Im Kino

Schwertstich ins Herz

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thomas Groh
20.04.2022. Robert Eggers liefert mit seinem Wikingerfilm "The Northman" ein blutrünstiges Schlachtengemälde, dem jede Ironie fehlt, das jedoch Erfüllung im Mythos findet. In "Köy" von Serpil Turhan erforschen drei Berlinerinnen ihre Sehnsucht nach dem Dorf ihrer Vorfahren in der Türkei, das sie nie gesehen haben.


Ein Schiff nähert sich dem Land durch das dichte Schneetreiben über dem Nordatlantik. Die Bilder sind derart entfärbt, dass man sich zunächst fast in einem Schwarz-weiß-Film wähnt. Die Farbgestaltung ist im folgenden Film fast so wichtig wie das Tempo, das "The Northman" in dieser ersten Szene vorlegt: volle Kraft voraus.

Das Schiff bringt den König Aurvandil (Ethan Hawke) zurück zu seiner Familie. Die Art, wie er seinen kleinen Sohn mit einer festen Umarmung begrüßt, ihn in die Luft hebt, markiert einen Moment der Geborgenheit, dem der Sohn die restlichen 140 Minuten des Films hinterher jagen wird.

Bald darauf wird Aurvandil von seinem Halbbruder Fjönir (Claes Bang) ermordet, der den Thron besteigt und die Königin Gudrún (Nicole Kidman) zur Frau nimmt. Der junge Amleth kann dem Gemetzel knapp entkommen. Viele Jahre später zieht der erwachsene Amleth (Alexander Skarsgård) mit einer Wikingerbande durchs Land. Von ihrem Schiff aus ermordet einer der Männer lachend zwei friedliche Fischer, deren Boot sie passieren, mit Pfeil und Bogen. Angesichts dieses komplett sinnlosen barbarischen Gewaltakts sehen wir eine winzige Regung auf dem Gesicht Amleths am Ruder, einen kurzen Ausdruck der Missbilligung, der für die weitere Entwicklung der Figur von entscheidender Bedeutung ist: Vollkommen ohne Skrupel ist dieser Mann nicht, aber dennoch sind Gewalt und Unrecht so alltäglich für ihn, dass der Kampf gegen sie immer ein Kampf gegen sich selbst ist.

Wenig später metzeln Amleth und seine Männer ein Dorf nieder, ermorden die meisten der Männer, selektieren die Frauen danach, für welche Dienste sie sich eignen, sperren schließlich die Dorfbewohner*innen in eine Hütte, die sie von außen verrammeln und in Brand setzen. Spätestens hier sollte klar sein, dass der dritte Film von Robert Eggers, der zuvor mit den Independent-Produktionen "The Witch" und "The Lighthouse" auf sich aufmerksam machte, nichts für Zartbesaitete ist. Die 90 Millionen Dollar Budget, die ihm in seinem mit Abstand größten Projekt zur Verfügung standen, nutzt der Regisseur, der auch das Drehbuch mitverfasste, vornehmlich für ein wuchtiges, blutrünstiges Schlachtengemälde, bei dem sich die Hauptfigur an einer Stelle in einer an Ego-Shooter erinnernden Inszenierung mit verschiedenen Hieb- und Stichwaffen durch Unmengen von Gegnern kämpft.

Dabei ist "The Northman" durchaus ein Exploitation-Epos, wie es etwa schon Richard Fleischers "The Vikings" (1958) war. Allerdings finden sich in Eggers Film verschiedene inhaltliche und formale Elemente, die nicht zu diesem Label passen. Zum einen ist da eine grimmige Ernsthaftigkeit, der jeglicher Camp fremd ist. Das düstere Pathos des Films, das in den mit Inbrunst und "nordischem" Dialekt gesprochenen Dialogen zum Ausdruck kommt, aber auch in der Bildgestaltung, insbesondere den Nahaufnahmen der Gesichter von Skarsgård, Hawke und - in einer Nebenrolle als Hofnarr - Willem Dafoe, die unter den wallenden Bärten nicht leicht zu erkennen sind, kennt keinerlei ironische Brechungen. Es geht Eggers darum, Wege zu finden, wie man das grausame Treiben eines geschundenen Antihelden auf der Suche nach Rache zeigen kann, ohne seine Taten zu verherrlichen.



