Im Kino

Vom gestählten Bizeps zu verheulten Augen

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Michael Kienzl
26.05.2022. Joseph Kosinskis "Top Gun 2: Maverick" knüpft gekonnt und mit viel Action, Humor und gutem Timing an Tony Scotts Vorgängerfilm an, doch es gibt eine Perspektivverschiebung: weg von einzelgängerisch jugendlichen Heldentum hin zu Teamgeist und menschlichem Makel.  Iciar Bollain erzählt in "Maixabel" von zwei Gesprächen, die die Witwe eines Terroropfers mit den Mördern von der ETA führte.


Nach 36 Jahren kehrt Tom Cruise als Pete "Maverick" Mitchell mit einer würdigen Kraftmeier-Performance auf die Leinwand zurück. Weil Drohnen mittlerweile schneller und verlässlicher sind als menschliche Kampfpiloten, setzt er mit einer markigen Spontanaktion zur Ehrenrettung seines Berufsstandes an. Regisseur Joseph Kosinski inszeniert diesen Flug mit reichlich Science-Fiction-Vibes. Zu dröhnender Hans-Zimmer-Musik schießt Maverick zwischen Lichtblitzen scheinbar bis ins Weltall. Und selbst als er die geforderte Höchstgeschwindigkeit erreicht hat, drückt er nochmal ordentlich aufs Gas, bis der Jet sich schließlich auflöst.

Maverick ist ein Haudegen wie von einem anderen Planeten. Wenn er nach seinem Absturz mit nur ein paar Schrammen in ein Provinz-Diner torkelt, um sich zu erkundigen, wo er ist, flüstert ihm ein Junge bezeichnenderweise "Earth" zu. Tatsächlich hat das Fremdeln mit der Welt in "Top Gun: Maverick" mehr mit Vergänglichkeit zu tun: einerseits mit dem baldigen Karriereende seines Helden, andererseits mit dem drohenden Beginn eines neuen, posthumanen Zeitalters, in dem der Mensch nur noch Fehlerquelle ist. Auch mit fast 60 Jahren hat sich Cruise noch einiges von seinem jungenhaften Charme bewahrt. Und doch zeichnet sich an seinem zwar noch athletischen, aber eben nicht mehr komplett makellosen Körper langsam das Alter ab. Für den Film erweist sich diese Dissonanz aus unzerstörbarem Heldentum und Verwundbarkeit als ideal.

In Kosinskis Sequel muss Maverick junge Kampfpiloten trainieren, die im Rahmen eines waghalsigen Manövers die Atomwaffen eines fiktiven Bergvolks zerstören sollen. Für den Flugveteranen entstehen zwei Herausforderungen: Zum einen darf er selbst bei diesem Einsatz nicht mitfliegen, zum anderen befindet sich unter seinen Schülern Rooster (Miles Teller), der Sohn seines im ersten Teil bei einem Flugeinsatz verstorbenen Kollegen Goose, über den Maverick mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt wacht.



Zunächst kehrt Cruise jedoch in jene Bar zurück, in der er schon als junger Mann verkehrte. Jennifer Connelly taucht als Gastwirtin Penny wie aus dem Nichts auf. Nur in einem Nebensatz erfahren wir, dass die beiden schon mal was miteinander hatten. Im Film ist sie zwar vor allem romantisches Ornament für Cruise, erinnert aber auch, ganz im Geiste Tony Scotts (dem Regisseur des Originals), daran, wie toll es aussehen kann, wenn man sich in der Abendsonne lässig an einen glänzenden Sportwagen lehnt.

Als Penny Maverick wegen Zahlungsunfähigkeit aus ihrer Bar werfen lässt, verdichtet Kosinski das zu einem tollen Moment darüber, wie seinem Helden die Welt entgleitet. Durch eine Scheibe schaut Cruise von Außen in die Bar und damit gewissermaßen in die Vergangenheit. Wie einst er selbst musiziert nun Rooster mit seinen Kollegen am Klavier. Dass sich vielleicht alles wiederholen wird, kann Maverick nur hilflos aus der Distanz beobachten.

Obwohl Kosinski seinen Film nicht nur mit dem klassischen Harold-Faltermeyer-Soundtrack beginnt, sondern auch, wie damals Tony Scott, mit einer stilisierten Eröffnungsequenz aus Silhouetten und röhrenden Maschinen, wiederholt "Maverick" die Vergangenheit gerade nicht. Der Schwerpunkt verlagert sich vom poppigen Recken-Epos zum Männermelodram, vom gestählten Bizeps zu verheulten Augen. Die Farben sind diesmal gedeckter, der Erzählton melancholischer und die Figuren nicht nur Oberflächen. Während Scotts mitunter etwas stumpfer Film eher in einzelnen grellen Szenen brillierte, überzeugt "Maverick" mit seinen sorgfältig verwobenen Motiven sowie seinem guten Timing für Humor und Dramatik als Ganzes.



