Vorgeblättert

Ralph Dutli: Mandelstam, Teil 1

21.07.2003.
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Nadeschda am Schwarzen Meer
(Leningrad/Jalta 1925-1926)

(Januar bis März 1925: Affäre mit Olga Waksel. Die schlimmste Ehekrise. "Das Leben fiel, ein Wetterblitz": zwei Gedichte für Olga. Ein Nomade in der dunklen Stadt, grenzenlose Verlorenheit. Quarantäne in Detskoje. April 1925: Das Rauschen der Zeit erscheint in Leningrad. Frühjahr 1925: der erste Herzanfall. Ein streitendes Paar fern der Idylle. Eifersüchtiger Patriarch, Tyrann beim Diktat, besorgter Moskitojäger. "Geschlechtslos ist der Tod": Sexus und Eros bei Mandelstam. Oktober 1925: Nadeschdas Tuberkulose, Aufenthalte in Jalta. Brotarbeiten, der Kampf um jeden Rubel. "Um so zu lieben": Mandelstams Liebesbriefe an Nadeschda. Der verstummte Lyriker 1925 bis 1930. Reaktionen auf Das Rauschen der Zeit: "unzeitgemäß und unzeitgenössisch". 1925/1926: vier Kinderbücher. Die beiden Trams: verschlüsselte Trauer um Gumiljow. Träume von Wärme, Angst vor Gewalt. Politischer Zündstoff in Luftballons. Die Kampagne der Krupskaja gegen "schädliche" Kinderbücher. Die Prosaskizzen Kiew und Michoëls (1926): neue Beziehung zum Judentum. Der "jüdische Dionysos". Mandelstams "Briefe an den Vater": Von der Entfremdung zu neuem Verständnis. Eine Wohnung in Puschkins Lyzeum: Detskoje Selo, Dezember 1926.)

Mitte Januar 1925 trifft Mandelstam in Leningrad auf der Straße Olga Waksel, eine zierliche Schönheit und Schauspielerin, die vom Film träumt. Sie hat eine gescheiterte Ehe hinter sich und einen einjährigen Sohn, für den sie sorgen muß. Mandelstam kennt Olga bereits: Im Sommer 1916 und 1917, als dreizehn-, vierzehnjähriges Mädchen, war sie in Begleitung ihrer Mutter bei Maximilian Woloschin zu Besuch, als auch Mandelstam in Koktebel auftauchte. Jetzt hat sie den zerbrechlichen Charme einer unglücklichen jungen Frau, deren Lebenswünsche und schauspielerischen Träume sich nicht verwirklichen lassen. Mandelstam bringt Olga nach Hause zu Nadeschda. Doch was als Freundschaft zu dritt anfing, endete als die schlimmste Ehekrise. Mandelstam war fast sofort in Olga verliebt, erst heftig, dann besinnungslos.
Dreierbeziehungen waren in der frühen Sowjetepoche nichts Außergewöhnliches, sie galten als schick und progressiv, weil anti-bürgerlich. Die berühmteste "Menage a trois" der Epoche hatte den "Trommler der Revolution" höchstpersönlich zum traurigen Helden: Wladimir Majakowskij war jahrelang der Dritte im Haushalt von Lilja und Ossip Brik. Lilja blieb Majakowskijs lebenslange Liebeswunde. Die Dreierbeziehung der Mandelstams schien anfangs nach Nadeschdas Geschmack zu verlaufen. Sie nannte ihren Mann scherzhaft einen "Mormonen" und hatte gegen seine fantastischen Pläne, zu dritt nach Paris zu fahren, nichts einzuwenden. Doch rasch geriet das erotische Dynamit außer Kontrolle.
Das bitterböse Kapitel Grenzsituation im zweiten Band der Memoiren Nadeschdas läßt die Ausmaße der Katastrophe ahnen. Noch 1970, als sie das Buch schrieb, schien ihr die ungezügelte Eifersucht die Feder zu führen. Fast täglich sei die junge Schöne vorbeigekommen und habe vor ihrer Nase Mandelstam "entführt". Die Situation wäre reichlich banal, hätte Mandelstam in jenen ersten Monaten des Jahres 1925 für Olga nicht zwei seiner schönsten Gedichte geschrieben, die er wohlweislich vor Nadeschda verborgen hielt (1935, in der Woronescher Verbannung, als er verspätet vom Selbstmord Olga Waksels in Oslo erfuhr, kamen noch zwei Gedichte hinzu). Es sind die Verse eines schwerverliebten Dichters, der sich seiner Ehefrau gegenüber bereits in Lügen und Ausflüchte verstrickt hatte und oft selber keinen Ausweg mehr wußte. Das Leben war zum freien Fall geworden:

