Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2002. Natürlich nehmen die Nachrufe auf Astrid Lindgren heute den größten Raum ein: Die FAZ bedauert, dass sie nicht den Nobelpreis bekommen hat. Außerdem annonciert die NZZ den bevorstehenden Tod der Literaturkritik. Die taz bringt eine geharnischte Kritik der Holocaust-Ausstellung in Berlin und die SZ sieht angesichts der NPD-Verbots-Panne die Gewaltenteilung in Gefahr.

SZ, 29.01.2002

Andreas Zielke sieht anlässlich der NPD-Verbots-Panne die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive in der Krise. Belege für diese Tendenz seien die "seit langem zunehmenden Übergriffe der Exekutive gegen Richter, die es wagen, gegen amtierende Politiker vorzugehen". Die Liste seiner Beispiele ist ebenso international wie bedenklich. Als einige Faktoren für "die wachsende Präpotenz der Exekutive" nennt Zielke "die Dominanz der Parteien und der Fraktionsdisziplin", "Pragmatismus als herrschende Ideologie" und einen "generellen Machtverlust des Nationalstaates - ... je mehr Sicherheitsdenken obsiegt, desto eher werden Ausnahmezustände suggeriert und schneidige Gegenmaßnahmen verlangt."

Weitere Themen
: Ein Rückblick von Hans Schifferle auf das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken und ein Bericht von Volker Breidecker über das Kolloquium "Medialität und Modell" im Stuttgarter Schloss Solitude; Medienexperten, Technopsychologen und Philosophen versuchten hier, "jenseits eines inflationären und geschichtsblinden Medienbegriffs historisch verdeckte Aspekte der Kultur und Potentiale der Kunst sichtbar zu machen". Christoph Hoffmann besuchte das Phonogrammarchiv Wien, in dem Stimmporträts und Klänge der Vergangenheit gesammelt werden, und Hansjörg Küster führt durch die bedeutende Sammlung von historischen Gartenbüchern der gräflichen Bibliothek Herrenhausen in Hannover. Außerdem eine kleine Betrachtung über magische Bücher, eine versmaßgestützte Hymne auf den neuen Kandidaten E.S. ("Singe den Mut, o Göttin, des / wirtschaftskundigen Edmund / ...") und eine ernüchterte Nachlese auf Sabine Christiansens Sendung zum Thema dumme Deutsche am vergangenen Sonntag.

Kritisiert und gelobt
wird auch: Unter anderem der "merkwürdig eitle" Dokumentarfilm über Schamanen und Wunderheiler "Unterwegs in die nächste Dimension" von Clemens Kuby, die "rätselvolle und verführerische" Schau über "Die Hethiter" in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn, die "abonnentenfreundliche" Hamburger Inszenierung der Prokofjew-Oper "Liebe zu den drei Orangen", die "anhaltende Leere" beim Konzert der Pianistin Elisabeth Leonskaja in München und "vier junge Choreografien" beim Modern-Dance-Programm des Ballett-Theaters München.

Rezensiert
werden eine Biografie von Fred Licht über Goya, der Roman von Maria Rybakova "Die Reise der Anna Grom", ein Gedichtband von Dagmar Leupold (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr) und ein Text von Birgit Kempker in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift "manuskripte".

Und natürlich bringt auch die SZ einen Nachruf auf Astrid Lindgren.

NZZ, 29.01.2002

Die Literaturkritik ist eine bedrohte Art, meldet Andreas Nentwich in einem kleinen Essay. Schuld daran sind die Literaten, die sich dem Markt anbiedern, Marcel Reich-Ranicki und die Kritiker selbst, die sich nicht mehr damit begnügen wollen, für die Happy few zu schreiben. "Eine Literaturkritik, die sich jedem kurzatmigen Trend unterwirft und kopfscheu alles flott Gemachte in den Himmel hebt, wenn es nur irgendeine Szene oder ein Generationsgefühl repräsentiert, bringt sich um den Kredit einer durch Leseerfahrung qualifizierten Minorität, die so wählerisch und misstrauisch wie sprachempfindlich ist, wenn es darum geht, Lebenszeit zur Lesezeit zu machen."

