Magazinrundschau

Wenn du high bist

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.02.2022. Die London Review liest erschüttert die Erinnerungen Aziz BineBines an seine Haft in dem marokkanischen Foltergefängnis "Tazmamart". Im Guardian erklärt der amerikanische Historiker Daniel Immerwahr, warum wir trotz Klimakrise weniger Waldbrände haben als je zuvor in der Geschichte. Das Comics Journal würdigt den verstorbenen Zeichner Jean-Claude Mézières. Der New Yorker porträtiert das brasilianische Musikgenie Caetano Veloso.

New Yorker (USA), 21.02.2022

Jonathan Blitzer zeichnet ein wunderbares Porträt des brasilianischen Musikers Caetano Veloso, der die Militärdiktatur der Siebziger überlebte, heute gegen Bolsonaro kämpft, mit einer 13-Jährigen liiert war, die er später heiratete, und nebenbei immer wieder die brasilianische Musik revolutionierte: 1967, als die Linke gegen den "Imperialismus der E-Gitarre" protestierte, verschmolz er brasilianischen Folk mit britischem Rock. Er arbeitete mit Country-Sängern, Carioca-Rappern und Hip-Hop-DJs zusammen. In den 00er Jahren, nach der Trennung von seiner Frau und einem persönlichen wie künstlerischen Tief erfand er sich in Neapel, wo ihm sein Freund Pedro Sá Musik von Wilco, den Pixies, und einer Funkband aus New Orleans namens The Meters vorspielte, noch einmal neu: "Veloso beschloss, seine Musik radikal zu vereinfachen. Er gab die ausladenden, offenen Arrangements seiner früheren Werke auf, die eine große Anzahl von Begleitern in verschiedenen Stilen erforderten. Stattdessen spielte Sá die E-Gitarre, während Veloso zwischen elektrischer und akustischer Gitarre wechselte. Sie holten einen Schlagzeuger und einen Bassisten hinzu, der auch das Keyboard spielte. Die Gruppe, die Banda Cê genannt wurde, war wie eine ausgeklügelte Garagenband: Sie spielte straffe, kantige Melodien mit Verzerrungen, Rock-Vamps und beschleunigten Rhythmen. 'Eine Samba-Parade hatte sich in eine Schlägerei verwandelt', schrieb ein Kritiker in der Times und fügte hinzu, dass die Musik 'einen kühleren, erwachseneren Epilog zu den Schocks von Tropicália suggerierte'. Im Gegensatz zu Tropicália war Banda Cê jedoch ein Triumph für die Kritiker. 'Das Coolste, was es damals in Brasilien gab, war Banda Cê', sagte mir der Musikjournalist Leonardo Lichote. 'Diese Jungs waren wie die Unberührbaren. Caetano trug eine Jeansjacke und ein lila T-Shirt. Eine jüngere Generation fing an, ihm zuzuhören, und fand dann Gefallen an seiner ganzen Musik'. Veloso war vierundsechzig Jahre alt.

Tanzen kann er übrigens auch:



In einem ebenfalls sehr lesenswerten Artikel stellt Alexis Okeowo die Porträts vor, die die Dichterin Warsan Shire in einer Mischung aus Lyrik und Reportagen von Somalis im Exil gemacht hat: "An einem regnerischen Tag in London um 2013 schaltete die Dichterin Warsan Shire ein Diktiergerät ein, als ihr Onkel über seine Jugend in Somalia, sein Leben als Flüchtling und seine Sucht nach dem bitteren Aufputschmittel Khat sprach. ... Er sagte ihr: 'Wenn du high bist, ist es, als würdest du mit deinen Worten und deinen Träumen diese riesigen Türme bauen, was du morgen tun wirst, wie du dein Leben in Ordnung bringen wirst. Und dann geht die Sonne auf, und die Türme sind umgefallen. Und das machst du jeden Tag und kommst nicht weiter, weil du dich ständig selbst belügst.' ... Ein Großteil von Shires Gedichten befasst sich mit den Erfahrungen von Immigrantinnen. In den letzten Jahren war sie jedoch immer neugieriger auf das Innenleben der Männer in ihrer Familie geworden. 'Es gab immer eine Sache, die ich an einigen der Männer, mit denen ich aufgewachsen bin, besonders traurig fand', sagte sie mir. 'Sie trugen diese Anzüge, die ein bisschen zu groß waren und über die Handgelenke hingen, und sie sahen aus wie kleine Jungs, die sich verkleiden, um zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen, bei dem sie niemals angenommen werden würden. Irgendwie erinnerte mich das auch daran, wie sinnlos sich ihr Leben in dieser neuen Welt anfühlen muss. Sie passen nirgendwo hin.'" Shires erster Gedichtband "Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head" wird im März erscheinen. Bei Lyrikline kann man einige ihrer Gedichte lesen und hören.

