Vorgeblättert

Leseprobe zu David van Reybrouck: Kongo - Eine Geschichte. Teil 1

05.04.2012.
8
Der Kampf um den Thron

Die turbulenten Jahre der Ersten Republik
1960-1965

Dass in dieser ersten Zeit der Unabhängigkeit viel improvisiert werden musste, war jedem klar. Dass nicht alles wie am Schnürchen klappen würde, war nicht weiter tragisch. Aber die Probleme, mit denen sich der Kongo in den ersten sechs Monaten seiner Existenz dann tatsächlich konfrontiert sah, konnte wirklich niemand voraussehen: eine schwere Meuterei in der Armee, eine Massenflucht der bis dahin im Land verbliebenen Belgier, eine Invasion belgischer Truppen, eine militärische Intervention der UNO, logistische Unterstützung der Sowjetunion, eine sehr hitzige Phase des Kalten Krieges, eine beispiellose Verfassungskrise, zwei Sezessionen, die ein Drittel des Territoriums betrafen - und zu all dem noch die Verhaftung, Flucht und erneute Festnahme und dann die Folterung und Ermordung des Premierministers.
     Und auch in den Jahren darauf kam das Land nicht zur Ruhe. Der Zeitraum von 1960 bis 1965 wird heute als Erste Republik bezeichnet, hatte aber eher den Charakter einer Endzeit. Das Land zerfiel und erlebte einen Bürgerkrieg, ethnische Pogrome, zwei Staatsstreiche, drei Aufstände und sechs Staatsoberhäupter (Lumumba, Ileo, Bomboko, Adoula, Tschombé und Kimba), von denen zwei auf jeden Fall, vielleicht sogar drei ermordet wurden: Lumumba, erschossen 1961; Kimba, erhängt 1966; Tschombé, tot vorgefunden in einer Gefängniszelle in Algerien 1969. Sogar der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, der Mann, der an der Spitze einer unschlüssigen Weltregierung stand, verlor unter nie aufgeklärten Umständen das Leben: ein singuläres Ereignis in der Weltgeschichte der Nachkriegszeit. Der Blutzoll unter der kongolesischen Bevölkerung wurde nirgendwo dokumentiert.
     Die Erste Republik des Kongo war eine apokalyptische Ära, in der alles fehlschlug, was nur fehlschlagen konnte. Auf politischer und militärischer Ebene versank das Land in einem totalen, unentwirrbaren Chaos, auf wirtschaftlicher Ebene war das Bild klarer: Es ging ständig nur noch abwärts. Dennoch fiel der Kongo nicht der puren Irrationalität anheim. Die Misere der ersten fünf Jahre war nicht die Folge einer Renaissance der Barbarei, der Auferstehung von in den Jahren der Kolonialherrschaft unterdrückten Primitivismen, geschweige denn der Ausdruck einer genuinen "Bantuseele". Nein, auch hier war das Chaos eher das Resultat von Logik als von Unvernunft, genauer gesagt: das Resultat der Konfrontation unterschiedlicher Logiken. Der Präsident, der Premierminister, die Armee, die Rebellen, die Belgier, die UNO, die Russen, die Amerikaner: Jeder für sich agierte entsprechend einer Logik, die in sich konsistent und nachvollziehbar, mit der Logik der anderen jedoch oft unvereinbar war. Wie im Theater war auch hier die Tragödie der Geschichte keine Sache von Vernünftigen gegen Unvernünftige, von Guten gegen Böse, sondern von Menschen, die sich zusammenschlossen und sich selber einer wie der andere als gut und vernünftig ansahen. Idealisten standen Idealisten gegenüber, aber jeder Idealismus, der zu fanatisch ausgelebt wird, führt zu Verblendung, der Verblendung der Guten. Die Geschichte ist ein abscheuliches Gericht, zubereitet mit den besten Zutaten.
     Die turbulenten ersten fünf Jahre des Kongo lassen sich in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase umfasst die Zeit vom 30. Juni 1960 bis zum 17. Januar 1961, dem Tag, an dem Lumumba ermordet wurde. In diesen ersten sechs Monaten stürzte das Kartenhaus des Kolonialstaates ein, und die Kongo-Krise dominierte Woche für Woche weltweit die Nachrichten. Die zweite Phase betraf den Zeitraum 1961-1963 und stand hauptsächlich im Zeichen der Abspaltung Katangas. Sie endete, als sich die aufständische Provinz - nach einer massiven UNO-Intervention - wieder dem Land anschloss. Die dritte Phase begann mit dem Jahr 1964, als im Osten des Kongo eine Rebellion ausbrach, die dann die Hälfte des Landes erfasste. In zähen Kämpfen eroberte die Zentralregierung die Kontrolle über das Territorium zurück. Das Jahr 1965 sollte eine Rückkehr zur Normalität einläuten, endete jedoch unerwartet mit dem Putsch Mobutus am 24. November. Dieser Staatsstreich prägte die weitere Geschichte des Kongo. Mobutu blieb zweiunddreißig Jahre an der Macht, bis 1997. Das war die sogenannte Zweite Republik mit ihrer anfangs straff zentralisierten Regierung, die sich zu einer Diktatur entwickelte.