"The Northman" spielt in einer Welt der Entmenschlichung. Zu Beginn wohnen wir einem Initiationsritual bei, in dem Amleth und sein Vater wie Hunde am Boden kauern und aus einem Napf fressen. Wo dieses Ritual, so erklärt es der König, davon künde, dass man sich seinen Platz in der Welt als Mann erst erarbeiten muss, scheint dieser Status im kriegerischen Dasein der Nordmänner beständig und immer wieder aufs Neue bedroht. Die Männer hüllen sich in Tierfelle und Amleth heult bei der Schlacht wie ein Wolf. Vielleicht bietet die Frage des Verhältnisses von Tier und Mensch einen Schlüssel zum Verständnis des Films. Es geht um das "Tierische" im Menschen - und letztlich darum, dass einer in einer entmenschlichenden Welt kein Tier mehr sein will.

Die Art, wie der Film beim Massaker im Dorf mit der Darstellung sexueller Gewalt umgeht, die er in - allerdings knallharten - Andeutungen belässt, zeigt, dass Eggers Wege sucht, möglichst drastisch von der Objektifizierung durch Schlacht und (später auch) Sklaverei zu erzählen, ohne dabei ein objektifizierendes System der Blicke und Bilder zu bedienen. Aber genau damit fangen die Ambivalenzen an, denn Amleth, der sich über weite Strecken des Films wie ein reißender Wolf verhält, der unter seinen Feinden wütet oder einfach unter denen, die das Pech hatten, seinen Weg zu kreuzen, ist eben auch immer überlebensgroß: wild, entschlossen, unbeirrbar. Es fühlt sich sonderbar an, der archaischen Wucht dieses Films mit Psychologie zu begegnen, aber "The Northman" erzählt auch eine Geschichte davon, wie traumatische Gewalterfahrungen weitergetragen werden, von Generation zu Generation. Amleth hat kaum einen anderen Lebensinhalt, als die Menschen leiden zu lassen, die einst seinem Vater und ihm großes Leid verursachten.

Seine Antiheldenreise führt den Nordmann nach Island, wo er als vermeintlicher Sklave in das Dorf gelangt, über das sein Onkel und seine Mutter herrschen. Auf dieser Reise lernt er die Sklavin Olga (Anya Taylor-Joy) kennen. Auch wenn in der dargestellten Welt Frauen nicht nur taff, sondern auch gewaltbereit sein müssen, um zu überleben, tritt mit Olga eine mögliche Alternative zu Krieg und Rache in Amleths Leben. Wenn der Sklave schließlich ein blutrünstiges Katz-und-Maus-Spiel mit seinen Herren zu spielen beginnt, bleibt Eggers Film darauf bedacht, es seinem Publikum nicht einfach zu machen. Wie in vielen Genrefilmen der härteren Gangart, gönnen wir auch Amleth seine Rache. Freilich ohne uns irgendwelche Illusionen darüber zu machen, dass dabei etwas anderes herauskommen könnte, als mehr Gewalt, mehr zerstörte Leben, Körper und Seelen.



Am Ende seines Weges wartet auf Amleth eine unbequeme Wahrheit über die Geschichte seiner Familie. Klingt in Namen und Schicksal der Hauptfigur deutlich Hamlet an, gesellt sich dazu schließlich noch der Ödipus-Mythos. Die Mutter erweist sich als gleichermaßen verräterisch und verführerisch - und der Sohn, der nicht weiß, ob er sie töten oder ficken soll, entscheidet sich mit dem Schwertstich ins Herz, nach dem sie in seinen Armen stirbt, gewissermaßen für beides. Der Film unterstreicht die monströse Zärtlichkeit dieses Aktes auch deshalb, weil es die einzige ist, die der Protagonist zulassen kann. Im Kern geht es um einen Mann, der dort, wo er sich für das Leben und die Liebe entscheiden könnte, lieber in die finale Schlacht am Höllentor zieht, das ein Ort auf Erden ist.

