Vorgeblättert

Leseprobe zu Christopher Hitchens: The Hitch. Teil 2

19.09.2011.
Von Portugal über Polen nach Argentinien

Rückblickend scheint mir das deutlicher zu sein als damals: ich begann mich ins Reisen zu flüchten. Wie sagte Kavafis doch einmal in anderem Zusammenhang: das war immerhin eine Lösung. Es hielt mich von einem oft nasskalten und zweitklassigen London fern; es ließ in mir einen Entschluss reifen, den ich mir seither zur Maxime zu machen versuchte, nämlich mindestens ein Mal im Jahr etwas Zeit in einem Land zu verbringen, dem weniger Glück beschieden war als dem meinen (was einen nicht davon abhält, fett zu werden, aber zumindest vor Verweichlichung bewahrt); und es ermöglichte mir, die Linke auch weiterhin als die Kraft zu betrachten, der es beim Kampf gegen ihre traditionellen Feinde noch um Erste Prinzipien ging.

Ich wäre indigniert, würde das jemand als »romantisch« bezeichnen - ein Begriff, den wir Internationale Sozialisten besonders verachtenswert zu finden gelernt hatten. Heute denke ich, dass es da vielleicht verwerflichere Begriffe gäbe. Außerdem stimmt, dass mich mein Impuls generell eher in den Süden führte, in den Mittelmeerraum und in die Levante, ausgenommen die eine Solidaritätsreise zur Unterstützung der isländischen Sozialisten, die gerade britische Trawlers daran zu hindern versuchten, ihre gesamten Fischgründe auszurotten (aber auch Island ist auf seine Weise exotisch, bedenkt man die Mondlandschaft und das Heißwassersystem, das sich aus Geysiren speist, die einen ständig präsenten teuflischen Schwefelhauch verbreiten).

Zu den vielen großen Hoffnungen von »1968« hatte auch ein unerledigtes Geschäft aus dem Zweiten Weltkrieg gehört, welches es abzuschließen galt: die Befreiung Spaniens und Portugals von ihren faschistischen Regimen. Aber diese Ambition hatte sich nicht nur nicht verwirklicht, es war sogar noch einem weiteren Volk eine Rechtsdiktatur aufoktroyiert worden, dem griechischen, die sich mit verhängnisvollen Folgen für die unabhängige Republik Zypern ausweitete. Das Drama spielte sich beiderseits der Säulen des Herkules ab: Francos Spanien überreichte der absolutistischen Monarchie in Marokko als Dreingabe seinen Kolonialbesitz Spanisch- Sahara (Westsahara) und beraubte die Bevölkerung damit jeder Möglichkeit, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Und während sich am östlichen Ende des Mittelmeers eine Opposition von jüdischen Israelis gegen die Besatzung Palästinas zu formieren begann, bildete sich im Libanon eine Allianz aus säkularen und palästinensischen Kräften, um der konfessionellen Hierarchie den Kampf anzusagen.

In meinem Gedächtnis ist eine ganze Anthologie lebendigster Bilder aus dieser Zeit gespeichert: ein spontaner Aufstand auf den Ramblas von Barcelona - ausgelöst durch den allerletzten Einsatz der schauderhaften mittelalterlichen Garotte zum Zweck eines gerichtlich verfügten Mordes an einem katalanischen Anarchisten namens Salvador Puig Antich -, bei dem die Demonstranten stolz die verbotene katalanische Flagge schwenkten und Francos Militärpolizei einem Benzinbombenhagel aussetzten; eine Fahrt nach Guernica - ich hatte kaum glauben können, dass es noch einen lebendigen Ort dieses Namens gab -, um mich mit baskischen Aktivisten zu treffen; ein Wochenende im Pariser Quartier Latin, inklusive Telefonaten mit »Codewörtern« und Händeschütteln mit Männern ohne Namen in einer dieser Zinc genannten Eckkneipen, damit ich schließlich einen portugiesischen Widerstandsführer namens Palma Inacio treffen konnte, der gerade einen bewaffneten Kampf gegen die Diktatur in Lissabon vorbereitete; ein paar lange, heiße und von süßen Düften durchzogene Tage in Tyrus, Sidon und im Süden von Beirut, um mich mit Militanten der »Demokratischen Front« zu treffen, die mir dann beim Mittagessen in einem Olivenhain geduldig erklärten, weshalb Juden und Araber unter der äußeren Schale Brüder seien und das eigentliche Problem der Imperialismus sei. Und schließlich stand ich auf dem Freiheitsplatz von Nicosia vor einer tosenden Menge Demonstranten, von denen viele erst jüngst mit dem Gewehr gegen den Versuch der griechischen Junta gekämpft hatten, Zypern zu annektieren, und deren Stimmen auch jenseits der undurchdringlichen Mauer zu hören waren, die die türkischen Invasoren mitten durch die freie Stadt errichtet hatten.

