Virtualienmarkt

In blassblauer Tinte

Von Rüdiger Wischenbart
08.10.2018. Diese Buchmesse steht im Zeichen der "Krise des Lesens". Und diese entpuppt sich als eine Krise der Formate - Smartphone versus Buch, Abo versus Einzelkauf  -, die es den traditionellen Gatekeepern sehr schwer macht zu reagieren.
Erinnert sich noch jemand an die lustigen Sprüche, ich glaube aus den 1980er Jahren, nach der Formel "Stell dir vor, es ist ***Hier-bitte-ein-großes-Problem-einsetzen*** - und keiner geht hin?" Nun, für alle an Kultur Interessierten könnte über dem Jahr 2018 als Überschrift in blassblauer Tinte geschrieben stehen: "Wir haben Krise des Lesens". Sie wissen schon, sechs Millionen verlorene Buchkäufer. Doch fast alle gehen wieder hin, nämlich zur Frankfurter Buchmesse diese Woche. Und werden das Wort "Krise" im Munde führen, und vermutlich öfter als es zuträglich ist, dabei vorrangig an den Rowohlt Verlag denken, und das seit Wochen die Eingeweihten aufrüttelnde Thema vom "Verlegerinnen-Rauswurf". Ich fürchte allerdings, damit laufen die Gespräche einmal öfter am tieferen Dilemma vorbei.

Dieses Dilemma ist real, und lässt sich so zusammenfassen: Verlage und Buchhandel haben, ohne es recht zu bemerken, ihre zentrale Rolle als "Gatekeeper", oder Schlüsselwarte eingebüßt, wenn es ums "Storytelling" geht.

Es ist allein schon auffällig, dass ich auf zwei englische Bezeichnungen zurückgreife, weil das deutsche "Geschichten erzählen" die Sache dort nicht fasst, wo es um mediale Verwertungsprozesse geht. Hier die Erläuterung in geraffter Form: Verlage haben stets als ihre Kernkompetenz definiert, die "Auswahl" der guten Bücher zu organisieren gegenüber allem, was so geschrieben wird. Sie haben damit den Zugang zum Angebot reguliert, was der Veröffentlichung für wert befunden wird für ihr Kernpublikum eines überwiegend gebildeten, der Mittelklasse angehörenden Lese-Publikum - gegenüber dem Rest. Der Buchhandel hat dies ergänzt mit dem Verweis auf seine Beratungskompetenz.

Diese exklusive Insel der bürgerlichen Buchkultur aber ist in vielerlei Hinsicht von einem kulturellen Klimawandel bedroht. Zuallererst, und kaum in den Debatten erwähnt: Die Gesellschaft hat sich in ihrer Zusammensetzung tiefgreifend verändert in den vergangenen fünfzig Jahren, seit dem Wirtschaftswunder, den Gastarbeitern, der europäischen Integration und der Globalisierung. Sie ist nach allen Richtungen hin vielfältiger geworden. Es geht da auch gerade nicht um kurzfristige Verschiebungen, etwa nach der "Flüchtlingswelle" von 2015.

Zum zweiten das Internet: "Taking out the middle man" war ein geflügelter Strategie-Slogan seit den späten 1990er Jahren. Alle "Gatekeeper" und anderen Mittler wurden in Frage gestellt, wenn die "User", und dann bald um-definiert, "die Konsumenten" selbst ihre Auswahl treffen können. Amazon hat diese Möglichkeiten unerbittlich zum Steuerungsprinzip seiner Angebote gemacht. Der Aufstieg von Self-Publishing gehört hier als zentrale Entwicklung ebenfalls mitgedacht, weil hier User an den alten Gatekeepern vorbei "ihr Ding" entwickeln können und auch ein Publikum aufzubauen vermögen. Verlage und Buchhandel haben sich viel zu lange entschieden, solchen Verschiebungen gegenüber resistent zu bleiben. Dies alles beschreibt die Entwicklungen, bevor Facebook, YouTube, Influencer und Big Data alles nochmal radikal neu aufgemischt haben.

Und dann ein großes "Rums": Das Smartphone. Alle glotzen plötzlich Serien auf dem kleinen Schirm mit dem dickem Mobile Internet Anschluss und dem unlimitierten Datenvolumen, jeweils inkludiert im Fix-Tarif. Damit stellte sich alles auf den Kopf, weil nun die Konsumenten das Format wechseln können - beispielsweise "gucken" statt "lesen" -, das Geschäftsmodell - Abo statt einkaufen -, und völlig neue Anbieter obendrein aufs Spielfeld drängen: Netflix, Amazon Prime. Bald wird da noch mehr kommen. Nur die Verlage und der Buchhandel sind dann nicht mehr dabei. Ein "Paradigmenwechsel", wie er im Lehrbuch der Sozial- und Kulturgeschichte steht.

