff Videos von IS insofern "benutzerfreundlich", als in ihnen der Schnitt durch die Kehle und das Abtrennen des Kopfes ausgespart bleiben, schreibt Setz in der Zeit. Dass die Clips nur die Momente vor und nach dem Mord zeigen, begünstigt ihre enorme Verbreitung. Die Gestalter "haben die Reaktion durchschnittlicher Internetnutzer vorausberechnet: das Wegsehen bei zu brutalen, zu blutrünstigen Szenen. Aber sie wollen, dass jeder dranbleiben kann. Diese Bilder sind "für alle" gedacht, nicht nur für einige Gore-Freaks, die nachts auf einschlägigen Webseiten herumhängen."

Navid Kermani
war im Irak. Im Interview mit Leila Knüppel erzählt er in Spiegel Online unter anderem von schrecklichem Elend in den Flüchtlingslagern - und wenig Verbundenheit unter den Opfern: "Es geht den Menschen im Irak zunächst einmal um ihre eigenen - sehr zahlreichen - Opfer. Dabei sieht jede Bevölkerungsgruppe vor allem das eigene Leid: die Christen ihre eigene Vertreibung. Die Schiiten sagen, gegen uns richtet sich der Kampf in erster Linie. Die Kurden sagen, wir kämpfen hier für die freie Welt. Und so finden all diese verschiedenen Flüchtlings- und Widerstandsgeschichten nicht so recht zusammen." Auch Deutschland, so Kermani, wird massiv Flüchtlinge aufnehmen müssen.

Zum dritten Mal veröffentlicht der in Berlin lebende irakische Schriftsteller Najem Wali in der taz Auszüge aus seiner Online-Korrespondenz mit einer anonymen Irakerin: "Posting Nummer 4 - 20. August: "IS spricht Chinesisch. Es soll tatsächlich chinesische Krieger bei IS geben. Das haben gestern Flüchtlinge, die aus Dijala kamen, erzählt. Jetzt wird der Kampf richtig global. Oder surreal?"" (Hier der erste und zweite Teil.)

Diese kleine Reportage des französischen Fernsehen zeigt das Leben in Raqqa, Syrien, unter IS-Herrschaft. Sie wurde mit versteckter Kamera gedreht. Beeindruckend vor allem eine Szene in einem Internetcafé, in der junge Französinnen im Niqab ihren Eltern erklären, das sie nicht nach Hause zurückkehren wollen. Etwa 150 Französinnen sollen sich dem IS angeschlossen haben. (Informationen zum Mord an dem französischen Bergführer Hervé Gourdel in Algerien, hier in Le Monde.)



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel denkt Peter von Becker über die ausgestellte Grausamkeit des IS nach: "Die ISler sind so die ersten "porn warriors" des digitalen Zeitalters." In der Zeit schreibt Khuê Pham einen Nachruf auf die Piratenpartei, die sie nach den Austritten von Christopher Lauer und Anke Domscheit-Berg am Ende sieht.
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Europa

"Das Nachkriegseuropa steckt bereits wieder in der Vorkriegszeit", mahnt Michail Schischkin im Tagesspiegel. Der Ernst der Lage werde jedoch weitgehend verkannt: "Die Europäer sind noch nicht bereit für die neu eingetretene Realität. Lasst uns in Ruhe! Macht alles wieder so, wie es war: Arbeitsplätze, Gas, Frieden! ... Soll die Welt wirklich in einer Katastrophe versinken, nur weil die Ukraine nach Europa möchte? Schließlich spricht Putin perfekt Deutsch! ... Moskau verteidigt in der Ukraine seine Interessen! Vielleicht sind in Kiew ja wirklich Faschisten an der Macht? Warum sollen wir die dann unterstützen und mit Russland streiten? Putin schlägt Frieden vor! Wir wollen Frieden!"

Die Ukraine ist für Russland nur ein "Versuchsfeld", das eigentliche Ziel ist die Zerstörung der EU, glaubt Timothy Snyder. Im Gespräch mit Alice Bota in der Zeit definiert der Historiker Putins Strategie: "Erstens gibt es die Unterstützung von europäischen Rechtsextremen mit dem Ziel, die EU-Institutionen zu zerstören. Zweitens versucht Putin, mit den Regierungen einiger EU-Mitglieder im Energiebereich zu kooperieren, und es gibt auch ideologische Anknüpfungspunkte, Ungarn ist dafür ein gutes Beispiel. Drittens arbeitet das russische Regime daran, Parlamente von schwachen EU-Mitgliedsstaaten wie Bulgarien und Kroatien zu kaufen. Und Russland führt einen Informationskrieg: Die Europäer sollen nicht nur davon abgehalten werden, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Sie sollen sich auch Moskaus ideologisch-konspirativen Blick auf die Welt zu eigen machen."
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Überwachung