All das gefiel mir, wegen der urgewaltigen Unbesonnenheit (die so gut zu dieser Kombination aus Wein und Raki zu passen schien), wegen der Ernsthaftigkeit - politisches Handeln in diesen Breitengraden ist immer ein Spiel mit dem Ernst -, und wegen dieser so unmittelbaren und intensiven Verbundenheit mit der Geschichte. Die Ramlas hatte ich schon aus Orwells Homage to Catalonia zu kennen geglaubt; und in Algier meinte ich nach meiner Rückkehr von einer Sahara-Expedition an der Seite von Polisario-Guerillas wenigstens einen Stellvertreterblick auf die Fortsetzung des alten Kampfes um die Seele Nordafrikas erhascht zu haben, an dem sich einst auch Camus und Sartre beteiligt hatten. Und was Zypern betraf, in dessen Landschaft und Menschen ich mich so ungemein verliebte - allein schon diese Namen: Famagusta, Larnaka, Limassol, Kyrenia, und dann diese eine, so dramatische und mein Leben verändernde Zypriotin -: hatte denn nicht just die philhellenische Tradition vor über einem Jahrhundert zur Wiederbelebung des britischen Radikalismus beigetragen? (Heute kommt mir das Kotzen, wenn ich höre, wie nachlässig und dumm der Begriff »radikal « auf islamistische Mörder angewandt wird: die schlechthin reaktionärsten Leute der Welt.)

Solche Veränderungen meines Blickwinkels waren eine sehr sinnvolle Sache. Im Norden Europas ging es grob gesagt um den Westen gegen die »Satellitenstaaten« des Ostens. Die illegale Besatzungsmacht auf Zypern war jedoch selbst NATO-Mitglied. Sogar das faschistische Regime Portugals war in der NATO, dito Griechenland, und das spanische System unterhielt seine wichtigste Außenbeziehung zu Washington. Somit war es hier also noch möglich, Kommunisten zu begegnen, deren Kampf unter diesen besonderen Umständen noch Sinn machte und die nicht nur Heldengeschichten vorzuweisen hatten, sondern auch in der Bevölkerung angesehen waren. Auf Zypern hatte ich als Redner bei besagter Kundgebung vor einem Meer aus roten Fahnen die große Ehre gehabt, Manolis Glezos die Hand schütteln zu dürfen, dem Mann, der den Athenern 1944 das Signal für den Aufstand gegeben hatte, indem er auf den Parthenon stieg und die Hakenkreuzfahne herunter riss. Kein schlechtes Tagwerk, wie Sie sicher zugeben werden.

Allerdings erzählte man sich von Genosse Glezos auch, dass er in seinem Athener Buchladen hauptsächlich das Werk von Enver Hoxha vertrieb, dem vermutlich aztekischsten unter den damals noch übrigen europäischen Stalinisten, und ich hatte gewiss nicht das zweite große Versprechen von »1968« vergessen, nämlich Solidarität mit den Dissidenten im »anderen Europa«, mit den Völkern in Ostmitteleuropa, die schon gestrandet und in der Zeit eingefroren waren, seit man auf Jalta die Teilung des Kontinents besiegelt hatte. Für mich persönlich waren die drei wichtigsten Episoden aus dieser Epoche jedoch die revolutionären Bewegungen in Portugal und Polen und die Konterrevolution in Argentinien.