     Die Erste Republik war durch ein Wirrwarr von Namen kongolesischer Politiker und Militärs, europäischer Berater, UNO-Personal, weißer Söldner und einheimischer Rebellen gekennzeichnet. Vier Namen dominierten jedoch das Spiel: Kasavubu, Lumumba, Tschombé und Mobutu. Zwischen ihnen entspann sich ein Machtkampf, der in seiner Komplexität und Intensität Shakespearschen Königsdramen nicht nachstand. Die Geschichte der Ersten Republik ist die Geschichte eines knallharten Ausscheidungsrennens zwischen vier Männern, die zum ersten Mal das Spiel der Demokratie spielen mussten. Ein unmöglicher Auftrag, umso mehr, da jeder von ihnen von ausländischen Akteuren bedrängt wurde, die ihre Eigeninteressen im Kongo vertraten. Kasavubu und Mobutu wurden hofiert vom CIA, Tschombé war zeitweise ein Spielball seiner belgischen Berater, Lumumba stand unter gewaltigem Druck von Seiten der USA, der UdSSR und der UNO. Der Machtkampf dieser vier Politiker wurde dramatisch verschärft und noch komplizierter gemacht durch das Gezerre aus dem Ausland. Es ist schwierig, der Demokratie zu dienen, wenn mächtige Akteure über einem ständig und oft panikartig an den Fäden ziehen. Außerdem hatte keiner von ihnen zuvor im eigenen Land auch nur einen Tag in einer Demokratie gelebt. Belgisch-Kongo hatte kein Parlament besessen, es existierte keine Kultur institutionalisierter Opposition, sachlicher Auseinandersetzung, Konsenssuche, Kompromissbereitschaft. Alles war von Brüssel aus gelenkt worden, die Kolonialregierung vor Ort war nicht mehr als eine ausführende Behörde gewesen. Meinungsverschiedenheiten waren vor der einheimischen Bevölkerung vertuscht worden, da sie nur dem Prestige der Kolonialmacht geschadet hätten. Der Inhaber des höchsten Amtes, der Generalgouverneur mit seinem weißen, mit Geierfedern geschmückten Helm, glich in seiner scheinbar unantastbaren Allmacht mehr dem traditionellen Herrscher eines feudalen afrikanischen Königreichs als dem Spitzenbeamten einer demokratischen Regierung. Kann es dann erstaunen, dass diese erste Generation kongolesischer Politiker mit den demokratischen Grundprinzipien rang? Und dass sie eher Thronanwärtern glichen, die sich gegenseitig nach dem Leben trachteten, als gewählten Volksvertretern? In den historischen Königreichen in der Savanne war ein Thronwechsel immer mit einem heftigen Machtkampf einhergegangen.
     Ging es denn letztlich nicht darum, wer der Nachfolger von König Baudouin werden durfte? Kasavubu war der erste und einzige Präsident der Ersten Republik. Die Galauniform, die er sich schneidern ließ, war eine exakte Kopie der Uniform Baudouins. In Léopoldville und Bas-Congo konnte er auf breite Unterstützung zählen. Seine Stellung als Staatsoberhaupt war selten offen bedroht, doch 1965 wurde er von Mobutu beiseitegeschoben. Auch dessen Galaanzug kurze Zeit später war dem von Baudouin nachempfunden.
     Lumumbas Machtbasis lag im Osten, mit Stanleyville als Zentrum. Er war der populärste Politiker des Kongo, aber es wurmte ihn, dass er Kasavubu als Präsident über sich dulden musste. Er erlebte nur die ersten sechs Monate der Ersten Republik, doch auch nach seinem Tod beeinflusste sein Gedankengut die Politik in starkem Maße.
     Tschombé fühlte sich noch mehr zurückgesetzt. Seine Partei war bei der Regierungsbildung schlecht weggekommen. Er hatte sich mit dem Amt des Provinzgouverneurs von Katanga in Elisabethville zufriedengeben müssen. Und auch wenn das in Anbetracht der Fläche und der Industrie noch immer so war, als sei er innerhalb eines Vereinten Europas Kanzler der Bundesrepublik Deutschland geworden, musste er akzeptieren, dass sich das Zentrum der Macht woanders befand, in Léopoldville.
     Mobutu schließlich war am Tag der Unabhängigkeit der unbedeutendste der vier: Er war der Privatsekretär von Lumumba. Er hatte keine große Stadt hinter sich wie die anderen drei, geschweige denn ein mächtiges Volk wie Kasavubu (mit den Bakongo) oder Tschombé (mit den Lunda). Er kam aus einem kleinen Stamm ganz im Norden der Provinz Équateur, den Ngbandi, einer peripheren Bevölkerungsgruppe, die nicht einmal eine Bantu-Sprache sprach wie der Rest des Kongo. Mit seinen neunundzwanzig Jahren war er auch der jüngste der vier (Kasavubu war fünfundvierzig, Tschombé vierzig, Lumumba fünfunddreißig). Doch fünf Jahre später war er allmächtig. Er wurde zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten Zentralafrikas und zu einem der reichsten Menschen der Welt. Die klassische Geschichte vom Laufjungen, der es zum Mafiaboss bringt.

