Vorgeblättert

Claus Christian Malzahn: Deutschland, Deutschland. Teil 3

01.09.2005.
Besonders lustig war es, wenn das 'Neue Deutschland' Meldungen "richtig stellte", die es selbst gar nicht veröffentlicht hatte - weil sie nämlich am Tag zuvor von Westzeitungen, meist der Springerpresse, herausgebracht worden waren. Dass diese Meldungen, die es in der DDR eigentlich gar nicht geben durfte, trotzdem bekannt waren, setzte die SED offenbar voraus. Die Westmedien hätten letztlich "das Meinungsmonopol der SED aufgeweicht und einen wesentlichen Anteil an der friedlichen Revolution in der DDR" gehabt, urteilt der Berliner Historiker Gunter Holzweißig in einem Aufsatz über 'West-Medien im Fadenkreuz von SED und MfS'. Und weil die 'Tagesschau' im Vergleich zur 'Aktuellen Kamera' eigentlich immer in der Vorhand war, weil sie unbequeme Themen nicht ausließ, sondern im Gegenteil betonte, wurden West-Reporter und -korrespondenten, die im Osten recherchierten, schnell ein Fall für Mielkes Firma.
     Doch auch der Einsatz unzähliger Spitzel und politische Tricks konnten nicht verhindern, dass die meisten der etwa 20 ständig akkreditierten westdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin ihre Arbeit ordentlich machten und ein ungeschminktes Bild der DDR lieferten. Hunderte westlicher "Reisekorrespondenten" kamen noch dazu, die ihre Artikel vorher aber mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten abzusprechen hatten. Zwischen 1987 und 1990 bin auch ich einer dieser Journalisten gewesen, die in Ost-Berlin recherchierten - auf eine Anmeldung beim MfAA habe ich allerdings verzichtet, um Informanten nicht zugefährden. Außerdem wollte ich mir nicht in die Karten gucken lassen. Ich schrieb meine Berichte unter Pseudonym. Ich reiste privat ein und besuchte Protestgottesdienste, traf mich in Jugendclubs oder Gaststätten mit Oppositionellen. Die Stasi hätte mich nur mit einem Einreiseverbot an meinen Expeditionen in den Untergrund hindern können. Viele meiner Kollegen bei der 'taz' waren auf diese Weise "verbrannt" worden - ich hatte Glück.
     Das wichtigste deutsch-deutsche Fernsehereignis vor der Live-Übertragung des Mauerfalls fand am 13. November 1976 in Köln statt. Millionen Zuschauer hingen gebannt an den Bildschirmen, als ein Mann mit Schnauzer und in hellblauem Hemd zur Gitarre griff, sang, redete, ein bisschen lachte - und zum Schluss auch ein wenig weinte. Das Kölner Konzert des Liedermachers Wolf Biermann muss nach dem 17. Juni 1953 und dem 13. August 1961 als das zentrale deutschlandpolitische Ereignis der 70er Jahre gewertet werden. Biermann, den die SED in der DDR mit Berufs- und Auftrittsverbot belegt hatte, war eine Tournee im Westen gestattet worden. Er sang vor großen roten Fahnen der IG-Metall, die ihn nach Köln eingeladen hatte. Vor allem die zersplitterte westdeutsche Linke fand den Weg in den Konzertsaal.Biermanns Dichtkunst und brillante Rhetorik einte sie zumindest einen Abend lang.
     Biermann sang als deutscher Linker vor deutschen Linken. Doch wenn man sich das Konzert heute noch einmal anschaut - es ist als Video erhältlich -, stellt man fest, dass hier auch ein DDR-Bürger mit BRD-Bürgern kommunizierte. Entsprechend schwierig gestaltete sich, bei aller Begeisterung des Publikums, manchmal der Dialog zwischen Sänger und Zuhörern. Biermann trat auf die Bühne, zog sich die Jacke aus und holte tief Luft. Massenpublikum war er nicht gewöhnt, Konzerte gab er zu Hause nur in der Wohnung in der Berliner Chausseestraße in Mitte, vor Freunden und Bekannten.

'So oder so, die Erde wird rot' war sein erstes Lied. Schon nach fünf Minuten ging es zur Sache: "Die deutsche Einheit, wir dulden nicht, dass nur das schwarze Pack davon spricht! Wir wollen die Einheit, die wir meinen, so soll es sein, so wird es sein."
     Kein Applaus.
     "Einheit der Linken, in Ost und West, dann wird abstinken die braune Pest! So reißen wir die Mauer ein, so wird es sein, so soll es sein."
     Wieder nichts.
     "Die BRD braucht eine KP!"
     Applaus.