Weiteres: Margaret Talbot spürt in einer epischen Reportage nach, ob die konservativ-katholische Amy Coney Barrett, von Trump ernanntes jüngstes Mitglied des Supreme Court, helfen wird Roe vs. Wade zu kippen, das Abtreibungen für legal erklärte. Die Schriftstellerin Miriam Toews erzählt von ihrer Familie in Winnipeg. Parul Sehgal liest Sheila Hetis neuen Roman "Pure Colour". Carrie Battan hört psychedelischen Pop von Beach House. Anthony Lane sieht Joachim Triers Film "The Worst Person in the World" und Peter Schjeldahl besucht eine Ausstellung mit Skulpturen von Charles Ray im Met Museum.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 07.02.2022

Jeremy Harding liest Erinnerungen Aziz BineBines an seine Haft im Foltergefängnis "Tazmamart" und reiht sie in die lange Geschichte der Überwachung und Repression in Marokko unter König Hassan II: "Aziz BineBines Buch über seine achtzehnjährige Inhaftierung ist ein intimer Erinnerungsbericht, der uns dennoch zwingt, über die Gefängnistore hinaus ein Jahrhundert der Unruhen in Marokko und die Entstehung der Kerkerkultur zu betrachten, der er zum Opfer fiel. BineBine war in Tazmamart inhaftiert, einer abgelegenen Einrichtung am Rande der Wüste. Er ist einer der wenigen Überlebenden von Tazmamart, die ihre Erfahrungen schriftlich festgehalten haben: Fast alle waren wie BineBine Soldaten oder Angehörige der Luftwaffe, die sich dem König entgegengestellt hatten. Tazmamart wurde 1973 eröffnet, um etwa sechzig Straftäter unterzubringen, von denen weniger als die Hälfte 1991 wieder auftauchte. Die übrigen starben dort, ohne Bewegung, Licht, essbare Nahrung, sauberes Wasser, Kleidung und Bettzeug, medizinische Versorgung und Rechtsbeistand. Sie verbrachten ihre Tage in unbeleuchteten Betonzellen mit Stahlgitterdecken. Über dem Gitter befand sich ein Dach aus Wellblech. Die 2,5 mal drei Meter großen Zellen waren von Ungeziefer befallen, auch Skorpionen. Im Sommer herrschten hohe Temperaturen, im Winter Kälte unter Null. Gelegentlich, so erinnert sich BineBine, ging man auf den sandigen Hof, um Kameraden zu begraben: ein kurzes Beten des Salat al-Janazah, ein verwirrender Blick in den Himmel und dann zurück in den Kerker, während die Wärter Branntkalk auf die flachen Gräber streuten."

