Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2002. Die FAZ ist sauer: Statt Revolution zu machen, denken die Grünen nur ans Dosenpfand. Die SZ setzt ihre Hoffnungen in die Alten von morgen. Die FR beschreibt einen türkisch-israelischen Weg in die Moderne. Die taz bewältigt die niederländische Kolonialgeschichte. Die NZZ erinnert an Albert Drach.

FAZ, 17.12.2002

Krise. Krise. Krise. In San Francisco geht's schlimmer zu als in Berlin-Mitte mit seiner traurigen Boheme aus arbeitslosen FAZ-Redakteuren. Schuld ist der Börsencrash nach dem New-Economy-Hype. Besonders schlimm hat es in der kalifornischen Stadt das Kulturleben getroffen, schreibt Heinrich Wefing: "Die Oper von San Francisco musste ihre Spielpläne straffen, die San Jose Symphony hat Mitte November nach 123 Jahren den Betrieb eingestellt. Das Jüdische Museum San Francisco, das sich eben erst mit seinem Schwesterinstitut in Berkeley zusammengeschlossen hatte, entlässt acht seiner neunzehn Mitarbeiter, darunter die stellvertretende Direktorin, und hat sich einstweilen von dem Traum verabschiedet, ein altes Kraftwerk nach rasanten Skizzen des Berliner Architekten Daniel Libeskind umbauen zu lassen."

Und was machen die Grünen? Sie mokieren sich über einen jüngst in der FAZ veröffentlichten, von Arnulf Baring gezeichneten Ruf zu den Barrikaden. Damit haben sie ihre welthistorische Mission endgültig verspielt, konstatiert Frank Schirrmacher. "Spätere Menschen sollen sich daran erinnern: dass zu einem Zeitpunkt, als zum erstenmal Lebewesen geklont, Erbgut patentiert, Embryonen medizinisch genutzt wurden, der grüne Umweltminister über eine ganze Legislaturperiode hinweg nur über das Zwangspfand auf Bierdosen redete. Dass einer der angesehensten und mächtigsten Männer der Republik, der Außenminister Fischer, seine beträchtliche Autorität nur dafür einsetzt, um seinem aktuellen Ziel näherzukommen, nämlich Nachfolger Romano Prodis als Präsident der EU-Kommission zu werden." Statt mit der FAZ zusammen Revolution zu machen!

Weitere Artikel: Jürgen Habermas schreibt einen kleinen Nachruf auf den Philosophen Rainer Rochlitz. Jürgen Kaube kommt nach längeren Erwägungen über den Fortschrittsbegriff in Geschichte und Gegenwart auf das neue neue Tarifsystem der Bahn zu sprechen. Martin Kämpchen erklärt in einem etwas kurz geratenen Artikel, warum so viele Inder bis heute Adolf Hitler verehren (weil er die Engländer so weit schwächte, dass sie ihre Kolonie aufgeben mussten). Jordan Mejias resümiert eine New Yorker Diskussion über George Orwell. Konstanze Crüwell plädiert dringend für die Renovierung des Metzlerschen Badetempels in Offenbach, eines der wenigen architektonischen Kleinode, das diese Stadt vorweisen kann. Andreas Rosenfelder beschreibt die bedauernswerte Lage der ersten Juniorprofessoren an den Hochschulen Nordrhein-Westfalens.

Auf der Medienseite stellt Markus Collati das Computerspiel Train Simulator vor. Und Andreas Rosenfelder schreibt ein kleines Porträt über den SPD-Medienpolitiker Jürgen Büssow, der für ein anständiges Internet sorgen will. Auf der letzten Seite stellt Michael Gassmann die neue Intendantin des Bonner Beethovenfests, Ilona Schmiel vor. Und Karol Sauerland berichtet über neues Archivmaterial über die polnische Stasi, das in der Zeitschrift Arcana präsentiert wird.

Besprochen werden David Albens Inszenierung von Franz Schrekers "Schatzgräber"-Oper in Frankfurt, Elfriede Jelineks Stück "Die Liebhaberinnen" in Düsseldorf, Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Elsewhere", eine Constantin Guys-Ausstellung in Paris und Marc von Hennings Stück "Blaubarts Küche" in Stuttgart.