Es dauerte etwas, bis Biermann mit diesem Publikum aus Jusos, Gewerkschaftern, Maoisten, Trotzkisten, Leninisten, Anarchisten, Linkssozialisten, Sozialdemokraten und anderen Querköpfen zurande kam. Für ihn war der Auftritt ein politischer und künstlerischer Drahtseilakt: Er wollte die DDR nicht schönreden, durfte aber auch nicht zu frech werden, weil er ja wieder zurück wollte in den sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Bei aller Kritik an den SED-Bonzen, der Bürokratie und dem vorauseilenden Gehorsam der Gewerkschaften und Massenorganisationen hielt auch Biermann die DDR grundsätzlich für ein legitimes "gesellschaftliches Experiment", das weitergeführt werden müsse. So thematisierte er die Ausreisewelle von Ost nach West und machte sich in seinem Lied über den "kleinen Flori Havemann" aber auch lustig über einen, der "mit seiner derzeit Festen rüber in den Westen" gegangen sei. Er verteidigte den von der SED ins Visier genommenen Schriftsteller Reiner Kunze und protestierte gegen dessen Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband. Biermann betonte aber, "Kunze ist mein Freund, aber nicht mein Genosse". Den Einwand einer jungen Frau, in der DDR würden sich wegen der brutalen Übergriffe der VoPos faschistische Tendenzen breit machen, kanzelte er als "reaktionären Unsinn" ab. Ähnlich argumentierte er, als ein Mann über den Volksaufstand des 17. Juni diskutieren wollte. Davon war bereits die Rede.
     Biermann war als junger Kommunist mit Idealen in die DDR gegangen, nach Köln kam er desillusioniert, aber nicht gebrochen oder als Zyniker. Die Idee des Kommunismus als Glücksverheißung der Menschheit verteidigte er an diesem Abend mit Leib, Seele und Stimme. Vielleicht war Biermann nie so sehr Kommunist wie an diesem Abend. Von diesem Kommunisten, dem am Ende wegen des donnernden Beifalls die Tränen in den Augen stehen, erfahren die Deutschen in Ost und West, wie es um ihr geteiltes Land bestellt ist. Als Zugabe singt der Dichter seine 'Ballade vom preußischen Ikarus' - wohl das beste Gedicht, das je ein Schriftsteller über seine persönliche Zerrissenheit und das geteilte Deutschland gemacht hat:

Da, wo die Friedrichstraße sacht
den Schritt über das Wasser macht
da hängt über der Spree
die Weidendammer Brücke. Schön
kannst du da Preußens Adler sehn
wenn ich am Geländer steh
dann steht da der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht weg - er stürzt nicht ab
macht keinen Wind - und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree.

Der Stacheldraht wächst langsam ein
tief in die Haut, in Brust und Bein
ins Hirn, in graue Zelln
Umgürtet mit dem Drahtverband
ist unser Land ein Inselland
umbrandet von bleiernen Welln
da steht der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht hoch und er stürzt nicht ab
macht keinen Wind und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree.

Und wenn du weg willst, mußt du gehen
ich hab schon viele abhaun sehn
aus unserem halben Land.
Ich halt mich fest hier, bis mich kalt
dieser verhaßte Vogel krallt
und zerrt mich übern Rand
dann bin ich der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dann tun mir die Arme so weh
dann flieg ich hoch, und dann stürz ich ab
mach bißchen Wind - dann mach ich schlapp
am Geländer über der Spree.