Weiteres: Claudia Weilenmann schreibt zum Tod von Astrid Lindgren. Hubertus Adam berichtet über Bestrebungen, das berühmte Dresdner Kugelhaus des Architekten Peter Birkenholz wiederaufzubauen. Besprochen werden neue Wiener Inszenierungen (darunter von Martin McDonaghs "Der Leutnant von Inishmore") ein Band mit Briefen von Herrmann Broch und ein Essayband von Zafer Senocak über das Verhältnis von Deutschen und Türken. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 29.01.2002

Klaus Bachmann analysiert die aktuelle Diskussion über Deutschland, die derzeit in Polen geführt wird. Er stellt im wesentlichen die Thesen von drei neueren Publikationen über Deutschland vor und kommt zu dem Schluss: Das "neue Negativbild ... ist weit subtiler und differenzierter, als die nationalistischen Entwürfe ... , die im wesentlichen die Gegensätze der deutschen und polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ins Heute fortschreiben. (Es) ist moderner, aktueller, facettenreicher: Nicht mehr Ewiggestrige, Altnazis und Vertriebenenfunktionäre sind es, die die dunklen Kapitel der deutschen Vergangenheit relativieren wollen, sondern Ex-68er, die im Namen eines Internationalismus der Menschenrechte Parallelen ziehen zwischen der Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg und ethnischen Säuberungen in Jugoslawien."

Der Frankfurter Rechtsanwalt Thomas Kreuder kommentiert das Schächtungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und diskutiert dessen Integrationskraft: "Mit seiner überzeugenden Begründung folgt (es) einem Konzept, bei dem Recht seinen Neutralitätsanspruch nicht aufgibt, sondern erst realisiert, indem es andere Verhaltsweisen, Überzeugungen und Identitäten als legitimen Anknüpfungspunkt für eine Berücksichtigung dieses Andersseins anerkennt."

Weitere Themen: Astrid Lindgren wird von der FR gleich mit zwei Texten verabschiedet: einem ausführlichen Nachruf und einer kleinen Würdigung ihrer Arbeit als Filmautorin. Frank Keil schwärmt etwas unvermittelt von Harald Schmidt, Kai Luehrs-Kaiser berichtet von der Krise in der Klassik-Branche und den Hintergründen für die Schließung von Teldec, Erato und Warner Classics International, und Olga Martynova erzählt noch einmal die Geschichte der Moskauer Bücherumtauschaktion "Schund gegen Gehaltvolles". Roland Burgard begeistert sich für die Deutsche Schule Budapest, gebaut vom Architekturbüro Scheffler & Warschauer. Gunnar Lützow schließlich beschäftigt sich mit dem öffentlichen Nahverkehr in London, dessen speziellem Frühwarnsystem vor Schlägereien und enthüllt in diesem Zusammenhang beiläufig "Tony Blairs Name als Anagramm: Not by rail".

Vorsichtig gelobt wird Thomas Kühnels Frankfurter TAT-Inszenierung von Brechts "Heiliger Johanna", entschieden gelobt wird der neue Film von Mehdi Charef, "Marie-Line". Vorgestellt wird eine Ausstellung des Medienkünstlers Robert Adrian X in der Kunsthalle Wien.