Ein wenig verspätet, aber sehr ausführlich huldigt der Autor Jonathan Lethem seinem Science-fiction Vorbild Stanislaw Lem. Dessen große Romane - "Solaris", "Die Stimme des Herrn", "Fiasco" - haben Lethem zufolge der Suche nach Leben im All das Heroische genommen und als Zeugnis nihilistischer Eroberungswut entlarvt. Aber auch Lems Essays zeigen noch immer Durchschlagskraft, findet Lethem: "Als höchst ambitionierter Allesdenker scheut er sich nicht, Hegel abzutun ('ein totaler Idiot'), 'Die Enden der Parabel' ('ein völlig alberner Blindgänger') oder den Buddhismus ('ein furchterregender Anachronismus an Lehren und Unterweisungen'). Seine 'Summa Technologiae', ein sintflutartiges Magnum Opus des Futurismus und der spekulativen Philosophie, das er in seinen Wunderjahren zwischen 1961 und 1964 schrieb, wurde 2013 endlich auf Englisch veröffentlicht... Das Buch nimmt, unter anderem, Donna Haraway, Richard Dawkins, Timothy Morton und ganze Regale von Cyberpunk-Literatur und objektorientierter Ontologie vorweg."

Guardian (UK), 03.02.2022

Der amerikanische Historiker Daniel Immerwahr blickt auf die verheerenden Waldbrände und Buschfeuer, die in den vergangenen Jahren Australien oder Sibirien heimsuchten und stellt fest, dass auch in der Klimakrise der Planet nicht "in Flammen aufgeht". Die Wahrheit sei komplizierter, meint er: "Feuer hat einen langen und produktiven Platz in der Geschichte der Menschheit, aber es gibt jetzt weniger als jemals zuvor seit der Antike. Wir verdrängen das Feuer aus dem Land und aus unserem täglichen Leben, wo es einst ständig präsent war. Aus der einst harmonischen Beziehung zwischen Mensch und Feuer ist eine feindliche geworden. Heute wüten weniger Brände, aber die, die übrig sind, sind gewaltig. Unsere Pyrolandschaft ist aus den Fugen geraten, das Feuer nimmt neue Formen an, sucht neue Orte auf und verzehrt neue Brennstoffe. Die Ergebnisse sind ebenso verwirrend wie beunruhigend, und unsere Instinkte sind dabei schlechte Ratgeber. Obwohl wir oft von Bränden in reichen Gegenden wie dem Süden Australiens und dem Westen der USA hören, fordern Brände dort, wo arme Menschen leben, wie in Südostasien und Afrika südlich der Sahara, mit Abstand die meisten Opfer. Die tödlichsten Brände sind nicht die größten und spektakulärsten, sondern die kleineren, regelmäßigen Brände, über die die internationalen Medien selten berichten. Sie töten eher durch Rauch als durch Flammen, und ihre Hauptursache ist nicht die globale Erwärmung. Viele werden sie durch die von Unternehmen betriebene Landrodung entfacht."
Archiv: Guardian

The Atlantic (USA), 01.02.2022

Muslimische Länder sind vielfältig und zerstritten. Aber wenn es um manche hehre Anliegen geht, sprechen sie zuweilen mit einer Stimme, etwas wenn Israel für seine "Apartheidspolitik" gegeißelt wird oder der Prophet gegen die Karikaturen von Charlie Hebdo in Schutz genommen werden muss. Bei den Olympischen Spielen aber bleiben sie stumm - die chinesische Unterdrückung und kulturelle Gleichschaltung der Uiguren kritisieren sie nicht, ein Boykott der Spiele kommt erst recht nicht in Betracht, konstatiert Yasmeen Serhan in Atlantic: "Die Tatsache, dass muslimische Führer die Not der Muslime in China geflissentlich ignorieren, ist ein Beweis für den wachsenden Einfluss Pekings. China ist einer der wichtigsten Handelspartner vieler Länder mit muslimischer Mehrheit und, was für die Golfstaaten von entscheidender Bedeutung ist, der Hauptabnehmer von Öl aus dem Nahen Osten. Im Rahmen seiner Seidenstraßeninitiative hat China Milliarden von Dollar in Infrastrukturprojekte in der gesamten muslimischen Welt investiert. Damit hat die chinesische Regierung nicht nur ihren Einfluss gesichert, sondern auch ein Druckmittel erworben."
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 02.02.2022