Anknüpfungen an "Top Gun" gibt es trotzdem einige. Anders als das blasse, eher pflichtschuldig eingefügte Echo der ikonischen Volleyballszene gerät Val Kilmers Auftritt emotional sehr dicht. Der von seiner Kehlkopfkrebserkrankung schwer gezeichnete Schauspieler kommuniziert mit seinem ehemaligen Kontrahenten Maverick über einen Computerbildschirm und wirkt dabei wie ein Mahnmal körperlicher Zerbrechlichkeit. "You have to let go" tippt er zum Abschied und meint damit wohl, dass Maverick nicht mehr der jüngste ist und Rooster nicht sein Sohn. Der Film erzählt von einer Perspektivverschiebung, ohne sich komplett von der Vergangenheit zu lösen. Die Genre-Virtuosität und das Mackerhafte hat er sich glücklicherweise bewahrt. In den spektakulären Actionszenen manövrieren die Piloten ihrer Jets präzise zwischen Felsen und schrauben sich geschmeidig in die Lüfte, während sie toughe Sprüche in ihre Headsets ablassen. Und doch bleibt durch die Innenaufnahmen aus dem Cockpit immer die Anstrengung spürbar, die dahintersteckt: das schwere Keuchen und der massive Druck, der die Körper in ihre Sitze quetscht und die Gesichtszüge entgleiten lässt.

Wie Maschinen sollen die Piloten sein. Eine Videosimulation zeigt mit gestrichelter Linie den vorgegebenen, über ein Gebirge führenden Flugweg, den Maverick bei einer Übung im Flachland aus dem Gedächtnis milimetergenau nachfliegt. Das übermenschliche Können wächst bei Kosinski aus Empfindsamkeit und Angst. Vom rebellierenden Sohn ist Cruise zum sich sorgenden Vater geworden. Statt von tollkühnen Alleingängen erzählt der Film von Teamgeist und den Konsequenzen des eigenen Handelns. Eine von Mavericks Lektionen ist, dass die Schüler sich vorstellen müssen, den Angehörigen eines getöteten Kollegen gegenüber zu treten. Überhaupt geht es in diesem martialischen Umfeld überraschend oft um Achtsamkeit. Auch als Maverick einmal wie ein Teenager aus Pennys Schlafzimmerfenster klettert und dabei ihrer Tochter (Lyliana Wray) in die Arme läuft, gibt diese ihm nur eine Bitte mit auf den Weg: "Don't hurt her again".

Miles Teller als Rooster ist gewissermaßen das Epizentrum des Schmerzes. Sein Schnauzer ist stattlich, aber seine Augen so tieftraurig, dass man diesen ramponierten Jungen eigentlich in keinen Kampfjet setzen will. Seine Antithese ist Kollege Hangman (Glen Powell), der das selbstgefällige, breitbeinige Angebertum des jungen Cruise verkörpert, dabei aber keinen Funken Charisma besitzt. Der Knackpunkt in "Maverick" ist, dass Schwächen nicht unterdrückt oder überwunden werden müssen, sondern, im Gegenteil, zum Quell militärischer Perfektion werden. Neben seinen offensichtlichen handwerklichen Stärken ist Kosinskis schöner Frühsommer-Blockbuster auch irgendwie ein Plädoyer für den menschlichen Makel.

Michael Kienzl

Top Gun: Maverick - USA 2022 - Regie: Joseph Kosinski - Darsteller: Tom Cruise, Jennifer Connelly, Val Kilmer, Miles Teller, Bashir Salahuddin, Jon Hamm, Glen Powell - Laufzeit: 131 Minuten.

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Filme über historische Terrorgruppen sind meist endlos fasziniert von den Terroristen selbst. Man denke an den überkandidelten Glamour von "Der Baader Meinhof Komplex", die schmutzige Fantasie, die Jan Bonnys "Wintermärchen" zur Tortur macht. Icíar Bollaíns "Maixabel" scheint gegen diese Faszination weitgehend immun. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten, bis hin zu den Namen der Figuren, die denen der real Ermordeten und Mordenden entsprechen. Aber er ist weder ein Biopic, noch im historischen Sinne ein Film über die ETA. Wie der Frau, deren Geschichte Bollaín erzählt, geht es ihr vor allem um Verständigung, um einen Heilungsprozess.