FAZ, 29.01.2002

Nun ist Astrid Lingren ohne Nobelpreis gestorben, bemerkt die Kinderbuchspezialistin Monika Osberghaus in ihrem Nachruf. Sie hätte ihn verdient gehabt, meinten die Schweden. "Wer Astrid Lindgren besuchen durfte und vorher in dem kleinen Blumenladen an der Ecke noch einen Strauß besorgte, konnte sich eine lange, erbitterte Rede des jungen Blumenbinders anhören, der es einfach nicht fassen konnte, dass sie den Preis immer noch nicht bekommen hatte. Er war nicht der einzige. Noch im vergangenen Herbst, als das Ritual wieder einmal anstand, wurde eine große Initiative gestartet. Wenn Astrid Lindgren den Literaturnobelpreis auch diesmal nicht bekommen hat, dann nur deshalb, weil es allzu nahelag. Denn ihre Literatur ist allen ihren Lesern so nahe gekommen - und wer nicht zu ihren Lesern gehört, der muss schon sehr alt sein und keine Kinder haben -, dass jeder sie, zumindest eine Zeitlang, als einen Teil seiner selbst empfand." Und Dirk Schümer schreibt in einem zweiten Nachruf: "Astrid Lindgren... nahm das Alter zwischen dem Erwachen der Persönlichkeit und der Pubertät als das eigentlich philosophische ernst." (Siehe zu Astrid Lindgren auch unseren Link des Tages, den wir heute durch einen Streifzug durch schwedische Zeitungen ergänzen werden.)

Jens Johler, Autor des biotechnologischen Thrillers "Gottes Gehirn" entwirft die "Rede eines Freien Bürgers in zweieinhalb Jahrhunderten". Sie fängt so an: "Geehrte Freie Bürger, hochverehrter Rat! Wir haben an diesem Tag eine schwere Entscheidung zu treffen. Es geht, mein Vorredner hat es bereits erwähnt, um das Schicksal des Menschen. Der Mensch ist uns von allen Lebewesen, die diese Erde und die anderen H2O-Planeten bevölkern, das liebste und vertrauteste. Er ist unser nächster Verwandter..."

Susanne Klingenstein stellt in einem interessanten Artikel die Auseinandersetzungen um die "Black Studies" an der Harvard Universität, die nach Princeton abzuwandern drohen, in einem Zusammenhang mit dem Afghanistan-Krieg, der einen Machtverlust für eine bestimmte Position schwarzamerikanischer Intellektueller beduetet habe, denn "die Reaktion der großen Mehrheit der schwarzen Bevölkerung auf den Terroranschlag vom 11. September, ihre fast uneingeschränkte Solidarität mit der Heimat Amerika und mit der Regierung, hatte die linke schwarze Führungselite völlig überrascht. Ihr wurde sofort klar, dass diese Solidarität ihre eigene Machtbasis gefährdete."

Weitere Artikel: In der Geheimdienstkolumne von Carl Zuckmayer geht's heute um Wilhelm Furtwängler. Verena Lueken teilt mit, dass die Universität von Kalifornien das literarische Archiv von Susan Sontag gekauft hat, die es angeblich lieber der Universität von New York gegeben hätte (aber bei 1,1 Millionen Dollar konnte sie nicht nein sagen). Michael Allmaier resümiert das Saarbrücker Max-Ophüls-Festival dem er in diesem Jahr ein hohes Niveau bescheinigt. Jürgen Kaube durfte einem Münchner Vortrag Jean Baudrillards über den 11. September lauschen ("Der französische Soziologe Jean Baudrillard ist am Sonntag in einem Münchner Kino zuerst von deutschen und französischen Kulturbeauftragten als wichtiger Denker vorgestellt worden. Danach hat ihn seine Übersetzerin als einen wichtigen Denker vorgestellt. Daraufhin hat sich Baudrillard mit einem Vortrag über den 11. September als wichtiger Denker vorgestellt.")

Ferner meldet Siegfried Stadler, dass das Leipziger Völkerkundemuseum seine Benin-Sannlung zurückbekommt. Hannelore Schlaffer resümiert die Tagung "Hörbuch - der Buchtrend des 21. Jahrhunderts" in Mainz. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Tenors Alain Vanzo. Paul Ingendaay erzählt die Geschichte des Miquel Torres (die er der katalanischen Zeitung La Vanguardia entnimmt) – nach einem Unfall berschloss er, die Welt zu Fuß zu bereisen, legte 200.000 Kilometer zurück, wurde 22 mal von Vipern gebissen, bekam aber nie Schnupfen, was er dem Einfluss der Jungfrau Maria zuschreibt. Zhou Derong erzählt, wie man in China einen Mercedes mit Hämmern zurtrümmerte, nachdem sich die deutsche Autofirma bei Reparaturen des Wagens äußerst arrogant angestellt hatte. Wolfgang Schneider schreibt zum Tod des Germanisten Wolfgang Promies.

