Im Kino

Aus dem Fortfließen des Lebens gefischt

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
06.07.2022. Marie Kreutzers Film "Corsage" scheitert beim Versuch, die Kaiserin der Habsburger aus dem Sissi-Korsett zu befreien: Vicky Krieps zeigt alle drei Minuten einen neuen Wesenszug - sie schreit, weint, zittert, fühlt, aber sie trägt den Film. Mehr als ein Film über Kaiserin Elisabeth ist "Corsage" eine Dekonstruktion der Kinogeschichte.

"Corsage" ist kein besonders bemerkenswerter Film und doch lässt sich an ihm recht gut ablesen, was das Kino der frühen 20er Jahre des 21. Jahrhunderts ist oder gern sein möchte. Marie Kreutzer, eine Grazer Regisseurin, die auf der Brücke zwischen politischer Festival- und zugänglich-dramatischer Matineetauglichkeit balanciert, zeigt ein "anderes" Bild von Elisabeth von Österreich-Ungarn, der Kaiserin des Habsburger Reichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich als Sissi fest in der Filmgeschichte und im Habsburger Kitsch, der die österreichische Hauptstadt bis heute fest im Griff hat, verankerte. Dabei, so zeigt der Film, ist Verankerung das letzte, was dieser Frau vorschwebte. Das Bild ist "anders", weil es dem jährlich die TV-Bildschirme flutenden Romy-Schneider-Mythos widerspricht. Widersprechen heißt, dass die Kaiserin, hier gespielt von Vicky Krieps, als komplexe, freiheitssuchende, ambivalente, alles in allem den höfischen Verpflichtungen unzuträgliche, moderne, unabhängige, eitle, depressive, betrügende, betrogene, eruptive Frau, Mutter, Liebhaberin, Nachtschwärmerin, Rebellin und androgyne Tänzerin gezeigt wird. Eine echte Person also?

Es gab in der jüngeren Filmgeschichte schon so manchen Versuch, der Kaiserin und ihrem wahren Wesen näherzukommen, das gelungenste Beispiel war wohl Ruth Beckermanns "Ein flüchtiger Zug nach dem Orient". Was "Corsage" von diesem unterscheidet, ist die Selbstverständlichkeit der Spekulation. Natürlich stützt sich der Film auf Fakten, aber er zeigt eben auch das, was so oder so ähnlich gewesen sein könnte. Kreutzer blickt hinter die Kulissen der Aristokratie. Sinnbildlich legt Kaiser Franz Josef in einer Szene seinen falschen Backenbart auf einem Silbertablett ab. Schon die erste Szene zeigt die Kaiserin in der Badewanne. Kreutzer hält sich streng an das Diktum ihres Landsmanns Erich von Stroheim, der sich einmal wie folgt von seinem Kollegen Ernst Lubitsch differenzierte: "Lubitsch zeigt Ihnen zuerst den König auf dem Thron und dann wie er sich im Schlafzimmer verhält. Ich zeige Ihnen den König zuerst im Schlafzimmer, damit Sie wissen, was er für einer ist, wenn Sie ihn auf dem Thron sehen".

Die darin mitschwingende Sensationsgeilheit und der irgendwie altmodische, bei Stroheim aber stets in sich selbst gebrochene und ohnedies unerreicht unerhörte Voyeurismus (man denke nur an "Queen Kelly"), der sich für das interessiert, was dem gemeinen Volk sonst vorenthalten wurde, versteckt sich in "Corsage" hinter dem feministischen Streben nach widersprüchlicheren, spannenderen Frauenfiguren. Damit sind wir im Kino unsrer Zeit angekommen. All die Jahre eindimensionaler Frauen in Filmen, die oftmals schwer erträglichen, von Männern gebauten Fantasiegebilde schlagen zurück, fast als wäre es eine Rache, indem die jahrelang verdrängte Komplexität derselben Frauen in einen einzigen Film gepresst wird. Alle drei Minuten ein neuer Wesenszug. Jede Szene wankt unter der Last der Bedeutung, die auf jedem Bild, jeder schauspielerischen Geste liegt wie das Gepäck eines Menschen, der unbedingt beweisen will, dass er gelebt hat und dass das Leben kompliziert ist. Mehr also, als ein Film über Kaiserin Elisabeth, ist "Corsage" eine Dekonstruktion der Kinogeschichte.