Dreh- und Angelpunkte sind zwei lange Gesprächsszenen. Dialoge zwischen je zwei Figuren, Schuss, Gegenschuss. Ihnen ist das komplette Narrativ untergeordnet; alles im Film führt nur darauf hin, diese beiden Gespräche überhaupt zu ermöglichen, deren reale Vorbilder im Rahmen eines kurzlebigen spanischen Regierungsprogramms stattfanden: Opfer und reuige Täter sollten in einem geschützten Raum aufeinandertreffen dürfen, Fragen stellen, womöglich mit der Vergangenheit abschließen. Maixabel Lasa (Blanca Portillo) sitzt nacheinander zwei Männern gegenüber, die den Tod ihres Ehemannes verantworten; den Tod von Juan María Jáuregui, linker baskischer Politiker, im Juli 2000 von drei ETA-Chargen in einem Kaffeehaus mit einem Kopfschuss hingerichtet.

Die Städte in Nordspanien haben durchaus etwas Klaustrophobisches. Schmale Fenster und Türen in dicken Mauern, tief hängende Regenwolken, die nicht aus den dunkelgrünen Tälern herausfinden wollen. Bollaín verstärkt diesen Eindruck noch durch ihre Settings, ihren Bildaufbau, in dem sich die Wohnungen mit ihren stets zugezogenen Vorhängen, die von Leibwächtern umstellten Straßenzüge kaum von den vergitterten Zellen des Gefängnisses unterscheiden. Eine ganze Region im Griff der Angst und des Misstrauens. Maixabel und ihre Tochter sind innerhalb dieser Gesellschaftsordnung genauso Opfer wie die Mutter von Ibon (Luis Tosar), dem Fluchtwagenfahrer. Sein adrenalinschwerer Atem während der Tat ist der erste sinnliche Eindruck, der im Film hängen bleibt, sein von Schuld zerfurchtes Gesicht der letzte. Im Gespräch mit Maixabel kommen auch seine Zwänge ans Licht: Die drei Täter waren Befehlsempfänger, die nicht einmal wussten, warum sie die Menschen auf ihrer Abschussliste töteten. Sie warfen eine Münze, um zu entscheiden, wer von ihnen den Abzug drücken würde.



In der Jetztzeit von "Maixabel" sind seit dem Mord etwa zehn Jahre vergangen. Ibon wird in den offenen Vollzug zu anderen ehemaligen ETA-Mitgliedern verlegt, die sich mittlerweile von der Organisation distanzieren. Die Atmosphäre im neuen Gefängnis erinnert entfernt an eine Schule: Ein altes Gebäude mit abgewetzten Türen, durch dessen Gänge Stimmen hallen. Grüppchenbildung im Hof, ein Moment Privatsphäre in einem leeren Nebenraum. Als eine Mediatorin auftaucht und den versammelten Ex-Etarras erstmals von dem Gesprächsprogramm der Regierung erzählt, steht sie vor der Gruppe wie eine Referendarin vor einer murrenden Klasse. Die Assoziation kommt unerwartet, aber sie passt erstaunlich gut. Im Kern ist "Maixabel" eine Emanzipationsgeschichte, und Emanzipation ist auch das sinnstiftende Narrativ des Coming-of-Age-Genres. Nur dass es sich hier nicht im engeren Sinne von der Familie zu emanzipieren gilt. Dafür aber von Gruppendynamiken, von ideologisch geprägtem Denken und Handeln, und zwar in unterschiedlichem Maße auf beiden Seiten.

Icíar Bollaín reichen winzige Momente aus, um das Spannungsfeld zu skizzieren, in dem sich ihre Figuren bewegen. Der Nachbar, der sich, als Ibon das erste Mal mit zwei Beamten im Schlepptau seine Mutter besucht, im Vorbeigehen auf der Treppe für seinen Einsatz bedankt. Aber auch die Schmiererei draußen vor der Tür: Traidor - Verräter. Maixabels Tochter Maria, die mit Freundinnen am See feiert, als ihr Vater ermordet wird. Ihre Tante holt sie dort ab und allein ihr Blick reicht aus, damit Maria Bescheid weiß; so allgegenwärtig ist der Terror zur Jahrtausendwende in Spanien. "Maixabel" ist ein ruhiger Film, geradezu unauffällig, aber Bollaín schafft es, darin selbst einem uninformierten Publikum zu zeigen, welch großen Schritt die Gesprächsbereitschaft ihrer Figuren bedeutet. Dabei drängt sich noch nicht einmal der Ausdruck "Themenfilm" auf. 2011 erklärt die ETA offiziell den Waffenstillstand. Maixabel und ihre Parteigenossen treffen sich am Gedenkstein für Juan María Jáuregui auf einer Anhöhe mit Blick auf die umliegenden Täler. Sie stehen dort und singen ein baskisches Arbeiterlied und der gemeinsame Moment fühlt sich befreiend an, wie das Ende der Klaustrophobie.

Katrin Doerksen

Maixabel - Spanien 2021 - Regie: Icíar Bollaín - Darsteller: Blanca Portillo, Luis Tosar, Urko Olazabal, Tamara Canosa - Laufzeit: 115 Minuten.