Während des ersten Aktes der kongolesischen Unabhängigkeit war Patrice Lumumba die unumstrittene, zentrale Figur. Nach seiner aufrührerischen Rede bei der Zeremonie der Machtübergabe waren alle Augen auf ihn gerichtet. Als sich der Vorhang des kongolesischen Dramas hob, war er ein dynamischer Volkstribun, angebetet von Zehntausenden kleiner Leute. Nur einige Szenen später wurde er bereits verachtet, angespuckt und gezwungen, eine Kopie seiner Rede zu essen.
     Juli 1960. Trockenzeit. Stahlblauer Himmel. Vier Tage dauerten die Festlichkeiten zur Unabhängigkeit. Die Armee, die Force Publique, sicherte wie eh und je die öffentliche Ordnung. Sie war der Fels in der Brandung. Der jetzt unabhängige Kongo hatte nicht gleich Wind in den Segeln - die politischen Institutionen waren zu neu, die politische Erfahrung gleich null, die Herausforderungen gigantisch -, aber die Streitkräfte waren in sich stabil. Das Offizierskorps war noch durchgehend belgisch: Tausend Europäer hatten die Befehlsgewalt über fünfundzwanzigtausend Kongolesen. Oberbefehlshaber war noch immer General Janssens, der Mann, der die Unruhen im Januar 1959 mit harter Hand niedergeschlagen hatte. Ohne Zweifel der preußischste aller belgischen Offiziere, war er ein großer Militär mit rigiden Prinzipien: Disziplin war ihm heilig, Protest eine Abirrung, Unordnung ein Zeichen von Charakterschwäche. Er musste Lumumba als Minister über sich dulden, denn der hatte neben dem Amt des Premiers auch das Verteidigungsressort erhalten. Später würde er über Lumumba schreiben: "Moralische Persönlichkeit: keine; intellektuelle Persönlichkeit: vollkommen oberflächlich; physische Persönlichkeit: aufgrund seines Nervensystems glich er mehr einer Raubkatze als einem Menschen." Hier zeigt sich, wie die Karten verteilt waren. Der Kongo war zwar unabhängig, doch die Belgier hatten neben der Wirtschaft auch den Militärapparat voll und ganz unter Kontrolle.
     Am Donnerstag, dem 30. Juni, knallte das Feuerwerk, am Montag, dem 4. Juli, kam es schon zum Eklat. Als stabiles Land existierte der Kongo nur wenige Tage. Während der Mittagsparade in der Kaserne "Leopold II." verweigerten einige Soldaten den Gehorsam. General Janssens kam hinzu und tat, was er in solchen Fällen immer tat: die aufsässigen Elemente degradieren. Die Wirkung war diesmal genau entgegengesetzt. Am nächsten Tag versammelten sich etwa fünfhundert Soldaten in der Kantine, um ihren Unmut zu äußern. Sie hatten es satt. Schon seit eineinhalb Jahren hatten sie überall Feuerwehr spielen müssen und kleinere Aufstände niedergeschlagen. Nun forderten sie Aufstiegsmöglichkeiten in der militärischen Hierarchie, eine Erhöhung des Soldes und das Ende des Rassismus. Schon kurz vor der Unabhängigkeit hatten sie geschrieben:

