Vorgeblättert

Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler, Teil 3

29.03.2004.
Die Empörung Steiners findet ihren Niederschlag in einer besonders "hieroglyphischen" Episode des Peter Hille-Buchs mit dem Titel "Petrus erprobt meine Leidenschaft".(40) Darin wandern der Meister und seine Jüngerin zu einem Kuppeltempel, in welchem der Prophet ruht. "Süssliche Eitelkeiten" strömen Tino dort entgegen, "des Propheten Katzin" die behaglich auf seinem toten Herzen kauert, ist nun als Elisabeth Förster-Nietzsche zu identifizieren, denn in der Handschrift hieß es noch, daß auf dem toten Haupte "des Meisters wache Schwester behaglich, wie auf einem Seidenkissen" kauerte und schnurrte.(41) Ekel und Zorn überkommen Tino, und Petrus gibt ihr gleichsam den Auftrag, sein Erbe rein zu halten, mit den Worten "Du wirst meinem Andenken einen Thron bereiten".
Die von Paul Goldscheider überlieferte Erinnerung, eines der grauenvollsten Erlebnisse ihrer Jugend sei ein Besuch Else Lasker-Schülers bei dem kranken Nietzsche gewesen, den seine Schwester damals einer Gruppe junger Künstler gezeigt habe, ist wohl ungenau. Ein Besuch Else Lasker-Schülers in Weimar vor Nietzsches Tod ist nicht nachzuweisen. Sie hat aber vielleicht von solchen Schaustellungen gehört, und Goldscheiders Bemerkung, die Dichterin habe Elisabeth Förster-Nietzsche gehaßt, kann auf eine dadurch ausgelöste spontane Aversion zurückgehen. Die auf einer Visitenkarte mit dem Aufdruck "Herwarth und Else Walden" übermittelten "verbindlichsten Glückwünsche" zu Elisabeth Förster-Nietzsches 60. Geburtstag stammen bezeichnenderweise von Herwarth Waldens Hand.
Die finanzielle Lage der Waldens war weiterhin äußerst prekär. Ein Versuch, 1906 Sommerferien in Ahlbeck an der Ostsee zu verbringen, scheiterte nach kurzer Zeit an dem primitiven Quartier, einer "Erdhöhle", in die die Familie floh, weil Herwarth Walden bei dem Gebrüll der "Säugetiere des Hauses" nicht an seiner Oper, vielleicht Der Nachtwächter nach Theodor Körner, Text von Ludwig Rubiner, arbeiten konnte. "Waschung an der grünen Pumpe im Hof", berichtet die Dichterin ihrem Verleger Axel Juncker.(42) 
Während der neun gräßlichen Tage in Ahlbeck schickt Else Lasker-Schüler mindestens ein Manuskript aus dem höhlengleichen Kellerquartier voller Spinnweben und "tausendjährigem Schimmel" nach Berlin, den "Grossmogul von Philippopel". Es wird in den nächsten Prosaband, Die Nächte Tino von Bagdads aufgenommen, der Ende Mai 1907 bei Axel Juncker erscheint. Gewidmet ist er "Meiner Mutter, der Königin mit den goldenen Flügeln in Ehrfurcht".
Waren ihre ersten drei Bücher in der von Nietzsche inspirierten Umwelt des Vitalismus und der Lebensreform entstanden, so wendet sich Else Lasker-Schüler nun einem selbstentworfenen Orient zu, in den sie äußerst spielerisch die vielfältigsten Anregungen aufnimmt, die von allen Seiten auf sie eindringen. Die 19 Prosatexte spiegeln die Faszination der westlichen Welt von allem Orientalischen um die Jahrhundertwende wider. In den zehn Gedichten, die in den Band aufgenommen werden, hat Else Lasker-Schüler ihre eigene lyrische Sprache gefunden, in der sie von nun an schreiben wird.
