Im Kino

Ambivalenz als Grundwert

Die Filmkolumne. Von Robert Wagner, Jochen Werner
23.09.2021. Anders Thomas Jensen pflegt in "Helden der Wahrscheinlichkeit" einen furchtlosen Hang zum Grotesken, der mühelos drei Theoretiker und einen Soldaten in einen Rachefeldzug verstrickt. Philipp Stölzls Verfilmung von Stefan Zweigs "Schachnovelle" kommt nur zu sich, wenn sie aus den Nuancen der Vorlage einen Affekttornado macht.


Markus (Mads Mikkelsen) ist Soldat auf irgendeinem Auslandseinsatz, und just nachdem er seiner Frau Emma am Telefon sagt, dass er seinen Einsatz verlängern und nicht wie geplant nach Hause kommen wird, gerät diese gemeinsam mit der Teenagertochter Mathilde in ein Zugunglück. Emma stirbt, Mathilde lebt, Markus kehrt heim, um sich um seine entfremdete Tochter zu kümmern. Den Krieg und die Gewalt bringt der schweigsame, mitunter jähzornige Soldat jedoch mit sich, und so braucht es auch nicht viel, um ihn für einen brutalen Rachefeldzug zu mobilisieren.

Eines Tages nämlich stehen die nerdigen, frisch gefeuerten Wissenschaftler Otto (Nikolaj Lie Kaas) und Lennart (Lars Brygmann) vor seiner Tür mit einer Theorie: Bei dem Unfall ist ein wichtiger Kronzeuge im Prozess gegen die brutale Rockergang "Riders of Justice" ums Leben gekommen, und Otto, der kurz zuvor Emma seinen Platz im verunglückenden Zug überlassen hatte, glaubt nicht an einen Zufall. Da es sein Fachgebiet ist, mittels stochastischer Berechnungen Algorithmen für die Vorhersage zukünftiger Ereignisse zu entwickeln und so das auszuschließen, was wir gemeinhin als Zufall bezeichnen, kommt Otto rasch zu der Erkenntnis, dass es sich um einen solchen keinesfalls gehandelt haben kann. Und tatsächlich deuten alle Indizien, die er gemeinsam mit Lennart und dem soziopathischen Computerexperten Emmenthaler (Nicolas Bro) sammelt, auf einen gezielten Anschlag hin. Da aber die Polizei nur ungläubig abwinkt, beschließen Otto und Lennart, den hinterbliebenen Markus zu kontaktieren - der auf eine Gelegenheit, seine Trauer durch Gewalt zu verarbeiten, nur gewartet zu haben scheint.



"Helden der Wahrscheinlichkeit", so der deutsche Titel von Anders Thomas Jensens fünfter Regiearbeit, werden diese vier Antihelden nicht geworden sein, wenn der Abspann läuft. Damit ist nicht zuviel verraten - zumindest nicht, wenn man mit dem Kosmos von Jensens Kino vertraut ist. Denn obgleich dieser als Drehbuchautor zahlreicher (nicht nur) dänischer Filme von Dogma95 bis heute ungemein versiert und vielseitig ist und bereits in nahezu sämtlichen Genres reüssiert hat, bewahrt er die finstersten und abgründigsten Stoffe stets für seine eigenen Regiearbeiten auf. Sie bilden ein auteuristisches Œuvre und loten das schwärzeste Schwarz der makabren Komik aus. Sie bestechen durch einen furchtlosen Hang zum Grotesken, der in den schwächeren Filmen immer wieder in bloßen Zynismus und Menschenhass abzustürzen droht. Jensen liebt das Hässliche und seine seelisch und körperlich verstümmelten Protagonisten zwar spürbar - aber dann doch nicht genug, als dass er ihnen nicht mit grandguignolartigem, spielfreudigem Sadismus immer noch Schlimmeres antun würde.

Zur Gewalt und den Traumata, die sie verhandeln, positionieren sich Jensens Filme im Einzelfall durchaus unterschiedlich. Man darf noch mit dem abstoßendsten Widerling in Jensens Universum eine gewisse Solidarität im Beschädigtsein entwickeln - soll aber trotzdem lachen über all die fürchterlichen Dinge, die die Drehbücher ihm obendrauf noch zufügen. Eine Ambivalenz, die sich nie auflösen lässt und die Jensens Regiewerk als roter Faden durchzieht. Während die letzte, 2015 erschienene Regiearbeit "Men & Chicken" tief in ein groteskes, an H.G. Wells und seine Insel des Dr. Moreau erinnerndes Science-Fiction-Universum einstieg, bleibt "Helden der Wahrscheinlichkeit" im Kern bodenständig.