Anlässlich seiner Ausstellung "Atlanten" spricht der bildende Künstler Gábor Gerhes im Interview mit Kriszta Dékei über den Verlust der Autorität und Authentizität des institutionalisierten Wissens: "Weil wir indirektes Wissen für unser eigenes halten, und freilich auch dadurch, dass durch das Internet die Wissensmöglichkeiten grenzenlos geworden sind, rutschen wir sehr leicht in eine Situation, in der wir nicht mehr abgrenzen können, wo die Wirklichkeit beginnt und wo sie endet. Was wir jetzt erlangen ist nicht linear, sondern entzweiend: man bemerkt, dass das, wonach man vor zwei Tagen oder vor fünf Minuten suchte, nicht mehr interessant ist. Die Grenzen der Disziplinen verschwimmen und verbinden sich amöbenartig. Sicherlich soll der Zugang zum Wissen demokratisiert werden, und jeder soll sein eigenes finden, doch kann sich jetzt plötzlich jeder selbst zum Virologen, Nachrichtenlieferanten oder Influencer ernennen. (...) Eine relevante Frage unserer Gegenwart ist, was Wissen genau bedeutet. Die 'Atlanten' waren ursprünglich bebilderte Enzyklopädien, sie sollten das existierende Wissen im Streben nach Vollkommenheit visualisieren. Und weil es sich in meinem Falle nicht um ein wissenschaftshistorisches Abenteuer handelt, sondern es um ein künstlerisches Projekt, kann ich mir Ausflüge in seltsame, frei interpretierbare, sumpfige Gebiete erlauben."

Hier ein Blick in die Ausstellung:

Archiv: Magyar Narancs

The Comics Journal (USA), 26.01.2022

Von den deutschen Feuilletons ist der Tod des französischen Comiczeichners Jean-Claude Mézières nur vereinzelt wahrgenommen worden. Dabei ist er neben Moebius (mit dem er gemeinsam eine Kunstschule besuchte und im engen Austausch stand) und Enki Bilal einer der Wegbereiter des gegenkulturell geprägten, französischen Science-Fiction-Comics, wie er sich zum Beispiel im legendären Comicmagazin Métal Hurlant entfaltete. Seine gemeinsam mit seinem Jugendfreund Pierre Christin noch für René Goscinnys Magazin Pilote gestaltete Serie "Valerian und Veronique" (letztere heißt im Original Laureline) präsentierte ein schillernd-farbenfrohes Universum, bei dem sich auch ein gewisser George Lucas wohl ziemlich zupackend bedient haben dürfte. Aus Anlass von von Mézières Tod hat Gary Groth ein großes Interview aus seinem Archiv geholt, in dem der Zeichner offen und detailliert über seinen Werdegang, seine Arbeit, seine Allianzen mit anderen Zeichnern und seine Kritik am lediglich an Muskelspielen interessierten US-Comic spricht. Sein "Valerian" war aus dem Geiste der Sechziger subversiv angelegt, erzählt er: "Von Anfang an war das bewusst eine politische Geschichte. Wir wussten zwar nie, was wir wollten, aber wenn eines klar war, dann, was wir auf keinen Fall wollten: Wir wollten keinen Helden, keinen Retter der freien Welt, keinen Mann, der gegen die Schurken kämpft, und auch keine Schurken. ... Er war ein Beiwohner. Valerian wohnte immer irgendeiner abgefahrenen Sache bei, bei der er ein bisschen mitmischen würde, ohne sich je vollkommen sicher zu sein, auf welche Art dies geschieht. Und Veronique hatte dazu die meiste Zeit eine völlig andere Meinung. Wie Veronique als Persönlichkeit angelegt war, wurde im Laufe immer wichtiger, weil sie so eine starke Gegenfigur zu Valerians Aktionen war. ... Wie gesagt, es war nur ein Experiment: Wir schufen einen Helden, der wenig heldenhaft war."