Sie steht mit diesen Dichtungen in einer langen Tradition beginnend mit Joseph Hammer-Purgstall, der 1812-18 als erster persische Dichtungen ins Deutsche übertrug. Sie ließen Goethe im West-östlichen Divan zu seinem Alter ego Hafis und in Neuengland Ralph Waldo Emerson zu seinem "idealen Dichter" Saadi finden. Oscar Wildes Salome, deren Übersetzung von Gustav Landauers Frau Hedwig Lachmann Richard Strauß als Libretto zu seiner Oper diente, die Odalisken und Tänzerinnen französischer Maler wie Ingres und Jean Leon Gerôme, die Ausgrabungen und Expeditionen deutscher Archäologen und Forscher wie die des Ägyptologen Georg Ebers, der eine Woche in einer thebanischen Grabkammer lebte, um dort Hieroglyphen zu entziffern, und seine Forschungsergebnisse in populären "Professorenromanen" einem breiten Publikum zugänglich machte, all dies wurde in Wort und Bild weit verbreitet. Die Leidenschaft griff über auf Innenarchitektur, Kunsthandwerk, Nahrungs- und Genußmittel. Man sammelte Perserteppiche, möblierte sich mit Sofa, Diwan und Ottomanen, aß türkischen Honig und rauchte ägyptische Zigaretten. Auf der Weltausstellung in Chicago 1893 waren algerische und tunesische Dörfer und die "Straße von Kairo" mit Astrologen, Schlangenbeschwörern und Tänzerinnen zu sehen. Das wurde wiederum in illustrierten Zeitschriften auch nach Europa berichtet, wo die ersten Völkerkundemuseen entstanden und Völkerschauen zu besichtigen waren, wie sie Else Lasker-Schüler im Lunapark und im Zoologischen Garten bereits mit ihrem Zeichenlehrer besucht hatte. Schließlich wirkte diese Passion auch in der populären Kultur. Für das Kinobuch von Kurt Pinthus lieferte Else Lasker-Schüler die Textvorlage "Plum Pascha", die auch in den Nächten Tino von Bagdads stehen könnte. Allerdings hat sich dann der deutsche Film weniger des Orients bemächtigt als der französische, englische und amerikanische.
Für die Maler, Dichter und Komponisten, die sich den Orient als Schauplatz ihrer Werke wählten, ob sie ihn selbst erlebt hatten oder nicht, bedeutete diese Möglichkeit eine ungemeine Befreiung. Im Deutschen Reich war es eine Befreiung aus der steril gewordenen wilhelminischen Welt, wo die monumental-epigonale Architektur - man denke nur an den 1894-1905 erbauten Berliner Dom - und die akademische Historienmalerei sich geradezu erstickend auf die nachfolgende Generation auswirkten, die sich dann in der expressionistischen Rebellion davon befreite. Lasker-Schülers Faszination von der orientalischen Welt fällt zeitlich auch mit der Begeisterung europäischer Künstler von der Kunst der Eingeborenen Afrikas, Amerikas und der Südsee zusammen, deren Werke im "Muse d?Ethnografie" ausgestellt wurden, das 1892 im Pariser Trocadero eingerichtet worden war. Sie trugen entscheidend zu Weiterentwicklung der modernen Kunst bei. Henri Matisse, Georges Bracque und Pablo Picasso sammelten afrikanische Objekte, zumeist kleine Skulpturen, die nicht nur auf ihren Bildern erscheinen, sondern auch ihre Formensprache bereichern. Andere Maler wie Paul Gauguin reisten in die neuerschlossene Welt, um dort jahrelang zu arbeiten. Ihre Bilder wiederum wurden bald darauf in Deutschland ausgestellt, zum ersten Mal von Herwarth Walden im ersten deutschen Herbstsalon 1912 in Berlin. Dank der großzügigen Unterstützung eines Onkels von August Macke, des Industriellen Bernhard Koehler, waren dort 366 Werke von 75 Künstlern aus zwölf Ländern, darunter Picasso, Leger, italienische Futuristen, russische Cubo-Futuristen und tschechische Kubisten zu sehen.