Dennoch gibt es in "The Northman" eine Ebene, die sich einer solchen Deutung entzieht: Der Film und sein Protagonist glauben an ein vorherbestimmtes und prophezeites Schicksal. Am Ende findet Amleth Erlösung durch die Erfüllung des Mythos, der der Psychoanalyse hauptsächlich ein Mittel war, die Menschen zu erforschen und zu verstehen - dadurch gelangt der Wikinger in ein Jenseits, von dem unser säkulares und wissenschaftlich-rationales Weltbild nichts wissen will.

Nicolai Bühnemann

The Northman - USA 2022 - Regie: Robert Eggers - Darsteller: Alexander Skarsgård, Nicole Kidman, Claes Bang, Ethan Hawke, Anja Taylor-Joy, Gustav Lindh, Willem Dafoe - Laufzeit: 136 Minuten.

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Wenn die Kamera Hêvîn Tekin immer wieder dabei beobachtet, wie sie durch Berlin geht, und dabei auffällig oft ihren Hinterkopf zeigt, dann fühlt man sich mit einem Mal im falschen Film: Moment Mal, das ist doch - ja, natürlich, "Der schöne Tag" von Thomas Arslan, 2001, als alle noch über die Berliner Schule sprachen. Serpil Turhan spielte damals als junge Schauspielerin eine junge Schauspielerin namens Deniz, die über weite Strecken des Films durch Berlin streift, so wie jetzt Hêvîn Tekin durch Berlin streift und gerade im Begriff ist, eine junge Schauspielerin zu werden.

Seitdem hat Serpil Turhan den Sprung hinter die Kamera gemacht. In "Köy", ihrem schönen Porträtfilm über drei Frauen kurdischer Herkunft in Berlin - eine davon, Neno, ist ihre Großmutter -, ist sie nur über die Tonspur präsent, als Fragestellerin, die auch mal, vor allem bei Neno, resolut nachhakt. Und doch sie ist in dieser Zusammenstellung höchst unterschiedlicher Lebenserfahrungen, diesen Momentaufnahmen postmigrantischen Lebens in Deutschland im Grunde die vierte Frau. Nicht nur die - vermutlich bewusst gesetzte - Anspielung auf Thomas Arslans Film (es ist nicht die einzige) legt nahe, dass Serpil Turhan sich in Hêvîn Tekin ein bisschen wiedererkennt.

Postmigrantisches Leben in Deutschland. Das schreibt sich leicht dahin. Dass die Lage komplexer ist als es diese vier so homogen wirkenden Wörter nahelegen, unterstreicht Turhan mit ihrem präzisen Film sehr eindrücklich. Ihr hilft dabei ein so wirkungsvoller wie naheliegender Kniff: Die drei Frauen kommen aus unterschiedlichen Generationen. Neno ist noch in einem Dorf in Ostanatolien aufgewachsen und verheiratet worden, brachte viele Kinder zur Welt und kam schließlich nach Deutschland, wo ihr Mann bereits als Gastarbeiter tätig war. Saniye, Jahrgang 1974, ist ebenfalls in einem Dorf in der Türkei geboren, aber in Deutschland aufgewachsen - nach vielen Reisen betreibt sie nun in Berlin ein Café. Und Hêvîn ist in Kreuzberg geboren, ein Kind der Neunziger - ihr politischer Aktivismus verbietet ihr Reisen in die Türkei oder ins kurdische Gebiet.

"Köy", das heißt Dorf. Ein Sehnsuchtsort ist das Dorf für alle drei Berlinerinnen. Nur knüpfen sich je andere Projektionen daran: Für Neno ist es der Ort der Kindheit und Jugend, ein Ort, an dem reale Erlebnisse widerhallen. Für Saniye eine Art biografischer Ausgangs- und Fluchtpunkt (einmal alle vier Jahreszeiten in diesem Ort erleben, das ist ihr Traum), für Hêvîn schließlich schon ein Nicht-Ort im buchstäblichen Sinn, eine Utopie: "Warum kann ich nicht nach Hause fahren, irgendein Spanier kann das doch auch." Viel Trotz, viel Ehrgeiz, viel Spannung steckt in Hêvîn. Am Ende des Films gibt es einen Moment der Lösung, der Entspannung: Im Grunde sei ja Kreuzberg, der Kotti, ihr eigentliches "Köy". Ein Zuhause, wo man nie Zuhause war - endlich heimisch werden, wo man immer schon heimisch war. Es sind gerade diese Spannungen, die sich durch den Film ziehen, die viel erzählen, ohne es anzusprechen.