Das Leben fiel, ein Wetterblitz,
Wie ins Glas die Wimper stürzt,
Lügenprall bis an den Rand -
Keinen, niemand klag ich an. 
(TR, 195/197)      

Das Gedicht entwirft eine Utopie absoluter Liebe. Das "goldene Schaffell", das die Geliebte umgibt, ist das Kleid eines unerhörten Liebesmythos. Ein Traumpaar wird vorgeführt, das alles hinter sich zurückläßt. Der Reiz des Gedichtes liegt in der Spannung zwischen mythisch-erotischer Utopie und winzigen, schlichten Alltagsdetails:

Willst zur Nacht du einen Apfel,
Honigtee, ganz frisch gemachten?
Zieh ich dir die Stiefel aus,
Heb dich Fläumchen leise auf?

Engel - hell im Spinngewebe,
Goldnes Schaffell dich umgebend,
Strahl von dem Laternenlicht
Schulterhoch beleckt er dich.
(...)
Wie du stocktest allzuplötzlich,
Logst und lächeltest verletzlich,
Und verhaltene Schönheit strich
Hilflos hin dir durchs Gesicht.

Hinter Hüten von Palästen,
Hinter Gärten, schäumend letzten,
Wimpernjenseits liegt ein Land -
Bist dort meine Frau genannt.

      Komm wir nehmen trockne Stiefel,
Goldne Bauernpelzchen, tiefe,
Nehmen uns dann bei der Hand
Gehn die gleiche Straße lang,

Blicken uns nie um, erreichen
Strahlend helle Wegezeichen,
Nachtlang bis der Tag anbricht
Zwei Laternen voller Licht. 
(TR, 195/197)

Sogar der Apfel des Sündenfalls fehlt nicht ... Mandelstam traf Olga im Leningrader Hotel "Astoria" und mietete zeitweilig, um ihr nahe zu sein, ein Zimmer im Hotel "Angleterre" (wo Sergej Jessenin im Dezember desselben Jahres 1925 Selbstmord verüben wird). Um ihr seine Gedichte vorzutragen, nahm er auch gelegentlich eine Mietdroschke und fuhr mit Olga von der Morskaja zur Tawritscheskaja, wo sie mit ihrer Mutter und dem kleinen Söhnchen wohnte. Nadeschda aber hielt die immer häufigeren "Entführungen" ihres Ehemannes nicht aus und - packte die Koffer. Der bekannte Avantgarde-Maler Wladimir Tatlin (in ihren Memoiren nennt sie ihn nur mit der Initiale T.), der ihr den Hof gemacht hatte, bot sich als Retter an. Doch als Mandelstam einmal zufällig zu früh nach Hause kam und die wartende Nadeschda mit dem Koffer vorfand, kam er zur Besinnung. Als Tatlin klingelte, um Nadeschda abzuholen, machte Mandelstam die Tür auf und verkündete: "Nadja wird bei mir bleiben." Nadeschdas Abschiedsbrief warf er ins Feuer, rief Olga an und teilte ihr "schroff und grob" das Ende ihrer Beziehung mit. Das geschah Mitte März 1925. Noch in den Erinnerungen von 1970 klingt das Erstaunen darüber nach, daß die zufällige Rückkehr Mandelstams und der Anblick des gepackten Koffers schicksalhaft ihr Leben bestimmen sollte.

Teil 2