Es geht um traumatische Ereignisse und die Verwüstungen, die sie in den Hinterbleibenden anrichten, um unterschiedliche Formen der Trauerarbeit, um Solidarität und wahlfamiliäre Strukturen. Es geht um die schwierige Akzeptanz von Willkür und Sinnlosigkeit, um Gewaltspiralen, die letztlich ins Nichts laufen, um Rache, für die es kein Zielobjekt gibt. Wie schon in seinem bis dato stärksten Film "Adams Äpfel", zu dem sich thematische Parallelen feststellen lassen, jongliert Jensen inhaltlich mit schweren Gegenständen, die er mit brachialer Gewalt so zurechtbiegt, dass er sie als Komödie erzählen kann. Durch diesen spürbar bleibenden Gewaltakt funktioniert die Komik jedenfalls nie als comic relief oder sonstwie abmilderndes Element. Eher scheint sie die Erzählhaltung selbst gewaltsamer zu machen, ein Spannungsverhältnis herzustellen, das sich nicht auflösen lässt und bis über den Abspann hinaus wirkt.

Helden der Wahrscheinlichkeit" ist ein schwerer Brocken, und das Lachen, sofern es sich überhaupt einzustellen traut, darf und soll im Hals steckenbleiben. Es ist, wie auch die übrigen Regiearbeiten Jensens, ein Film, der durchaus von ganzem Herzen gehasst werden darf, aber es ist definitiv ein Film, zu dem man sich verhalten muss. Das Groteske, Transgressive an ihm versickert nicht wie in den schwächeren Jensen-Filmen in bloßen provokativen Pointen, sondern ist Teil einer Erzählhaltung, die selbst Ambivalenz als Grundwert setzt und darauf besteht, dass alles zusammen und gleichzeitig gefühlt werden darf: Abscheu und Mitgefühl, moralische Empörung und menschliche Solidarität. So gesehen kann man Jensens Filme als Monumente einer radikalen Ambiguitätstoleranz verstehen, und davon kann es gerade heute nicht genug geben.
Jochen Werner
Helden der Wahrscheinlichkeit - Dänermark 2020 - OT: Retfaerdighedens ryttere - Regie: Anders Thomas Jensen - Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygmann, Nicolas Bro - Laufzeit: 116 Minuten.

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In Stefan Zweigs "Schachnovelle" stehen zwei fiktive Biografien nebeneinander. Zuerst bekommen wir die eines Schachweltmeisters erzählt, eines Inseltalents aus einem kleinen Dorf. Danach folgt die eines Notars, den die Nazis nach der Annektierung Österreichs in Einzelhaft nehmen, da er das Vermögen von Adel und Klerus verwaltet und dies ebenfalls annektiert werden soll. Er zieht sich jedoch in seinen eigenen Kopf zurück, in endlose Schachpartien gegen sich selbst. Gerahmt werden die Geschichten durch eine Atlantiküberquerung, bei der die beiden Hauptfiguren aufeinandertreffen. Ihr Zusammensein ist kurz und umfasst kaum mehr als eine vollständige Schachpartie, die allerdings destruktive Potentiale freisetzt. Letztlich belässt es die ebenso flüchtige wie filigrane Erzählung bei einer impliziten Gegenüberstellung.

Philipp Stölzls filmische Interpretation des Stoffes lässt den Schachweltmeister und dessen biografischen Hintergründe größtenteils außen vor und konzentriert sich auf den Notar. Dessen Leben wird zu einer einzigen Konfrontation umgestaltet. Durchweg arbeitet der Film mit Gegensätzen, welche die dramatischen Orte und Situationen grundieren. So herrschen auf dem Schiff beispielsweise kalte, klamme Grüntöne und wärmendes Orange vor - das ist nur das gängigste Beispiel der leitmotivisch operierenden Farbdramaturgie -, während unablässig ein Sturm tobt und der Notar Dr. Bartok (Oliver Masucci) nach einem traumatisierenden Erlebnis Halt zu finden versucht. Nur ist jeder menschliche Kontakt sichtlich eine Herausforderung.