     Niemand vergisst, dass in der Force Publique wir, die Soldaten, wie Sklaven behandelt werden. Wir werden willkürlich bestraft, weil wir Neger sind. Wir haben kein Recht auf dieselben Vorteile und Einrichtungen wie unsere Offiziere. Unsere Zweipersonenstuben sind sehr beengt (7,50 m² Fläche) und weder mit Möbeln noch mit Elektrizität ausgestattet. Wir bekommen wenig zu essen, und unsere Verpflegung entspricht bei weitem nicht den hygienischen Vorschriften. Der Sold, den man uns zubilligt, reicht nicht aus, die heutigen Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Wir dürfen keine Zeitungen lesen, die von Schwarzen geleitet werden. Es genügt, ertappt zu werden mit Présence Congolaise, Indépendance, Emancipation, Notre Congo … um auf der Stelle zwei Wochen ins Gefängnis zu wandern. Nach dieser ungerechten Bestrafung wird man in die Strafkompanie in Lokandu versetzt, wo einem das militärische Leben beigebracht wird. (…) In der Force Publique leben unsere Offiziere auf amerikanische Art; sie haben bessere Unterkünfte, sie wohnen in großen, modernen Häusern, die alle von der Force Publique eingerichtet wurden, ihr Lebensstandard ist sehr hoch, sie sind überheblich und leben wie Herren; das alles um des Prestiges willen, weil sie weiß sind. Heute ist es der einmütige Wunsch aller kongolesischen Soldaten, verantwortliche Posten zu bekleiden, einen anständigen Sold zu erhalten und jeder Form von Diskriminierung innerhalb der Force Publique Einhalt zu gebieten.


Um einer so großen Frustration etwas entgegenzusetzen, bedurfte es einer tiefgreifenden Armeereform; für General Janssens war eine solche Reform in den unruhigen Monaten vor und nach der Unabhängigkeit jedoch ausgeschlossen. Der erste Jahrgang kongolesischer Offiziere wurde gerade an der Königlichen Militärakademie Brüssel ausgebildet, und in Luluabourg war eine Schule für Unteroffiziere gegründet worden. In einigen Jahren würden sie ihre Posten antreten können, fürs Erste aber blieb alles beim Alten. Am Morgen des 5. Juli, einem Dienstag, begab sich Janssens in die Leopold-II.-Kaserne und erteilte seinen Soldaten eine unmissverständliche Lektion in militärischer Disziplin: Die Force Publique stünde im Dienste des Landes, das sei so zur Zeit von Belgisch-Kongo gewesen, und das müsse auch jetzt so sein. Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schrieb er mit großen Lettern an eine Schultafel: "Avant l'indépendance = après l'indépendance": "Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängigkeit ". Das war keine gute Idee. Die Soldaten bekamen den Slogan in die falsche Kehle. Sie hatten miterleben müssen, wie kongolesische Beamte von einem Tag auf den anderen hohe Posten in der Verwaltung erhielten und in welchem Ausmaß Politiker von der großen Wende profitierten. Das neue Parlament hatte als eine seiner ersten Amtshandlungen beschlossen, dass die Volksvertreter das Recht auf eine Diät von 500.000 Franc hatten, fast doppelt so viel wie ihre belgischen Kollegen. Schlagartig wurde den Soldaten klar, dass das Fest der Unabhängigkeit für sie nichts in petto hatte.
     Oft wird die Meuterei der Armee mit Lumumbas aufrührerischer Rede erklärt. Aber ob das wirklich stimmt, bleibt dahingestellt, denn die Soldaten waren genauso wütend auf ihre frisch angetretenen Politiker wie auf ihre weißen Vorgesetzten. Sie wollten ihre Wut nicht nur an General Janssens auslassen, sondern auch an Lumumba selbst! In ihren Augen war er weniger ein Held als ein Verteidigungsminister, der selber nie Soldat gewesen war, ein Intellektueller mit elegantem Anzug und Fliege, der sich groß aufspielte, während sich an ihrer Lage trotz aller schönen Versprechungen nichts änderte.

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