Sascha Lobo lässt nicht nach und geißelt in seiner neuesten Spiegel Online-Kolumne den mangelnden Aufklärungswillen der Bundesregierung in Sachen Geheimdienstaffäre: "Um den größten Grundrechtsbruch der Digitalgeschichte wirksam zu verstecken, ohne ihn wirklich zu bekämpfen, reichen jedoch Verharmlosung und Verschleierung nicht aus. Zusätzlich müssen auch eventuelle neue Erkenntnisse verhindert werden. Die Bundesregierung behindert daher nicht nur den Untersuchungsausschuss, wo sie kann. Sie versucht auch zu verhindern, dass Bundesdatenschützer im Zeugenstand unangenehme Dinge sagen."

Außerdem meldet (unter anderem) Zeit digital, dass Edward Snowden und Alan Rusbridger mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet werden. Laut Presse hat die Entscheidung der in Stockholm beheimateten Right-Livelihood-Award-Stiftung einen Eklat ausgelöst: "Schwedens Außenminister, Carl Bildt, war das "zu heftig", wie der Rundfunk SVT berichtet. Die für heute anberaumte Pressekonferenz zum Alternativnobelpreis wurde abgesagt. Berichten zufolge auf Anweisung Bildts."
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Geschichte

Die FAZ druckt die Rede von Bundespräsident Gauck zur Eröffnung des Historikertags, in der sich die Frage findet, "ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und die Zukunft zu siegen... Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der "Geschichtslosigkeit" oder "Geschichtsvergessenheit" der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen."

Beim Historikertag wird erstmals auch die Geschichte des Pop abgehandelt. Die Welt bringt aus dem Anlass einen Vortrag Bodo Mrozeks über die frühe Elvis-Presley-Fankultur.
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Medien

In der Zeit-Glosse wirft David Hugendick schon mal einen Blick in die Zeitung von morgen: Karl Daily.

Sieg des Strukturkonservatismus. Die Mitarbeiter-KG des Spiegel scheint sich durchzusetzen. Man rechnet mit der Absetzung des Chefredakteurs Wolfgang Büchner (der sich hoffentlich gute Abfindungsklauseln in den Vertrag hat schreiben lassen), weil er auftragsgemäß Print und Online zusammenführen sollte, meldet turi2 unter Bezug auf verschiedene Quellen.
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Stichwörter: Der Spiegel, Lagerfeld, Karl

Internet

(Via turi2) Alexander Pschera beobachtet bei Cicero "die Entstehung eines selbstbewussten neuen konservativen Milieus, das aus dem Geist der Netz-Opposition erwächst", und spielt damit vor allem auf die netztkritischen Artikel in den Feuilletons an. Dieser Konservatismus ist laut Pschera vor allem eins: nicht neugierig: "Neugierig zu sein und zu bleiben ist aber der Motor von Erkenntnis und gesellschaftlicher Entwicklung. Es ist der erklärte Auftrag der Aufklärung, neue Technologien zu nutzen und sozial zu strukturieren, um sie in den Dienst der Neugierde zu stellen. Das Netz ist eine Maschine des Staunens. Und als solches sollte es gesehen und diskutiert werden."
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Stichwörter: Cicero, Konservatismus

Gesellschaft

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat ein ausführliches Vorwort für eine Neuveröffentlichung von Bhimrao Ramji Ambedkars Essay "Annihilation of Caste" aus dem Jahr 1937 verfasst (siehe auch unsere Magazinrundschau vom 7. März). Im Gespräch mit Jan Ross (Zeit) stellt Roy dem subversiven Ambedkar den konservativen Gandhi gegenüber, der das Kastensystem zeitlebens verteidigte: "Gandhis Doktrin der Gewaltlosigkeit ruht auf einem Fundament von dauernder, brutaler, extremer Gewalt - denn das ist das Kastensystem. Es kann ohne die Androhung und Anwendung von Gewalt nicht aufrechterhalten werden. Selbst heute noch laufen Dalits [Angehörige der niedrigsten Klasse], die den Status quo infrage zu stellen wagen, Gefahr, einem regelrechten Ritualmord zum Opfer zu fallen." (Das Porträt Ambedkars entnehmen wir der englischsprachigen Wikipedia.)

Ebenfalls in der Zeit schreibt Ulrich Greiner einen ganzseitigen Artikel über Reproduktionsmedizin und das Ende der Genealogie. Das Dossier beschäftigt sich mit dem Thema Embyonenspende.
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