Lusitania

So mediterran es sich auch anfühlen kann, ist Portugal doch das einzige europäische Land, dessen Hauptstadt vom Atlantik umspült wird. Seine staunenswerten Seefahrer trugen die seltsam flektierte Sprache bis ins weit entfernte Ost-Timor und Macao, wiewohl Infante Heinrich »der Seefahrer« in Wahrheit wohl niemals selber an Bord eines Entdeckerschiffes gegangen war.

Sobald es mir nach der portugiesischen Revolution vom April 1974 möglich war, traf ich wie jedermann mit dem Flugzeug ein und wurde geheißen, im Zollbereich zu warten. Stand ich vielleicht auf irgendeiner Liste unerwünschter Personen, wie ich es schon auf so manch anderen Flughäfen hatte feststellen müssen? Eine schlaksige, weißhaarige Amtsperson überreichte mir eine Visitenkarte, die sie als Viera de Fonseca auswies (wie der Name des köstlichen Portweins), und schüttelte meine Hand. Er sei beauftragt, mich ins Hotel eskortieren. Allem Anschein nach war ich ein Ehrengast. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich auf einer Liste erwünschter Personen. Nachdem die Aktenschränke der Salazar/ Caetano-Geheimpolizei aufgebrochen worden waren, hatte man meinen Namen unter den speziellen Feinden des Ancien regime gefunden. Da hatte ich also erwartet, mich glücklich mit meinen Genossen auf dem Boden irgendeiner abgewrackten linken Wohnung aufs Ohr zu hauen, stattdessen sah ich mich in einen ziemlich hohen Stock des Hotels Tivoli auf der Avenida Libertat mit Blick über den hinreißenden Hafen Lissabons befördert. Es war irgendwie viel zu viel, so als ob einem plötzlich die Dividenden einer Investition ausbezahlt würden, die man noch gar nicht wirklich getätigt hatte. Ich beschloss insgeheim, mich daran besser nicht zu gewöhnen.

Der Fall des Faschismus im April 1974 hatte einen fast schon perfekten Sturm an radikalen Begehren in Lissabon ausgelöst. Doch der Sturz der Caetano-Diktatur war nicht nur Teil dieses so lange verzögerten Geschäfts gewesen, Europa vom Faschismus aus der Zeit vor 1939 zu säubern, er war auch eine Art Rache für die Vernichtung der chilenischen Allende-Regierung im vorangegangenen Herbst (am 11. September, um genau zu sein) und zog außerdem noch andere glückliche Umstände nach sich: Nachdem die alte Bande vertrieben worden war, löste sich auch Portugals Griff auf seine afrikanischen Kolonien, was nicht nur die Befreiung von Angola und Mosambik und Guinea-Bissau zur Folge hatte, sondern auch die Beschleunigung des Prozesses, welcher schließlich der rassistischen Herrschaft in Rhodesien und Südafrika ein Ende setzte. Weitere revolutionäre Welleneffekte waren im portugiesischsprachigen Brasilien zu erwarten, dem größten und in so mancher Hinsicht brutalsten autoritären Militärregime am amerikanischen Südkegel, außerdem war sehr wahrscheinlich, dass sich Portugals Revolution demoralisierend - jedenfalls gewiss aus Sicht von Francos militärischen und religiösen Bündnispartnern - auf das benachbarte Spanien auswirken würde. Es hatten sich mehrere Verwerfungslinien vom Epizentrum dieses Lissaboner Erdbebens ausgebreitet und die Gebäude der traditionellen Ordnung ins Wanken gebracht. Und das war erst die politische Ebene. Was das kulturelle Element betraf, so schien es einem hier, als entfalte das Beste von 1968 noch immer seine Wirkung. Ein auslösendes Moment für die Revolution war zum Beispiel die Publikation eines feministischen Manifests dreier Frauen gewesen, die allesamt Maria hießen, und diese »Drei Marias« hatten ein anregendes Beispiel geboten, wozu Frauen fähig sind, wenn sie es mit einer theokratischen Oligarchie zu tun haben, die sie als reine Gebärmaschinen von kaum höherem Wert als bewegliche Güter behandelte. In der Öffentlichkeit war alles, was mit Sexualität zu tun hatte, so lange unterdrückt worden, dass es nun wie eine Windböe aufwirbelte. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang vor allem an die einzige Bewegung, die auch etwas Satirisches an sich hatte: das »Movimento de Esquerda Libidinosa« oder die »Bewegung der libidinösen Linken«, deren Slogan Somos um partido sexocratico lautete und die es sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, fieberhaft verlorene Zeit gut zu machen. Das beste revolutionäre Poster - vielleicht das beste, das ich überhaupt je zu Gesicht bekam - brachte diesen Gedanken allerdings auf eher unerotische Weise zum Ausdruck. Es zeigte eine ärmliche portugiesische Familie in traditioneller Kleidung, die einem Empfangskomitee ihrer neuen Freunde vorgestellt wird, darunter Sokrates, Einstein, Beethoven, Spinoza, Shakespeare, Chaplin, Armstrong, Marx und Freud. (Viele Leute in wesentlich reicheren Ländern schieben diese Begegnung bis heute auf.)