Wundern wir uns da noch, weshalb in solch einem Kontext Ebooks nicht so recht zu fliegen lernten, als müde Kopien des gedruckten Buchs, bei welchem nicht einmal Cover und Typografie ordentlich angepasst werden, von Verkaufspreis und Marketing für die ungewollten Bastarde ganz zu schweigen?

An diesem Punkt ist eine Klarstellung nötig: Mir geht es hier keineswegs ums "Bashing" von Verlagen, Buchhandel, oder sonst jemandem. Für die "Alten" ist es an solchen Bruchstellen stets dramatisch schwierig, den Spagat zu üben, nämlich mit dem Strategie-Denk- und Management-Kopf energisch das Neue hereinzuholen, und doch gleichzeitig das "Bestehende" weiterzuführen. Die Gehälter der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Erlöse für die Eigentümer werden immer noch aus dem "Altgeschäft" finanziert. Wenn allerdings das "Altgeschäft" wegbricht, was aktuell geschieht, ist es - diesmal formuliert mit einem endlich gut deutschen Politikerinnen-Wort - "alternativlos", auch ganz Anderes zu erkunden.

Dazu passen zwei Interviews aus den vergangenen Tagen, das eine mit dem Bestseller Autor und Netflix-Fan Daniel Kehlmann in der NZZ (hier), das andere mit dem aus Deutschland stammenden Medienmanager Wolfgang Blau im Standard (hier).

Beide treffen sich lustigerweise im Bemühen, das Chaos der Gegenwart besser zu begreifen, in einem historischen Verweis. Beide rekapitulieren den Erfolg der Druckerpresse vor 500 Jahren. Kehlmann sagt: "Ich habe mich für meinen Roman 'Tyll' mit der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges befasst und begriffen: Wann immer ein neues Medium in die Welt kam und wirkungsmächtig wurde, folgte auf die Erfindung eine Periode großer Verwirrung, Wut und Gewalt. Die Druckerpresse brachte nicht nur schöne Bücher hervor, sondern auch eine Flut von Propagandabroschüren religiösen und politischen Inhalts."

Ganz ähnlich Blau, einst Digital-Chef der Zeit, dann Internet Stratege im Guardian und heute Vordenker für den US Medienkonzern Condé Nast, in dem unter andrem Vogue, Wired und Vanity Fair erscheinen: "Was die Druckerpresse ursprünglich angerichtet hat, war ganz ähnlich zu dem, worunter wir heute leiden, wenn wir etwa über die negativen Aspekte von Social Media sprechen."

Der doppelte Verweis auf die historische Dimension zeigt zweierlei. Auch der schier unfassbare Aufstieg von Facebook ist nicht ohne Vorläufer. Der Blick in die Geschichte macht allerdings deutlich, wie massiv und gefährlich solch ein Umbruch ist.

Zum anderen bleibt Blau bei dem Befund nicht stehen, sondern leitet daraus einige bedenkenswerte medienpolitische Forderungen für die Gegenwart ab. Mit Blick auf die Verlage laufen diese auf eine 180-Grad-Wendung in deren Branchen-Politik hinaus, nämlich im Appell, sich zu europäisieren. Viel stärker nicht allein den nationalen Markt, sondern ein europäisches Zielpublikum zu erschließen, was massive Investitionen in Technologie inkludiert, insbesondere ins automatische Übersetzen, und in strategische Partnerschaften, etwa mit den öffentlich-rechtlichen Medien. Deshalb vermute ich überdies, dass Wolfgang Blau wohl auch jene europäischen Programme für einen integrierten digitalen Markt von Inhalten befürwortet, dem Buch-Funktionäre so gar nichts abgewinnen können, und stattdessen für branchen-spezifische Ausnahmen plädieren.

Will man hier ernsthaft eine Zukunftsstrategie andenken, dann sind einige entschiedene Kulturbrüche, Denk-Revolutionen und unpopuläre Handlungsanweisungen im Kleingedruckten unbedingt inkludiert.

Anekdotisches Schlusswort, gut passend als Zündstoff für so manche Buchmesse-Party: Vor drei oder vier Jahren unterhielt ich mich mehrmals mit Eric Yuyang, der für einen großen chinesischen Verlagskonzern das Thema computergeneriertes Übersetzen koordiniert. Ich fragte ihn, wie viele Jahre Forschung noch nötig seien, bis das Manuskript eines allgemeinen Sachbuchs (Romane sind eine andere Dimension) über automatisches Übersetzen so gut aus dem Englischen ins Chinesische übersetzbar sei, dass das Ergebnis direkt an den Lektor des Verlages gehen kann (also ohne einen in beiden Sprachen kundigen, professionellen Übersetzer zu beschäftigen). Ich schätzte: "Fünf Jahre?" Eric überlegte ein wenig, schüttelte dann den Kopf, und meinte schließlich: "Zu lang." Meine nahezu täglichen Erfahrungen aus der Nutzung solcher Übersetzungen geben Eric recht.

Rüdiger Wischenbart

Blog: booklab.info
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