Und Serpil Turhan selbst? Hadert immer wieder in den Dialogen mit den Frauen. Sie will ihren türkischen Pass abgeben, mit der Türkei nichts zu tun haben, eine Schande, wie das Land mit den Menschen umgeht, den Frauen, den Kurden. Warum Saniye, eine entspannt im Leben ruhende, auf faszinierend sanfte Weise präsente Frau, von allen dreien vielleicht die freieste, ausgerechnet zurück ins Dorf will, sich geradezu danach sehnt? Wo sie doch ihre Freiheiten als moderne Frau dafür aufgeben müsste? Saniye lächelt das resignierte Lächeln eines Menschen, der es vielleicht sogar besser weiß, aber doch nicht anders kann: Weil es etwas ist, was ihr Zeit des Lebens verbaut gewesen ist. Durch die Auswanderung der Eltern, durch den immer und immer wieder zurückkehrenden Krieg.

"Köy", das Dorf - ein imaginäres Bild. Wir sehen das Dorf - Nenos Dorf - in seiner Gegenwart gleich zu Beginn des Films (aber natürlich ist auch das schon, Magrittes Pfeife im Sinn, nur ein Bild des Dorfes). Dann harter Schnitt und eine Fotografie aus ähnlicher Perspektive an der Wand davon. Die Unterschiede (auch die sanft verschobene Perspektive) reichen aus, um zumindest für einen Moment lang zu irritieren: Ist das wirklich - ja, doch, es ist dasselbe Dorf, der Strauch am Hang dahinten verrät es. Das Dorf ändert sich, wandelt sich. Die imaginären Bilder verblassen, entwickeln ein Eigenleben. Zeitfluss, Erinnerung und Sehnsucht gehen irgendwann getrennte Wege. Auch Saniye spricht davon, dass sie ihr Dorf im Winter nur von Fotos kennt.



"Köy", der Film, ist eine Beobachtung und (vielleicht auch Selbst-)Befragung über einen längeren Zeitraum. Zeitmarken gibt es keine, aber die Zeit erzählt sich am Rande mit. Alle drei Frauen stehen an Weggabelungen: Neno muss ausziehen und will nochmal in die Türkei reisen, zum Grab ihres Vaters. Angst vor dem Erdoğan-Staat hat sie keine. Ein Unfall, der Saniye dazu zwingt, über Monate ihre Café zu schließen, lässt in ihr den Entschluss reifen, es nun endlich einmal mit dem Heimatdorf zu versuchen und Berlin - sowie die herzliche Community, die sich um ihr Café gebildet hat - fürs Erste hinter sich zu lassen. Hêvîn hadert: politischer Aktivismus oder Schauspielschule? Sie entscheidet sich, erneut: fürs Erste, für Letzteres, wir beobachten ihre ersten Schritte an der Berliner UdK, deren Website uns verrät, dass sie dort zum Jahrgang 2018 zählt. "Köy", begreift man erst dann so richtig, ist auch eine Flaschenpost aus prä-pandemischen Zeiten. Und ein Film, der Entwicklungen erzählt, ohne sie als solche aufzulösen.

"Köy" ist keine Milieustudie - zum Glück. Auch darin ähnelt Turhans Film Arslans "Der schöne Tag". Er sucht, wandert, läuft, geht - so wie Deniz durch Berlin, ihren Lebensraum, gegangen ist (statt die Stadt, wie vorher Lola, zu durchrennen). Ein Film, der keine Antworten skandiert, sondern Fragen Raum gibt, Fragen nach der eigenen Position im Leben, kurzum: der Menschen Raum gibt. Was für eine schönere Aufgabe kann es für das Kino geben?

Thomas Groh

Köy - Deutschland 2021 - Regie: Serpil Turhan - Laufzeit: 90 Minuten.