Im Laufe des Films wird die Trennung der Zeitebenen - Einzelhaft hier, Schiffsaufenthalt da - zusehends verwischt. Die Sicherheit der Realität löst sich auf. Der dadurch angezeigte psychische Zusammenbruch führt aber keinesfalls zu einer gleichmachenden Zersetzung. Vielmehr werden alle bisherigen Konfrontationen in einen einzigen riesigen Zusammenprall der Gegensätze und Widersacher zusammengeführt. Der Kampf zwischen Dr. Bartok und dem ihn vernehmenden Nazi (Albrecht Schuch) um die Zugangscodes der von Dr. Bartok verwalteten Nummernkonten wird sich im Duell mit dem Schachweltmeister (auch Schuch) fortsetzen. Final wird eine wilde Parallelmontage alles vereinen und gleichsetzen.

Stölzl und sein Co-Drehbuchautor Eldar Grigorian sind mehr als gewillt, das allgegenwärtige Gegeneinander mit möglichst viel Bedeutung aufzuladen. Der deutsche Dualismus Preußen gegen Österreich taucht ebenso als Baustein auf wie der innere Widerstreit Österreich gegen Ungarn. "Homer" steht groß auf Büchern, die in die Kamera gehalten werden. Das Werk des griechischen Schriftstellers taucht zudem im Dialog auf: Die Versuche, Dr. Bartok die Codes zu entlocken, sollen doch bitte als Kampf um Troja verstanden werden. Und die Schiffsreise auf dem stürmischen Meer als Dr. Bartoks Odyssee Richtung der verlorenen Heimat. Wo Zweig luftig anordnet, ist die Verfilmung darauf aus, vollzustellen und zu überladen.



Am meisten kann Stölzl mit dem Stoff anfangen, wenn er einen filmischen Ausdruck für die Einzelhaft Bartoks zu finden versucht. Wo der Erzähler im Buch geradezu zu erflehen versucht, dass sein Zuhörer ihm verstehe, dass er nachvollziehe, welche Tortur das Nichts war, dem er ausgesetzt wurde, für das er aber kaum Umschreibungen findet, da nutzt der Film unzählige Darstellungsmöglichkeiten. Bartok liegt apathisch da. Ordnet die wenigen Dinge im Raum. Baut Höhlen aus seinem Bett wie ein Kind. Er fleht, weint, erträgt. Die Bilder dokumentieren. Lassen in Überblendungen das Zerfließen der Zeit spürbar werden. Die Zeit wird gerafft und gedehnt. Montagen machen aus dem Kampf gegen die Ödnis ein Karussell. Immer gleiche Abläufe werden in rapider Abfolge gezeigt. Wenn Stölzl Zweig Zweig sein lässt, dann ist er in seinem Element. Wenn sich der Film in energischer Vulgarität dem Wahn preisgibt und dabei nicht nur den Wahn seiner Hauptfigur darstellt, sondern selbst wahnhaft die expressiven Möglichkeiten seines Mediums beschwört.

Diese freudige Überspanntheit des Ausdrucks scheitert jedoch, wenn der Film etwas über den Nationalsozialismus erzählen möchte. Wenn es um Traumata und den Umgang mit ihnen gehen soll. Diese "Schachnovelle" kennt nur einen Modus, den der Übertreibung und des Wahnwitzes. Jeder Versuch einer seriösen, abwägenden Erzählung ist zum Scheitern verdammt. Masuccis Bartok ist entweder selbstsicherer Lebemann oder gleich völliges Wrack. Es gibt kein Dazwischen. Die Nazis sind ein wildgewordener Mob und nette Onkels, die perverse Spiele mit einem spielen. Der Film kennt nur das grelle Klischee. Deshalb ist Schuch mit seinem nuancierten Spiel völlig fehlbesetzt, während Masucci in seiner Körperlichkeit der Richtige am richtigen Ort ist.

Der exaltierte Stil ist Segen und Fluch von "Schachnovelle" zugleich. Zuweilen sind die fürchterlichen Karikaturen von Menschen und Umständen der österreichischen/deutschen Geschichte schwer auszuhalten. Für einen feinfühligen, eleganten Schriftsteller wie Stefan Zweig hätte eine solche Interpretation seines Stoffes vermutlich etwas von einem Affront gehabt. Aber wenn "Schachnovelle" richtig durchdreht, dann ballt sich die Geschmacksunsicherheit des Films zu einer enormen Kraft. Wenn aus den Nuancen der Vorlage einen Affekttornado gemacht wird, dann ist das vielleicht nicht sonderlich geistreich, aber macht schon Spaß.
Robert Wagner
Schachnovelle - Deutschland 2021 - Regie: Philipp Stölzl - Darsteller: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Samuel Finzi - Laufzeit: 110 Minuten.