Es ist passend, dass die Kaiserin im Film auch mit den Anfängen der Filmgeschichte in Berührung kommt. Natürlich geht es dabei zuvorderst um ihre Schönheit. Als sie von einem jungen Filmpionier gefilmt wird und erfährt, dass die Kamera den Ton nicht aufnehmen kann, beginnt sie wie wild zu schreien und zu reden. Man hört sie nicht, aber man versteht. Der vielzitierte Rahmen des Kinos ist auch ein Korsett. Das ganze Leben ist ein Korsett. Die Kaiserin ist Allegorie, in ihrem Einzelschicksal findet Kreutzer das, was Frauen die Luft abschnürt. Es geht um einen Menschen, der sein eigenes Bild, das Bild, das von ihm gemacht wird, nicht mehr ertragen kann. Es ist ein Widerspruch, dass dieses Anrennen gegen den Rahmen in einem Film verhandelt wird, denn natürlich erzeugt auch Kreutzer ein Bild der Kaiserin. Der Mut, die Wirkweisen des Kinos tiefergehend zu hinterfragen, was nötig gewesen wäre, fehlt diesem leicht bekömmlichen Film und so wird manches angeregt, aber nichts eingelöst. Auch das eine bevorzugte Wirkweise des zeitgenössischen Arthouse-Films.

Nach "Bergman Island" von Mia Hansen-Løve und "Serre moi fort" von Mathieu Amalric ist "Corsage" bereits der dritte Film mit Krieps, in dem Filmemacherinnen eine gefährlich große Bandbreite von dieser Darstellerin einfordern. Obwohl die gebürtige Luxemburgerin eine aus dem Fortfließen des Lebens gefischte Beiläufigkeit zum Vorschein bringt und unentwegt das leichte Zittern, das kaum vernehmbar hinter jeder Selbstsicherheit lauert, mitzuspielen weiß, wirkt das ihr damit verliehene Siegel der Qualitätsschaupielerin einengend. Es ist eine alte europäische Tradition, die vergisst, dass Filme kein Casting sind. Man müsste nicht jede Emotion sehen, um sie selbst zu fühlen. Krieps kann alles spielen (außer Wut), keine Frage. In "Corsage" aber sieht man so viele Regungen auf ihrem Gesicht, dass man fast von einem Verfremdungseffekt sprechen kann. Man beginnt die Schauspielleistung zu sehen und nicht mehr die Person, die dargestellt wird. Trotz dieser Überfrachtung trägt Krieps den Film, ganz einfach, weil sie nicht einmal das Gesicht verziehen muss, um zu zeigen, wie ein Korsett auf die Eingeweide drückt. Man sieht es an ihrem Gang, man hört es in ihren Worten.

Neben ihrer Schauspielerin verlässt sich Kreutzer auf gelungene Modernisierungseffekte, etwa in der Musik, die von der französischen Sängerin Camille stammt und in einer hypnotischen Harfenversion von "As Tears Go By" ihren Höhepunkt findet. Auch manche Schauplätze, etwa die Fähre, auf der die Kaiserin ein anderes, befreiendes Ende findet als in der Wirklichkeit, in der sie vom Anarchisten Luigi Lucheni erstochen wurde, ist kein historischer Dampfer, sondern ein zeitgemäßes Schiff. Derlei Effekte wählen Filmemacher meist, wenn sie ihrem Stoff nicht trauen. Sie wollen nochmal unterstreichen, dass das, was man sieht, mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Warum sich in jüngerer Zeit viele Filme auf den Adel und dessen weibliche Vertreterinnen ("The Favourite", "Spencer", zum Beispiel) stürzen, wird dadurch nicht klarer. Man kann nur hoffen, dass dieses neuerliche Interesse an den ausgelutschten Absurditäten und Ungerechtigkeiten des höfischen Lebens mit dem konkreter werdenden Stimmungen kollabierender Systeme zusammenhängt. So wäre der sich im Film verdichtende Untergang des aristokratischen Europas mit dem Ende des Kapitalismus zu vergleichen. Wunschdenken oder Schwarzmalerei zweifelsohne, aber wir entscheiden ja selbst über unser Bild.

Patrick Holzapfel

Corsage - Österreich 2022 - Regie: Marie Kreutzer - Darsteller: Colin Morgan, Vicky Krieps, Finnegan Oldfield, Alexander Pschill, Katharina Lorenz - Laufzeit: 113 Minuten.