FR, 17.12.2002

Natan Sznaider denkt in einem Essay über die Verortung der Türkei und Israels in der "kosmopolitischen Moderne" und über einen notwendigen "Abschied vom Abendland" nach. In Äußerungen deutscher Historiker wie Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler sieht er derzeit "das Zombie einer romantisch-christlichen Universalgeschichte" umgehen - "als ob Europa immer noch das katholisch-konservative Projekt der Nachkriegszeit wäre." Die Türkei und Israel dagegen bemühten sich "um einen eigenen Weg in die Moderne, der nicht, wie das 'christliche Abendland', Staat und Religion trennt (...) sondern beides zu verbinden sucht. Die Türkei geht ihren eigenen Weg einer islamischen demokratischen Moderne, ebenso wie Israel versucht, seinen Weg einer jüdischen demokratischen Moderne zu beschreiten."

Weitere Artikel: Peter Iden konstatiert am Beispiel der Bühnen in Freiburg und Aachen eine Veränderung der Debatten um die Theaterkrise. Dirk Fuhrig verfolgte offensichtlich beeindruckt den Auftritt von Harry Belafonte in der Vortragsreihe "Berliner Lektionen", in der der Sänger über die "weltumspannende Bedrohung" sprach, die von den Nazis ausging. In einem Bericht von Anneke Bokern geht es um eine Stadterweiterung in Amsterdam, die sich auf gleich sieben neue künstliche Inseln erstrecken soll. Christian Schlüter resümiert eine Potsdamer Tagung über Günter Anders (mehr hier), und Manuela Lenzen besuchte ein Bielefelder Kolloquium über und mit Literaturwissenschaftler und Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer (mehr hier), der vor kurzem 70 Jahre alt wurde. In der Kolumne Times mager schwärmt Adam Olschewski von einem Beispiel großzügiger slawischer Feierfreude. Schließlich meldet die FR den Tod des Philosophen Rainer Rochlitz.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Candida Höfers Fotografien von Dresdner Kulturinstitutionen im Albertinum und Franz Schrekers Oper "Schatzgräber" in Frankfurt.

TAZ, 17.12.2002

Im Aufmachertext bespricht Henk Raijer die Ausstellung nebst Filmreihe im Filmmuseum Amsterdam "Aus der Kolonie nichts als Gutes. Niederländisch-Indien in Bildern 1912-1942" (hier). Die Schau soll "dem Gedächtnis der Niederländer auf die Sprünge helfen". Denn in den Niederlanden war das Thema Indonesien und die Gräueltaten der Kolonialarmee noch bis vor kurzem ein Tabu. "Noch im August 1995 schlug Königin Beatrix eine Einladung Jakartas zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung mit der (nie öffentlich geäußerten) Begründung aus, Holland hätte an einem solchen Tag keinen Grund zu feiern." Ob das "faszinierende" Material "einer kritischen Reflexion über dreieinhalb Jahrhunderte niederländischer Präsenz in Indonesien dienlich ist", sei, so Raijer, allerdings fraglich: Vorherrschend sei "naturgemäß ein positives Bild vom Alltag in der Kolonie", denn "Negatives unterlag strengster Zensur".

Detlef Kulbrodt berichtet, wie er durch eine malerische Entrümpelungsaktion eines fremden Kellers in die Lage versetzt wurde, durch nachfolgend "literarisches" Zersägen derselben in seinem eigenen Keller der aktuellen Kältewelle zu trotzen. "Deja-vus der ersten Berliner Jahre in den 80ern" und wehmütige Erinnerungen an echte Öfen sind auch wieder dabei.

Auf der Medienseite portärtiert Julia Gerlach Arab News Network (ANN, leider nur auf arabisch). Der Londoner Fernsehsender gehört einem abtrünnigen Cousin des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und hat sich im Windschatten von al-Dschasira etabliert.

Besprochen werden außerdem eine große Werkschau mit den Kunstautomaten des deutsch-amerikanischen Künstlers Stephan von Huene im Münchner Haus der Kunst (mehr hier), und dann Bücher, darunter ein Erzählband von Artur Becker, Bernd Rabehls Essay über Rudi Dutschke, ein Lexikon über "Goethes merkwürdige Wörter", sowie zwei Publikationen über Sinn und Zweck von Wirtschaftsratgebern.

Und hier TOM.