Der Einfluß der sogenannten primitiven Kunst wirkte sich in Deutschland etwas später als in Frankreich, dafür um so stärker aus. Der Expressionismus ist ohne ihre Kenntnis nicht zu denken. 1902 gelangten reliefgeschmückte Pfähle von den Palau-Inseln im westlichen Mikronesien, die 1900 bis 1902 deutsches Schutzgebiet waren, in das Dresdner Völkerkundemuseum und übten eine große Anziehungskraft auf Künstler aus, die Pilgerfahrten zu diesen Kunstwerken unternahmen. Für Gottfried Benn wurde Palau ein magisches Wort. Ludwig Kirchner benutzte zwischen 1909 und 1911 Afrikaner als Modelle und richtete sich in Berlin-Wilmersdorf ein Atelier nach dem Muster afrikanischer Wohnstätten ein. Erich Heckel besaß eine Sammlung afrikanischer Kunst. Emil Nolde reiste 1914 nach Neu-Guinea und brachte Masken und andere Artefakte mit nach Hause. Max Pechstein wollte ebenfalls 1914 ein neues Leben auf Palau beginnen, mußte aber bei Kriegsausbruch nach Deutschland zurückkehren. Paul Klee und August Macke unternahmen 1914 eine Reise nach Nordafrika. Macke und Franz Marc erwarben afrikanische Skulpturen. Macke veröffentlichte 1913 im Almanach Der Blaue Reiter einen Aufsatz über afrikanische Masken. 1910 fand in München eine aufsehenerregende Ausstellung von Teppichen mit dem Titel Meisterwerke mohammedanischer Kunst statt, im gleichen Jahr, in dem Else Lasker-Schülers Gedicht "Ein alter Tibetteppich" entstand.
Im Briefwechsel zwischen Franz Marc und August Macke kommt die belebende Energie, welche diese Künstler aus den Kunstwerken fremder Kulturen schöpften, deutlich zum Ausdruck. "Ich finde es so selbstverständlich, daß wir in diesem kalten Frührot künstlerischer Intelligenz die Wiedergeburt unseres Kunstfühlens suchen und nicht in Kulturen, die schon eine tausendjährige Bahn durchlaufen haben wie die Japaner oder die italienische Renaissance", schrieb Marc 1911 an Macke, nachdem er im Berliner Völkerkundemuseum "staunend und erschüttert" die Schnitzereien aus Kamerun gesehen hatte. In geistiger Beziehung, schreibt er weiter, müßten die Künstler Asketen werden und "tapfer auf alles verzichten was uns als guten Mitteleuropäern bis heute teuer und unentbehrlich war [?] wir müssen uns mit Heuschrecken und wildem Honig nähren, um aus der Müdigkeit unseres europäischen Ungeschmacks herauszukommen."(43) Genau das fühlte auch Else Lasker-Schüler.
Nicht nur besuchte sie Ausstellungen moderner Kunst mit großem Interesse, sie spürte auch die Kraft, die von der afrikanischen Kunst ausging. "Erstaunt, ja fast verblüfft betrachte ich die Bildhauerei der Neger, der Heidenpriester. Furchtbare Holzgesichter, Kokosfratzen, Köpfe mit zackigen Augenbrauen, weitgepreßte Nasen, Götzen. Ja, Sünde ist in ihrem Lande keine Sünde. Gastfreundschaft aber, die uns hier mangelt, ist ihnen das Höchste! Die heiligen Eigenschaften ihrer Stämme neben mannigfaltiger Rachegelüste, großher­ziger Schutz und des öfteren launige Menschenfresserei."(44) Else Lasker-Schülers ägyptisch-hebräisches und später indianisches Inspirationsmaterial entstammte jedoch nicht der afrikanischen Welt, außer daß der Prinz von Theben auf vielen Zeichnungen von seinem treuen Somali begleitet wird.
