Außer Atem: Das Berlinale Blog

Lieber Schmerzen als keine Lust: "Notre Corps" von Claire Simon (Forum)

Von Thekla Dannenberg
18.02.2023.


Der weibliche Körper ist seit jeher ein Schlachtfeld, in der Theorie, aber vor allem in der Realität: Er wurde verfügbar gemacht, herabgesetzt und unterworfen, und selbst jene, die ihn idealisierten, verehrten und in Szene setzten, wandten sich meist ab, wenn es blutig wurde. Wenn die französische Filmemacherin Claire Simon ihre Dokumentation über eine Pariser Frauenklinik "Notre Corps" nennt, ist dies eine Setzung in gleich mehrfacher Hinsicht. Jenseits von allen theoretischen Diskursen macht sie sich auf, den weiblichen Körper einfach erst einmal grundsätzlich zu erkunden, der bei ihr nicht Schicksal ist, aber doch die Biografie einer Frau entscheidend prägt. Sie tut es voller Sympathie und Neugier. Alles bleibt hier konkret, nichts wird Metapher oder Argument im Diskurs. Drei Stunden lang folgen wir ihr durch die verschiedenen Stationen der Klinik und des Lebens, in vertrauliche Gespräche zwischen Ärztinnen und Patientinnen, in Behandlungszimmer und Operationssäle. Keine einzige Minute ist zu viel. Der Film ist eine Sensation.

Gleich zu Beginn erleben wir ein junges Mädchen, das mit gerade mal 15 Jahren schwanger geworden ist. Ihr Gesicht ist unter einer Kapuze verborgen. Natürlich will sie die Schwangerschaft beenden, die Ärztin begegnet ihr gleichermaßen streng wie wohlwollend. Wenn das Mädchen bekennt, sie habe nicht aufgepasst, mahnt die Ärztin, das hätte auch der Junge tun können. Wenn das Mädchen erzählt, ihre Eltern seien verzweifelt, sieht die Ärztin keinen Grund. Nein, es bleiben keine Schäden. Wieso sie denn glaube, sie könne später keine Kinder mehr bekommen? Und wieso sie denn meine, sie müsste sich ihr Leben lang schlecht fühlen? "Es ist deine Geschichte."

Aslan ist noch nicht achtzehn Jahre alt, der Vater ist nicht einverstanden mit einer Geschlechtsumwandlung, deswegen dürfen die Ärzte nicht operieren, nur Hormone verabreichen. Mit dem Testosteron sind Aslans Brüste zurückgegangen, die Periode kommt noch und verursacht starke Schmerzen. Als Aslan die Maske abnimmt, um den kräftigen Bartwuchs zu zeigen (Claire Simon hat während der Pandemie gefilmt), sieht sein Arzt einen Menschen auf einem Weg, der ihn glücklicher zu machen scheint. Nur kurz ist Aslan bestürzt, als er erfährt, dass er genetisch keine Kinder wird zeugen können, weil er stets weiter Eizellen produzieren wird, keine Spermien.

Ein junge Frau berichtet von mörderischen Schmerzen in der Gebärmutter nicht nur bei der Menstruation, sondern auch beim Geschlechtsverkehr. Sie weint. Wie kann es sein? Dass ihr der Sex mit dem Mann, den sie liebt, so weh tut? Inzwischen sei ihre Libido auf Null gesunken. Das ist noch schlimmer, findet sie: "Lieber Schmerzen als keine Lust." Der Arzt diagnostiziert Endometriose, eine Wucherung zwischen Gebärmutter und Darm, die operativ entfernt werden kann. Claire Simon filmt die Operation, zum Teil direkt, zum Teil über die laparoskopischen Bildschirme der Chirurgen. Man verfolgt die Bilder der pulsierenden Organe, berührt von der Geschichte der jungen Frau, aber auch mit Wissensdrang.



Ein Paar versteht nicht, warum es keine Kinder bekommt. Für beide ist es die zweite Ehe, beide haben bereits Kinder. "Wir waren so glücklich, als wir uns gefunden hatten", sagen sie bescheiden. Liegt es am Alter? Am Übergewicht? Eine Lehrerin lässt sich befruchtete Eizellen in die Gebärmutter einsetzen. Die Ärztin hantiert vorsichtig mit dem Spekulum, dessen eiserne Zangen auch zu Folterzwecken verwendet werden könnte. "Es tut weh, aber es ist okay", sagt die Frau, weinend vor Schmerzen. Eine Frau liegt allein auf der Entbindungsstation, der Mann ist zu Hause, sagt sie, er müsse auf die Kinder aufpasse. Während der gesamten Geburt gibt sie keinen Mucks von sich. Ob sie ihre goldenen Ohrringe für die Kamera angelegt hat?  Geradezu höflich wünscht sie ihrem neugeborenen Kind Gesundheit, Intelligenz und Frieden. Inschallah. Man würde ihr so sehr einen gewaltigen Schrei gönnen.

Am Ende erkennen wird, dass eine der Brustkrebs-Patientinnen Claire Simon selbst ist. Sie hat sich während ihrer Behandlung filmen lassen. Ihre Brüste werden entfernt, Simon steckt die Verstümmelung weg: "Ich bin ja nicht die erste." Nur selten gelangen die Ärzte an ihre Grenzen: Ein Arzt muss einer jungen Frau schonend beibringen, dass ihr Tumor operabel ist, sie danach aber keine Kinder mehr bekommen kann. Sie spricht kein Französisch, mit dem Smartphone übersetzt und radebricht er auf Spanisch: "Después, no funciona." Aus verstörten Augen blickt sie ihn verständnislos an. Eine andere Ärztin bereitet eine Patientin auf eine palliative Behandlung vor, die Chemotherapie hilft nicht gegen ihren Krebs: "Manchmal siegt eine Krankheit über Mut und Medizin." Die Frau nimmt das so zartfühlend ausgesprochene Todesurteil mit unfassbarer Beherrschung auf.

Es grenzt an ein Wunder, in welch intimen Momenten Simon filmen durfte. Überhaupt ist man voller Dankbarkeit für die Frauen, die sich zu Aufnahmen bereit erklärten. Man spürt ihr Vertrauen zu der Filmemacherin, die tatsächlich immer ungeheuer diskret bleibt, selbst in Momenten, in denen es zur Sache geht. Die Ruhe und Sachlichkeit, mit der die Ärztinnen und Ärzte auftreten und ihr humanistisches Ethos hochhalten, um dem einzelnen Menschen zu helfen, ist Balsam für die vom schrillen Meinungskampf zermürbte Seele.

Thekla Dannenberg

"Notre Corps". Regie: Claire Simon. Dokumentarische Form. Frankreich 2023, 168 Minuten. (Alle Termine)