NZZ, 17.12.2002

Zum hundertsten Geburtag erinnert Paul Jandl an den österreichischen Schriftsteller Albert Drach (mehr hier), dessen Wege zur Anerkennung (Büchner-Preis) lange und verschlungen waren. Für Jandl unverständlich: "Kaum einer hat die Macht der Sprache so sehr sichtbar gemacht wie Albert Drach mit seinem Protokollstil. Das Erzählen materialisiert sich in den mechanischen Vorgängen von Drachs juristischer Diktion. Wie mit einem Objektiv stellt Drach die unterschiedlichen Brennweiten von urteilender Distanz bis zu voyeuristischer Nähe ein. 'Objektiv' ist diese Sprache nicht, sie vereint nur die Dispositive der Macht zum menschenvernichtenden Gebrauch. 'Die Gesetze sind gegen diejenigen, die nicht dabei waren, als sie gemacht wurden', schreibt Drach in seinem frühen Stück 'Satansspiel vom göttlichen Marquis' von 1926."

Georg Sütterlin hat sich im Süden Siziliens angesehen, wie die beiden Städtchen Racalmuto und Comiso die literarische Erinnerung an ihre Schriftstellersöhne Leonardo Sciascia (hier) und Gesualdo Bufalino (hier) pflegen. Uwe Justus Wenzel berichtet von einem Symposium im Potsdamer Einstein-Forum, das sich mit Günther Anders (mehr hier), der Alternative von Denken und Handeln und der "Philosophie zwischen Jargon und Alltagssprache" befasste.

Besprochen werden Vera Nemirovas Inszenierung der "Gräfin Mariza" (der es offenbar gelungen ist, wieder einmal gelungen ist, einen veritablen Wiener Skandal heraufzubeschwören, wobei Peter Hagmann die Buhrufe doch etwas "lendenlahm" fand) und Bücher, darunter Amos Oz' anti-epischer Roman "Allein das Meer", die Aphorismen des Argentiniers Antonio Porchia und Sportbücher.

Und von Philippe Jaccottet gibt es das Gedicht "Für die Ackerwinden".

SZ, 17.12.2002

Tobias Timm erklärt, inwiefern die Überalterung Deutschland möglicherweise verjüngen werde". "Nicht die Jugend wird morgen das Kapital sein, es sind die Alten, die mit ihrem Konsum die Produktion ankurbeln und deren gesteigerter Genuss und Verzehr für neue Industrien und Dienstleistungen sorgen wird." Aber kurbeln die reichen Alten den Konum nicht eher in Mallorca an?

Susan Vahabzadeh berichtet vom Rennen um die Oscar-Nominierungen und die derzeitigen Favoriten, darunter "About Schmidt" von Alexander Payne, der Virgina-Woolf-Film "The Hours" und Martin Scorseses "Gangs of New York". Jens Bisky hörte sichtlich angetan in Berlin eine Vorlesung von Hans-Ulrich Gumbrecht, in der dieser seine Überlegungen zu einer Geschichte des Sports vortrug. Andrian Krey beklagt den "Daumenkinotod" des "visionären" Kunstmagazins "Aspen" (mehr hier), das jetzt immerhin "digital mumifiziert" wurde (hier). "RJB" kommentiert den neuesten Stand im Berliner Operndrama, und in der Kolumne Zwischenzeit berichtet Harald Eggebrecht über einen bedenklich herzlastigen musikalischen Abend zu Ehren Abraham Lincolns in Springfield, Illinois. "lmue" schreibt schließlich einen Nachruf auf den verstorbenen litauischen Schriftsteller Jurgis Kuncinas.

Und dann viele Besprechungen heute. Auf der Schallplattenseite werden neue CDs vorgestellt: vom Keith Jarrett Trio (hier), von Bakken & Muthspiel (hier), Prince Alla & Junior Ross (hier), Peven Everett (hier), The Faint (hier), von der schwedischen Gruppe 22 Pistepirkko (hier), Joni Mitchell (hier) und ein Sampler von Vertretern des "engagierten schwarzen Pop" (hier). Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Shenja Keils Stück "Wildfremd" am Schauspiel Leipzig, eine Inszenierung von Franz Schrekers Oper "Schatzgräber" in Frankfurt, die Ausstellung über Grünewald in Aschaffenburg und Bücher: eine Biografie und der erste Band einer Werkausgabe anlässlich des 100. Geburtstags des österreichischen Schriftstellers Albert Drach (mehr hier), der Live-Mitschnitt des International German Poetry Slam 2001, ein Fotoband über Pompeji und ein Whisky-Lexikon.