Vom Nachttisch geräumt

Wir sehen wie in einem Spiegel

Von Arno Widmann
17.03.2016. Der amerikanische Fotograf Matt Henry stellt in seinem Band "Short Stories" Szenen nach, die aus den Siebzigern kommen könnten. Aber die 70er sind auch die 90er, und die 00er, und die 10er.
"Short Stories" heißt der Band mit Aufnahmen des englischen Fotografen Matt Henry. Es ist wichtig zu wissen, dass er Engländer ist, ebenso wichtig ist es zu wissen, dass er 1978 geboren wurde. Wer das nicht weiß, dem könnte es passieren, dass er denkt, er hat einen Fotoband aus den USA der frühen 70er Jahre in der Hand. Es sind nicht nur die Interieurs mit den alten Fernsehapparaten, von denen Nixon auf den Betrachter blickt oder der Redner zwischen einem Kreuz und einem Pferdegemälde, das Pärchen im leeren Kino oder die Kim-Novak-Imitation vor dem Motel, die uns fast ein halbes Jahrhundert zurückversetzen. Es sind auch die Kodakfarben vieler Aufnahmen, die uns in die kalifornische Sonne und das Bild, das man wir uns damals von ihr machten, versetzen. Aber es sind Aufnahmen von heute. Die Bilder vom Protest gegen den Vietnam-Krieg sind gestellt. Szenen einer Vergegenwärtigung. Die nackte Frau, die mit übergeschlagenen Beinen auf einer Couch sitzend auf den Besucher sieht, trägt eine Nixon-Maske aus Gummi. Das ist die Protestästhetik jener Jahre.



Aber unser Unterbewusstsein registriert sofort, dass es sich um nachgestellte Szenen handelt. Dass sie so demonstrativ sind, dass sie alle sagen: Das hat eine Bedeutung, ist so verdächtig nicht. Dies Prätentiöse haben die meisten Bilder, die wir uns von irgendetwas machen. Nein, es liegt daran, dass oft zu viel auf den Aufnahmen ist und zu viel Gleichzeitiges. Das Tonbandgerät neben der Nixon-Frau ist ein altes Tonbandgerät, aber eben aus den Nixon-Jahren. Die Bücher und das Fischnetz, die Schreibmaschine und die Flasche Wild Turkey, alles gleichzeitig. Wer die Aufnahmen von Matt Henry ansieht, der lernt, dass keine Zeit nur ihre Zeit ist.

Aber er lernt auch, dass jede Aufnahme als Teil einer Geschichte gelesen werden kann, als Momentaufnahme aus einem langen Film. Die ersten fünf Fotos zeigen alle Elvis Presley. Man könnte versucht sein, aus ihnen eine Geschichte zu machen und dann weiter, mal mit, mal ohne Elvis. Wenn man sich diesen Spaß macht, ist man dabei, aus lauter Kurzgeschichten den großen amerikanischen Roman zu fantasieren, der den Helden im Sonnenuntergang verschwinden lässt. Geschrieben nach Fotos von Matt Henry aus Brighton.

Matt Henry: Short Stories, Kehrer Verlag, Heidelberg, Berlin 2015, 112 Seiten, 72 Farbabbildungen, Englisch, 39,90 Euro.
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