Auf der letzten Seite porträtiert Ingolf Kern die neue Berliner Staatssekretärin für Kultur Krista Tebbe, die nun auch noch die beiden letzten Duschen im Kultursenat einsparen will (ehrlich!). Dietmar Dath legt eine kleine Erzählung über einen Berliner Staatsekretär vor, deren literarische Tiefe wir in der Eile kaum ausloten können. Und Jordan Mejias berichtet über ein vom Technologiekritiker Jeremy Rifkin lanciertes Manifest gegen das therapeutische Klonen, das unter anderem von Erwin Chargaff und Benjamin Barber unterzeichnet wurde. Auf der Bücher-und-Themen-Seite denkt Frank Ebbinghaus über die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Nazizeit nach. Auf der Medienseite erklärt Michael Hanfeld "warum die ZDF-Studie von Boston Consulting stinkt". Ferner erfahren wir, dass die Mediengruppe der WAZ die Woche kaufen will.

Besprochen werden eine neue CD der oberbayerischen Gruppe "The Notwist", Strindbergs "Fräulein Julie" im Hamburger Schauspielhaus, eine Retrospektive des hundert Jahre alten mexikanischen Fotografen Manuel Alvarez Bravo in Los Angeles und Luciano Berios Finale der Oper "Turandot" von Puccini, das auf Las Palmas uraufgeführt wurde.

Schließlich wird auf der Bücher-und-Themen-Seite auf ein Focus-Interview verwiesen, in dem Michel Houellecq folgendes Paradoxon zum besten gab: "Treffen sich ein Masochist und ein Sadist. Sagt der eine: 'Bitte, quäl mich.' Erwidert der andere: 'Nein.'"

TAZ, 29.01.2002

Im Aufmachertext nimmt Andreas Krüger sehr kritisch die bisher eher viel gelobte Holocaust-Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais auseinander. Neben "zahlreichen Ungenauigkeiten und Flüchtigkeitsfehlern" kritisiert er vor allem das Konzept: Durch das völlige Ausblenden der Rolle von Verantwortlichen und Mitwissern "droht die - sicher gut gemeinte - Konzentration auf die Schicksale der Opfer sich in ihr Gegenteil zu verkehren: Das Verbrechen wird mit den Opfern identifiziert, nicht mit den Tätern." Ergebnis ist eine "auf den bundesrepublikanischen Minimalkonsens ausgerichteten Schau" die zeige, "dass eine historische Ausstellung ohne die Frage nach Kausalitäten nicht auskommt. Die Dinge sprechen nicht, wie die Ausstellungsmacher meinen, für sich."

Gerrit Bartels stellt die derzeit durch Deutschland tourende amerikanische New-Metal-Band Incubus vor, Stephan Geene besichtigte in Paris das neueröffnete Museum für die junge Kunst im Palais de Tokyo, und Elfenexperte Wolfgang Müller steuert diesmal Wissenswertes über Bienen sowie die Hummelragwurz zum Tagwerk bei.

Rezensiert
werden ein Band mit drei Novellen des Tschechen Ivan Olbracht und der Briefroman um eine junge Selbstmörderin von Maria Rybakova. Einen kleinen Hinweis erfährt auch Thai-Congs Buch-Projekt "My Parents. Eine Hommage an die Mode, die Fotografie und das Leben". Und im Ressort Politisches Buch bespricht Christian Semler Jean-Michel Chaumonts Studie zur "Konkurrenz der Opfer" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Astrid Lindgren wird in der taz gleich auf Seite Eins gewürdigt: mit einem Porträt sowie dem Abdruck aller Strophen der Pippi-Langstrumpf-Hymne "Zwei mal drei macht vier".

Und hier TOM.