Vom Nachttisch geräumt

Von tränenreichen Menschenschlächtern

Von Arno Widmann
18.12.2017. Mit Musik, Tränen und Versen in den Heiligen Krieg: Thomas Hegghammer zeigt die "Jihadi Culture".
Thomas Hegghammer ist ein norwegischer Terrorismusforscher. Mitte des Jahres hat er einen Sammelband mit Beiträgen verschiedener Wissenschaftler zum Thema Dschihad-Kultur herausgebracht. Dschihad-Kämpfer treten in unseren Medien fast ausschließlich als Kulturvernichter auf. Wir tun so, als seien sie vor allem mit Zerstörung beschäftigt. Das ist nicht nur falsch, was ihr Interesse am Koran, am Handeln des Propheten angeht, sondern übersieht auch die immense kulturelle Produktion, die den Hauptteil ihrer Propaganda ausmacht. Ganz abgesehen davon, dass auch die bekanntesten Dschihad-Kämpfer viel Zeit auf Lyrik und Gesang (oder auf ihr Aussehen) verwenden.

Osama bin Laden zum Beispiel schrieb Gedichte und tauschte sich - das stellten die US-Streitkräfte fest, als sie seine Funk- und Handyverbindungen hackten - mit Kollegen intensiv über Versmaße, Strophenformen und Verwandtes aus. Bei ihren Forschungen stellten Hegghammers Wissenschaftler fest, dass Dschihad-Kämpfer Gedichte lieben, dass sie über ihre Träume sprechen und gerne zusammen weinen. Abu Musab az-Zarqawi, der frühere Al-Kaida-Chef im Irak, hatte zwei Beinamen: 'der Schlächter' und 'der, der viel weint'.

Wer Schillers "Der König hat geweint" aus Don Carlos im Ohr hat, der sieht den gewaltigen Abstand zwischen dem, was ein deutscher Dramatiker des 19. Jahrhunderts als Ausdruck innerster Erschütterung auf die Bühne brachte, und der offenbar geradezu enthusiastischen Tränenflut, zu der die jungen Selbstmordattentäter zusammenkommen. Die Anlässe sind unterschiedlich: Das Leid, das der Westen seit Jahrhunderten der muslimischen Welt antut, ein Hadith Mohammeds, eine Liedzeile. Nicht überliefert ist, dass sie die von ihnen niedergemetzelten Frauen und Männer beweinen. Da halten sie es offenbar mit Himmlers Posener Rede vom 4. Oktober 1943: "Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."

Wer glaubt, Brutalität und Sentimentalität seien Gegensätze, den belehren die Beiträge dieses Buches eines Besseren. Opfer zu sein, ist ein wesentlicher Stachel bei der Arbeit, ein Täter zu werden. Wo das Dasein selbst nicht schlimm genug ist, um in der Aggression den einzigen Ausweg zu erkennen, da hilft die Arbeit am Bewusstsein - nichts anderes ist Kultur - weiter. Das wissen die Befeurer der Religions- so gut wie die der Klassenkriege. Interessant sind die Beiträge, weil sie deutlich machen, dass das jeweils wirkungsmächtigste Gemisch von Mitleid und seiner gewalttätigen Verneinung immer neu herausdestilliert werden muss. Ich weiß nicht, ob John Wayne in auch nur einer einzigen seiner vielen Rollen als Westernheld geweint hat. Das Männlichkeitsideal, das er in ein Millionenpublikum hineinprojizierte, schloss Weinen aus. Die Empfänglichkeit für fremdes Leid mied die Wege über die Tränendrüsen. Ganz anders der Dschihadismus. Die tränenreiche Beschwörung vergangener Schmach ist nicht nur die Welle, die die Kämpfer in die Schlacht trägt, sie ist auch unbedingt erforderlich, um jeden Einzelnen stark und gefühllos genug zu machen für das Töten anderer und das seiner selbst.

In den Beiträgen, die sich mit der Rolle der Musik im Dschihadismus auseinandersetzen, wird deutlich, wie sehr man einerseits die emotionale Wirkung der Musik braucht, wie sehr man aber auch Wert darauf legt, sie unter Kontrolle zu halten. Darum spielt die Auseinandersetzung darüber, was als Musik zu betrachten und darum zu verwerfen ist und was erlaubte Lautäußerungen sind, eine riesige Rolle. Auch beim "state building" des "Islamischen Staates". Man fühlt sich erinnert an die Debatten im Protestantismus darüber, was fromme christliche Musik und was zu verwerfende, die Sinne anstachelnde, Musik ist. Die Diskussionen darüber sind so alt wie der Islam, so wie auch die Fragen nach der richtigen Musik so alt sind wie Juden- oder Christentum. Calvins Haltung sei mit der al-Ghazalis zu vergleichen. Wo immer es darum geht, eine Gesellschaft auf einen Grundton einzustimmen, kommt es angesichts derselben Probleme auch zu denselben Auseinandersetzungen mit denselben Positionen und Argumenten. Zur lutherischen Reformation gehörte das Gesangbuch unauflöslich dazu. Mit Luther als Textdichter.

Der Dschihadismus ist eingebettet in die westliche Kulturwelt und in die Allgegenwart der Musik in ihr. Er antwortet auf diese Umgebung. Mit Abweisung und Anpassung. In den zweitausender Jahren zum Beispiel produzierte Al-Qaida Videos, die mit den Worten begannen: "Achtung! Musikalische Begleitung ist nicht erlaubt!" Später wurden dieselben Videos mit Koran-Gesängen oder A cappella Hymnen (anashid) begleitet verbreitet. Der von Thomas Hegghammer zusammengestellte Band bietet Einblick in eine Gegenkultur, die wir gerne übersehen, weil wir uns den Terrorismus als Anti-Kultur, nicht als Träger einer anderen Kultur denken.

Thomas Hegghammer: Jihadi Culture - The art and social practices of militant islamists, Cambridge University Press, Cambridge 2017, 284 Seiten, 19,74 Euro