Für die Expressionisten waren orientalische Kunstwerke zu weit entwickelt, sie hatten schon "eine tausendjährige Bahn" durchlaufen, als daß sie ihnen die gleiche Energie hätten vermitteln können wie die eckigen, geometrischen, gedrungenen Formen der Skulpturen aus Afrika. Franz Marc bildet eine Ausnahme. Er hat 1911 ein ägyptisches Kalksteinrelief als Vorlage für ein Fries mit einer Reihe von Eseln benutzt.
Wieviel Anregung Else Lasker-Schüler in den exotischen Romanen der Jahrhundertwende gefunden haben mag, läßt sich nicht sagen. Selbst Paul Scheerbart, dessen "Kulturnoveletten" aus Assyrien, Palmyra und Babylonien sie bestimmt kannte, hat seine orientalischen Miniaturen erst mehrere Jahre nach dem Erscheinen der Nächte Tino von Bagdads geschrieben.(45) Er gehörte zu Herwarth Waldens engstem Kreis und veröffentlichte in den von Walden redigierten Zeitschriften. 1911/12 erschienen im Sturm die Erzählungen "Der brennende Harem" und "Die Schlachtpomade. Assyrische Feldherrn-Novelette".
Scheerbart ließ sich zu seinen altorientalischen Geschichten im Berliner Neuen Museum, vornehmlich der Babylonisch-assyrischen Sammlung inspirieren. Peter Sprengel hat einen kleinen Museumsführer mit dem Verzeichnis der vorderasiatischen Altertümer und Gipsabgüsse entdeckt, der für 50 Pfennige zu haben war und dem Scheerbart die Namen und viele kulturhistorische Details für seine Noveletten entnahm.(46) Er hat daraus auch kein Geheimnis gemacht, während Else Lasker-Schüler, falls sie überhaupt in den Königlichen Museen zu Berlin Anregungen fand, dergleichen nie erwähnt. Ihre orientalischen Geschichten unterscheiden sich von denen Scheerbarts vor allem dadurch, daß hier eine weibliche Stimme spricht und noch dazu von Liebe und Leidenschaft, während der "Antierotiker" Scheerbart eine reine Männerwelt darstellt.
Else Lasker-Schüler erschuf sich ihren Orient in Dichtungen, die kein verzweiflungsvolles Fernweh ausdrücken, wie es etwa in dem von Ravel vertonten Zyklus Scheherazade (1903) von Tristan Klingsor (Arthur Leclere) zu hören ist: 

Asie, Asie, Asie
Je voudrais m?en aller avec la gaelette
Qui berce ce soir dans le port
Mysterieuse et solitaire ? 

Alle Bilder der Schönheit und Grausamkeit, alle verführerischen Namen exotischer Länder erscheinen bei Klingsor als Ziele der Sehnsucht: 

Je voudrais voir des assassins souriant
Du bourreau qui coupe un cou d?innocent
Avec son grand sabre courbe d?Orient;
Je voudrais voir des pauvres et des reins;
Je voudrais voir des roses et du sang;
Je voudrais mourir d?amour et bien de haine ?(47) 

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(40) KA 3.1, S. 50.
(41) KA 3.2, S. 57.
(42) KA 6, S. 72f.
(43) August Macke - Franz Marc, Briefwechsel. Köln 1964, S. 39-41.
(44) KA 4.1, S. 79.
(45) Paul Scheerbart, Der alte Orient. Kulturnovelletten aus Assyrien, Palmyra und Babylon. Mechtild Rausch (Hg.), München 1999.
(46) Peter Sprengel, Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993, S. 201-232.
(47) Pierre Menanteau, Tristan Klingsor. Paris 1965, S. 108f

Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlages

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