Die "verdorbenen Greise" im Politbüro, wie Biermann sie in einem seiner Lieder nannte, fassen den Beschluss, diesen nervenden Dichter und Sänger aus dem Arbeiter- und Bauernparadies zu entfernen. Am 15. November 1976 feierte Biermann in Köln seinen 40. Geburtstag. Am 17. November verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN dann die Meldung: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." Nur drei Tage nach dem Konzert in Köln wurde Wolf Biermann von der herrschenden Klasse in der DDR ausgebürgert. Die SED-Führung glaubte, sich nun endlich ein Problem vom Hals geschafft zu haben, denn Biermanns ätzende Kritik von links hielten sie für viel gefährlicher als die Attacken der Springer-Presse, denen die Altstalinisten mit hohlem antifaschistischen Pathos begegneten. Biermann war deshalb kreuzgefährlich für die SED, weil er an den Sozialismus glaubte - und Honecker & Co. als senile Greise und Bürokraten kritisierte. Eigentlich war es paradox: In Köln hatte der Sänger das Existenzrecht der DDR heftig verteidigt. Doch mit dem Stempel auf seiner Ausbürgerungsurkunde läuteten die SED-Bürokraten, ohne es zu ahnen, ihre eigene Totenglocke. Am Ende dieses rasanten Prozesses stand dreizehn Jahre später der Fall der Mauer.
     Der Sänger war zwar weit weg im Westen, hinter Mauer und Stacheldraht - doch der Fall Biermann in der DDR war damit keineswegs gelöst. Im Gegenteil. "Das Ausbürgern könnte sich einbürgern!", ätzte der Schriftsteller Stefan Heym, wie Biermann ein Kommunist. Er hatte 1935 als verfolgter Jude Nazi-Deutschland verlassen und war ins amerikanische Exil gegangen. In der US-Armee kämpfte er gegen Hitlers Staat und blieb nach Kriegsende in Ostdeutschland und der DDR. Nachdem schon Reiner Kunze - bekennender Nicht-Kommunist - erhebliche Repressionen erleiden musste, fürchteten nun auch kritische, aber DDR-loyale Schriftsteller und Künstler um ihre meist hart erkämpfte Kulturfreiheit. Kurz nach der Ausweisungsverfügung wird folgende Protesterklärung veröffentlicht: "Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter - das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens '18. Brumaire', demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von dem Versuch, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken."
     Neben den Schriftstellern Jurek Becker, Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günther Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf und Erich Arendt unterzeichnet der Bildhauer Fritz Cremer die Erklärung am 17. November 1976, zieht seine Unterschrift aber kurz darauf wieder zurück. In den nächsten Tagen schließen sich mehr als 90 Künstler dem Protest an, darunter der Regisseur und Maler Jürgen Böttcher, die Schauspielerinnen und Schauspieler Jutta Hoffmann, Katharina Thalbach, Manfred Krug, Käthe Reichel, Eva-Maria Hagen, Angelika Domröse, Hilmar Thate, Eberhard Esche, Armin Müller-Stahl, Frank Beyer, die Musiker Gerulf Pannach, Thomas Schoppe, Reinhard Lakomy, Ulrich Gumpert, die Schriftsteller Karl-Heinz Jakobs und Reimar Gilsenbach. Die SED wollte einen unbequemen Sänger loswerden - und hat nun die künstlerische Elite der DDR auf dem Hals.
     Mit Biermanns Ausbürgerung endete das unter Erich Honecker nach dessen Amtsantritt 1971 begonnene "Tauwetter" in der Kulturpolitik. Die Botschaft der SED war eindeutig: An den ideologischen Grundfesten der DDR war nicht zu rütteln. Wer protestierte, bekam Parteistrafen aufgebrummt oder wurde mit Publikationsverbot belegt. Wenig später wurden die Strafandrohungen für Veröffentlichungen in Westmedien drakonisch verschärft. An Stefan Heym, dessen Roman 'Collin' nur im Westen erscheinen konnte, wurde ein Exempel statuiert. Heym wurde 1979 wegen Verstoßes gegen die Devisenbestimmungen zu einer Geldstrafe von 9000 Mark verurteilt. "Sie reden von Devisen, es geht aber um das Wort, um die Freiheit der Literatur", sagte Heym, der zu den Erstunterzeichnern des Protestbriefs gegen die Ausweisung gehört hatte.
     Viele Unterzeichner verlassen nun ebenfalls die DDR. Ausreisebewilligungen sind plötzlich kein Problem mehr - die DDR will Dampf ablassen. Manfred Krug etwa, damals einer der beliebtesten Sänger und Schauspieler der DDR, durfte sogar seine Oldtimersammlung in den Westen mitnehmen. Anderen, wie etwa Krugs Freund, dem Schriftsteller Jurek Becker, wurden großzügige Arbeitsvisa für den Westaufenthalt ausgestellt. Unter den "Rübermachern" sind so bekannte Künstler wie Eva-Maria Hagen, deren Tochter Nina im Westen schnell eine steile Karriere als Rocksängerin hinlegt und die so genannte "Neue Deutsche Welle" musikalisch eröffnet. Die Nörgler sind weg - aber die DDR blutet intellektuell weiter aus. Die kulturellen Hofschranzen des Regimes schicken den Ausreisenden Spott hinterher. Wer "aus sozialistischem Leseland nach Bestseller-Country" ziehe, bewege sich um eine historische Epoche zurück, höhnt der Präsident des Schriftstellerverbandes, Hermann Kant. Er war nun fast allein auf weiter Flur und blieb in seinem dröhnenden Mittelmaß der unumschränkte Schriftstellerkönig der DDR - weil sonst kaum noch jemand da war.

Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Taschenbuch-Verlages

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