Portugal unter dem Faschismus war nicht nur eine Kolonialmacht gewesen, es hatte sich quasi auch selbst zu einer Kolonie entwickelt, deren Hauptexportgut ins restliche Europa billige Arbeitskraft war und deren Analphabetenrate bei rund 30 Prozent lag. Die Folge war eine eklatante Aufspaltung des Landes in eine Klasse der Bosse, eine Klasse der Offiziere und in eine des Fußvolks. Das Erstaunlichste bei den Massendemonstrationen auf der Avenida Libertad und dem Praça do Rossio waren die Gruppen uniformierter junger Matrosen und Soldaten, die sich zu den Arbeitern und Studenten gesellten - aus meinem Blickwinkel eine fast ungeschnittene Wiederholung der Szenen von der Erstürmung des Winterpalasts aus Panzerkreuzer Potemkin. Als ich meine Tränen getrocknet hatte, konnte ich noch andere Parallelen zu St. Petersburg erkennen.

1968 war die verknöcherte Kommunistische Partei Frankreichs vom revolutionären Gärungsprozess völlig überrascht und buchstäblich gezwungen worden, sich de Gaulles Linie anzuschließen, teils, um ihre Position als Parti de l?Ordre nicht zu gefährden, teils, um der sowjetischen Anweisung nachzukommen, das NATOund USA-feindliche Regime der Gaullisten so unbehelligt wie nur möglich arbeiten zu lassen. In Portugal waren keine solchen Hemmnisse im Spiel gewesen, dort war die alte Ordnung unwiederbringlich wie Atemhauch von der Rasierklinge verflogen und es zu einem guten alten Machtvakuum gekommen: zur typischen Lage einer »Doppelmacht«, wie wir auf unseren Gruppensitzungen zu sagen pflegten. Arbeiterkomitees bildeten embryonale Räte, Soldaten- und Matrosenkollektive brachten ganze Regimenter und Schiffe unter ihre temporäre Kontrolle, besitzlose Landarbeiter übernahmen verwaiste Höfe und Ländereien. Zwei Dinge waren bei dieser ganzen Sache bemerkenswert. Erstens, dass kaum ein Schuss fiel: die Portugiesen mögen ein beträchtliches Maß an Gewalt übers Meer nach Afrika exportiert haben, doch im eigenen Land waren die Rhythmen - im Vergleich zu beispielsweise dem benachbarten Spanien - außergewöhnlich sanft (sogar der Stier wird bei der Corrida weder gefoltert noch getötet, die Forcados sollen nur ihre Agilität und Tapferkeit vor dem edlen Tier unter Beweis stellen). Zweitens galt es zu beachten, dass sich hinter all dieser Spontaneität, Erotik und dieses allgemein so fröhlichen »Festivals der Unterdrückten« ein todernster kommunistischer Apparat mit grimmigem Antlitz bereit machte, der ganzen Ausgelassenheit ein Ende zu bereiten und tiefernst die Macht im Staat zu ergreifen.

