Im Kino

Den Ungehorsam feiern

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk
26.07.2023. Emanuele Crialeses "L'immensità" erzählt von einer Frau, die sich aus ihrem Unglück ins Exzentrische rettet. Wir sind im Rom der 1970er, überall Muster und Farben, die Lidstriche sind dick, die Frisuren voluminös. Aber der Mann ist immer noch Herr im Haus und Mädchen müssen Adriana heißen, nicht Adri, wie ein Junge.


Es gilt die Grundregel: Nimmt man aus einem Film einen Ohrwurm mit, den man auf der Stelle ausfindig macht und tausendmal spielen lässt, dann hat sich der Weg ins Kino auf jeden Fall gelohnt. Meine Ausbeute aus "L'immensità" ist eine pulsierende Italo-Disco-Bombe, ein rauschhafter Vom-Hocker-Reißer, ein sicherer Knaller für jeden Pyjama-Dancefloor. Ein perfekter Song, denn es braucht nicht viel, um seinen ultimativen Refrain selbstsicher ins imaginäre Mikrofon zu brüllen: "Na, na, / Na, na, na, na / Na, na, na, na, na, na, na, na!". Raffaella Carràs "Rumore" ist von 1974, für das Single-Cover hat sie sich mit roter Schlupfmütze und intensivem Augen-Make-up fotografieren lassen. Pussy Riot. Der italienische Rolling Stone hat Carrà den Titel "la madrina dei weirdos" verliehen, die Patin der Spinner.



Interessanterweise passt der entfesselte Rhythmus von "Rumore" auf den ersten Blick nicht ganz zu dem Text. Denn Raffaellas lyrisches Ich ist eine Frau, die von ihrem Partner getrennt lebt - diese Entscheidung bereut sie manchmal. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Komfortzone, die nackte Angst, die sie in ihrem Alleinsein packt… aus diesem Gefühlszustand heraus katapultiert sie sich selbst mit - was sonst - ekstatischem Gesang und Headbanging. Keine traditionelle Frau mehr und noch keine emanzipierte Power Woman, niemand hat je behauptet, dass dieser innere Kampf ein einfacher sein wird. Auf den zweiten Blick passen sie also doch gut zusammen, die Musik und ihr Inhalt. Raffaella Carrà bringt in ihrem erotisierenden Jumpsuit etwas sehr Wahres zum Ausdruck. Was ihren schmissigen Hit natürlich noch besser macht.

In "L'immensità" fügt sich "Rumore" sehr gut ein. Der Film, geschrieben und inszeniert von Emanuele Crialese, erzählt von einer Frau, die sich aus ihrem Unglück ins Exzentrische rettet. Wir sind im Rom der 1970er, überall Muster und Farben, die Lidstriche sind dick, die Frisuren voluminös und die Schlaghose eng anliegend. In dieser Zeit der äußeren Freizügigkeit lebt es sich im katholischen Italien allerdings nicht groß anders als zuvor, und Clara (Penélope Cruz), die gut situierte Mutter dreier Kinder, wird von ihrem Ehemann betrogen und misshandelt. Der Mann - wer sonst - hat hier das Sagen, also was bleibt Clara übrig, als ihn zu ertragen?



Nicht viel, aber doch einiges. Ihre Kinder über alles zu lieben. Das Make-up ausschließlich tagsüber zu tragen und es abzuwischen, wenn der Schlüssel des Mannes im Schlüsselloch klirrt - nicht etwa umgekehrt. Im Kino weinen. Das tägliche Tisch-Decken in ein rauschendes Fest verwandeln, dazu der "Rumore"-Song vom Plattenspieler. Clara ist eine, die auch mit Lockenwicklern unter einer Trockenhaube so anmutig wie Gioconda lächeln kann. Eine, die wild schreiend durch eine belebte Straße rennt, am helllichten Tag. Clara traut sich was, sie traut sich zu viel. "Ich will spielen", flüstert sie, aber nein, Mama, doch nicht hier, nicht jetzt! Spielen ist nichts für Erwachsene, nur etwas für Kinder, aber natürlich erst, wenn sie alles aufgegessen haben. Spiele und Streiche, davon gibt es in "L'immensità" viele. Tolle, komische Filmmomente, die den Ungehorsam feiern.

Adri, Adriana (Luana Giuliani) ist zwölf und auch sie spielt liebend gern. Adri ist Claras älteste Tochter, die beiden haben ein inniges Verhältnis und teilen das Schicksal, in der Welt und in der Zeit, in der sie leben, nirgends dazuzugehören. Adri will nicht Adriana heißen, denn er fühlt sich im falschen Körper geboren, "Papa und du, ihr habt mich falsch gemacht". Adri ist einer, der mit seinen sanften Augen zornig schauen kann. Einer, der Oblaten aus der Kirche klaut und mit einem Happs verspeist, um ein Zeichen von Jesus zu empfangen. Einer, die Astronaut werden will, um im Himmel zu sein, weit weg vom ganzen Mist. Auch sein eigener Kampf wird kein einfacher sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

Olga Baruk

L'immensità - Italien 2022 - Regie: Emanuele Crialese - Darsteller: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, Patrizio Francioni, María Chiara Goretti u.a. - Laufzeit: 99 Minuten.