Vom Nachttisch geräumt

Eine Kissenburg fürs Gemüt

Von Arno Widmann
20.11.2018. Walter Filz erkundet das vordemokratische Brauchtum des Kölner Karnevals.
Walter Filz, geboren 1959, Leiter der Redaktion Hörspiel und Feature beim Südwestrundfunk in Baden Baden, hat ein sehr vergnügliches Buch geschrieben. Sein Vater hinterließ ihm eine große - mehr als zwanzig Schränke und Vitrinen umfassende - Sammlung von Erinnerungsstücken aus seiner Zeit bei der Prinzengarde des Kölner Karnevals. Orden, Manschettenknöpfe, Medaillen, Kappen, Automodelle, Speisekarten, Briefe und jede Menge Fotos. Dokumente der Jahre 1962 bis 1979.

Sohn Walter Filz hat daraus eine kleine, selbstironische Kulturgeschichte gefertigt. Speisekarten werden mit Schlagern in Beziehung gesetzt, die mit den Reise- und Wohlstandswellen, und immer wieder wird auch ein Blick hinüber in die Politik riskiert. Mal erhellt die Welt da draußen den Karneval, mal ist es umgekehrt. Walter Filz' mobilisiert natürlich auch die eigenen Erinnerungen an die lang vergessenen Zeiten, in denen Konserven mit Haifischflossen- und Schildkrötensuppe als kulinarische Höhepunkte gefeiert wurden. Erst vor diesem Hintergrund begreift man, warum die Nouvelle Cuisine eine Revolution war. Schon die Idee, dass das frisch Zubereitete, also Omas Küche, die Konserve, die moderne Technologie schlug, war eine Bombe mitten hinein in die Welt der von Jacques Tati in "Mon Oncle" schon 1958 karikierten spießigen Moderne. Filz erinnert an so merkwürdige Gewächse wie die Erdbeere Senga Sengana, die erste Züchtung, die sich als Konserve verarbeiten ließ. Wikipedia meint, es sei die erste Erdbeere gewesen, "die zum Tiefgefrieren" geeignet war. Wie auch immer. Damals galt als fein, wenn man schmeckte, wie viel Verarbeitungsgänge eine Mahlzeit hinter sich hatte, wie viel Technologie in sie hineingesteckt worden war. Meine Mutter kaufte sich frisches Brot und legte es in die Tiefkühltruhe. Wenn sie Brot brauchte, entnahm sie es der Tiefkühltruhe. Ihre Geschmacksknospen, ihre Caliculi gustatori, hatten, was das anging, sich seit den 50er Jahren bis weit ins neue Jahrtausend hinein nicht mehr geändert. So wie die meinen bei Schnitzel mit Bratkartoffeln stehen blieben.

Filz macht sich lustig, aber er tut das liebevoll. Er ist alt genug, um zu ahnen, dass seinen Kindern seine eigenen Vorlieben, Lüste und Gelüste einmal ebenso komisch vorkommen könnten, wie die seines Vaters ihm. Aber er weiß auch, dass zum Beispiel die Rollen - und wir denken da nicht nur an die 'Jungfrau' -, die Frauen in der Karnevalswelt jener Jahre spielten, schon nicht mehr die Rollen waren, die sie draußen spielten. Der Karneval trottete in allem immer hinterher. Er war ein Refugium, ein Fluchtort nicht für verlorengegangene Tugenden, sondern für - sagen wir mal so - vordemokratisches Brauchtum. Für ein paar Tage übernahmen die Narren die Herrschaft. Das war im Anfang vielleicht so etwas wie eine demokratische Revolution oder auch eine Parodie auf sie. Aber die närrischen Herrscher nannten sich auch dann noch "Prinzen", als die wirklichen Herrscher schon längst nur noch gewählte Ministerpräsidenten oder gewählte Kanzler waren. So wirkt die Narretei doppelt närrisch. Sie parodiert nicht mehr die Gegenwart, sondern eine bald mehr als einhundert Jahre zurückliegende Vergangenheit.

Filz geht sehr kritisch ins Gericht mit dem spezifisch Kölner Humor: Die Karnevalsparole von 1962 "'Wat et nit all jit' artikuliert die rheinische Form des passiven Widerstands als gemütliche Distanznahme. Aus einer Selbstbewusstseinsfestung, die einer Kissenburg gleicht, guckt der Kölner verschlafen in die Welt. Und reibt sich die Augen. Und staunt. Und bleibt liegen. So schützt er sich vor emotionaler Überforderung und ideologischer Vereinnahmung, schließt sich aber zugleich von jeglicher Teilhabe am Weltgeschehen aus. Er tut nicht mit. Er denkt nicht mit." Filz schreibt hier vom "Kölner". Wir Nicht-Kölner neigen dazu, ihn einerseits daran zu erinnern, dass er aus der Perspektive eines Karnevalisten oder doch eines Karneval-Beobachters spricht, andererseits aber werden wir das Gefühl nicht los, dass er auch von uns spricht.

Vollends klar wird das, wenn Filz über die Fotos schreibt, die es von seinem Vater gibt. Der war Standartenträger, also immer dabei, wenn das Dreigestirn (Prinz Karneval, Kölner Bauer, Kölner Jungfrau) einmarschierte. Auf den Fotos ist er eine Randfigur oder im Hintergrund, manchmal verdeckt die Standarte, die er hält, sein Gesicht. Er ist immer dabei, gehört zur Komparserie, spielt aber nie eine Rolle.

Walter Filz: Es ist noch Känguruschwanzsuppe da - Die Wahrheit über den Kölner Karneval aufgrund der Beweismittel meines Vaters, mit 245 meist farbigen Abbildungen, viele davon von Peter Becker, 340 Seiten, 28 Euro.
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