»Die UdSSR ist die Sonne in unserem Universum«, proklamierte Alvaro Cunhal, Führer der portugiesischen Stalinisten, der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, um diese Operation zu lenken. Die Taktiken ähnelten mehr den Methoden des kommunistischen Umsturzes von 1948 in Prag als denen von 1917 in St. Petersburg: eine graduelle Übernahme von Schlüsselpositionen bei Armee und Polizei, und eine »Salamitaktik« gegenüber den anderen Parteien. Und da die Sozialistische Partei Portugals den Rückhalt der Bevölkerungsmehrheit genoss, war es auch kein Zufall, dass Republica, eines ihrer wichtigsten Organe, zum Ziel einer »spontanen« Übernahme durch kommunistische Drucker und Setzer wurde, deren Gewerkschaftsbosse diese Aktion unterstützten, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ebenso wenig Zufall war, dass die Gewerkschaft der Chemiearbeiter, die eine latente sozialistische Mitgliedermehrheit besaß, ein eigenartiges Zögern unter ihren kommunistischen Funktionären feststellen musste, als es darum ging, eine Urabstimmung abzuhalten. Die Notverstaatlichung der Banken bot - angesichts eines Staates, der zuvor korporatistisch und monopolistisch gewesen war - der »neuen Klasse« von Bürokraten die Chance, Besitzer von großen Tranchen Afrikas und Inhaber von Vorstandssitzen bei Zeitungen und Fernsehsendern zu werden. Mario Soares, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei und ein Mann, den ich unter normalen Umständen als einen blassen und kompromissbereiten Sozialdemokraten betrachtet hätte, brachte die Lage einmal ziemlich markant auf den Punkt. Die Frage, die er mir stellte, findet sich doppelt unterstrichen in meinem Lissaboner Notizbuch: »Wenn die Armeeoffiziere wirklich so sehr auf Seiten des Volkes stehen, warum ziehen sie sich dann keine Zivilkleidung an?« Das war eine Frage, die sich nicht nur für diesen Moment stellte.

Ich war extrem niedergeschlagen angesichts der Unfähigkeit - oder war es eine Weigerung? - meiner Genossen von den Internationalen Sozialisten, wahrzunehmen, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte. Berauscht von den zugegeben sehr bewegenden Versuchen der persönlichen Befreiung und einer gesellschaftlichen »Selbstverwaltung« konnten oder wollten sie nicht erkennen, wie viel dabei von dieser trostlos konformistischen Sekte manipuliert wurde, deren ultimative Treue der Sowjetunion galt. So fand ich mich also eines Abends Ende März 1975 mitten in einer riesigen Kundgebung in der Lissaboner Stierkampfarena Campo Pequeno wieder, die von einer sichtlich zaghaften Sozialistischen Partei organisiert wurde, allerdings mit der erfrischenden Parole Socialismo Sim! Ditadura, Não! Die Arena war ein einziges Meer aus roten Fahnen, und welche Parolen auch skandiert wurden, immer waren sie ein Echo dieses einen Slogans. Da gab es den Ruf nach einem Stimmrecht für die Chemiearbeiter, ein Banner mit der Aufschrift »Nieder mit dem Sozialfaschismus«, und eines, in dem sich fast perfekt meine eigene Meinung über ausländische Interventionen in Portugal spiegelte: Nem Kissinger, Nem Breschnew! Ich wurde von meinem alten Freund Colin MacCabe, zu dessen zahlreichen Sünden auch seine damalige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zählte, zu dieser Veranstaltung begleitet. Im Angesicht des Geschehens vor seinen Augen bediente er sich denn auch prompt höhnisch einer alten maoistischen Parole - »die rote Fahne schwenken, um die rote Fahne zu bekämpfen«. Doch allmählich schien es sogar auf ihn Eindruck zu machen. Während der Abend seinen Lauf nahm, ging Colin sogar so weit zu sagen: »Manchmal kann das falsche Volk den richtigen Weg einschlagen.« Damals glaubte ich, dass er damit schon mehr gesagt habe als beabsichtigt, und empfand diese Bemerkung wie eine Art Befreiung von der Sorge, die noch immer gelegentlich an mir nagte, nämlich dass ich, mit meiner Abweichlerposition, mich schließlich mit unappetitlichen »Bettgenossen« im Bunde finden könnte. Es ist gut, wenn man diese Art von moralischer Erpressung oder solche geistigen Fesseln so früh als nur irgend möglich im Leben abwerfen kann.

Der Bericht über das weitere Geschehen in Portugal nimmt kaum Zeit in Anspruch: Die Kommunisten und ihre ultralinken Verbündeten übertrieben es so hoffnungslos, als sie aus den Kasernen heraus einen Coup lancieren wollten, dass sich die traditionelleren, ländlichen und religiösen Elemente der portugiesischen Gesellschaft indigniert zu einer Konterrevolution erhoben und wieder eine Art von Gleichgewicht herstellten - e finita la commedia. Die jungen Radikalen, die aus ganz Europa zu ihrem Fest aus Sex und Sonne und Antipolitik angereist waren, klappten ihre Zelte zusammen, legten ihr Narrenkleid ab und fuhren nach Hause. Der letzte Vorhang nach dem letzten Akt im Stil von 1968 war gefallen, und damit verschwanden auch solche Parolen wie »Betrachtet eure Wünsche als Realität«, oder die Vorstellung, dass Arbeit ein Spiel sei. Für mich war damit auch die Endstation bei meiner alten groupuscule erreicht. Während die alten, aufgeschlossenen International Socialists allmählich zu einer Sekte verkommen waren, die immer mehr auf Parteilinie getrimmt war, hatte ich viele Meinungsverschiedenheiten mit ihnen ausgetragen, aber Portugal brachte für mich das Fass zum Überlaufen, weil es mich zu verstehen lehrte, was ich wirklich dachte, nämlich dass Demokratie und Pluralismus etwas Gutes an sich, der Endzweck selbst, und kein Mittel zu einem anderen Zweck sind.

Conor Cruise O?Brien hatte es in seiner superben Essaysammlung Writers and Politics - die mich ungemein beeinflusste, seit ich sie 1967 in einer öffentlichen Bibliothek in Devonshire entdeckt hatte - besser formuliert, als ich es damals gehofft haben könnte:

»Sind Sie Sozialist?«, fragte der afrikanische Führer.
Ich sagte, ja.
Er blickte mir in die Augen. »Die Leute haben mir erzählt«, sagte er leichthin, »dass Sie ein Liberaler sind «
Diese Aussage in diesem Kontext erforderte ein Dementi. Ich sagte nichts.
Und doch, als ich von meinem Interview mit dem Führer nach Hause fuhr, musste ich mir eingestehen, dass ein Liberaler, ein unverbesserlicher, genau das ist, was ich war. Was immer ich auch hätte einwenden können, so fühlte ich mich den liberalen Freiheitsbegriffen - Redefreiheit, Pressefreiheit, Freiheit von Forschung und Lehre, unabhängige Gerichte und unabhängige Richter - doch wesentlich tiefer verbunden als der Idee von einer disziplinierten Partei, die alle Kräfte der Gesellschaft zum Zweck der Erschaffung einer Sozialordnung mobilisiert, welche allen, nicht nur einigen wenigen, mehr reale Freiheit garantiert. Die revolutionäre Idee schien mir für den größten Teil der Menschheit unmittelbarer relevant zu sein als die liberalen Konzepte. Aber es waren die liberalen Konzepte und ihre langfristige Bedeutung - wenngleich nicht der Name »liberal« -, denen ich mich zugehörig fühlte.

Man kann solche Dinge lesen und verstehen und sogar gut heißen, oder man kann sich selbst auf Erfahrungen einlassen, die einem solche Ursprungstexte bestätigen. Ich zitiere O?Brien hier nicht im Sinne einer Autorität, denn im Laufe der Jahre sollte ich viele Dispute mit ihm austragen, sondern als einen Mann beträchtlichen Geistes, der brillant die Widersprüche auf den Punkt brachte, mit denen ich gelebt hatte und mit denen zu koexistieren ich in vieler Hinsicht noch eine ganze Weile verurteilt war.

zu Teil 3